12. – 16.7.2018 – Vidomégon
12.7.2018
Absturz. Beim Speichern wurde der Bildschirm schwarz. Ich habe aufgegeben und gewartet. Gar nicht so lange, wie angesagt war.
Meinen ersten Laptop habe ich mir nach Vaters Tod geholt.
Jetzt müsste eine neue Zeitrechnung anfangen: Ich schreibe auf meinem neuen und letzten MacBookPro.
Zwanzig Jahre könne ich mit ihm leben, sagt der apple-Mann ungefragt. Meine Antwort kam schnell: So lange will ich das gar nicht! Hat er mich nicht angeschaut? Ich ihn schon – und da habe ich viel zu sehen bekommen: Finger, Hände, Arme, Hals, die Beine in Bermudas, alles voller Tätowierungen. Das machte es mir noch schwerer, als das schon ohne Tätowierung der Fall war, mir die Griffe zu merken, die er mir zeigte.
Es fühlt sich an wie ein letztes Auto.
Wie viele gab es da eigentlich?
Der R4 war unser erstes Familienauto. Da hatte nur ich den Führerschein.
Der Volvo – Sicherheit sollte sein, nachdem ich auf einer Kreuzung so scharf gebremst hatte, dass mein Mann auf der Straße saß. Er war das Geschenk meiner Mutter zur Magisterprüfung. Mein Mann machte den Führerschein und einen Totalschaden auf dem Rückweg von seiner nächsten Frau. Er blieb unversehrt in dem sicheren Auto.
Dann hat mich der Fiat-Panda mit seine faltbaren Dach über den Autoput bis nach Athen getragen.
Der Opel-Kadett war langweilig und mit dem Ford-irgendwas ist mein letzter Freund verschwunden.
Dann wurde es wieder ein Opel, der Combo, mit dem ich überall bleiben und unter freiem Himmel schlafen kann, so wie ich es mit dem Panda angefangen habe. Vielleicht ist er ja mein letztes Auto.
Die Wahl der Opel-Autos muss ich geerbt haben, der Vater fuhr Opel vom P4 bis zum Rekord, obwohl ihm ein Mercedes lieber gewesen wäre.
13.7.2018
Das Singen hat aufgehört. Ich habe es erst gemerkt, als schon viele Stimmen fehlten, die Amsel zuerst. Plötzlich lief das Lauschen in die Leere. Nur kurz unterbrochen vom Blöken der Schafe. Dann wieder Stille.
Die Meisen keckern jetzt fast wie Spatzen, es ist ein Tschilpen und Piepsen und Zwitschern in verschiedenen Tonlagen, mal kurz, mal langgezogen, aber kein Lied. Nur eine singende Stimme höre ich manchmal am Morgen über meinem Bett und am Abend weiter hinten im Wald: Es muss die Singdrossel sein.
Fernsehen ist wieder möglich, der Fortschritt brauchte eine Außenantenne. Ich kann wieder zappen und falle sofort in Worte und Bilder, die ich gar nicht sehen wollte. Die Entscheidung, die der Rechner verlangt, bevor er mir etwas zeigt, ist weg. Die Bilder von den riesigen Mais-Industrielandschaften erwischen mich, als ich gerade von einem Umweg nach dem Klavierspielen heimgefahren bin und fast nur Maismaismais gesehen habe, wo früher Weizen-, Gersten-, Roggenfelder waren. Warum??? Das weiß ich jetzt: Weil jemand zu viel Geld hat und dafür belohnt wir, wenn er aus Landwirtschaft eine Industrie macht. Für noch mehr Geld.
Wie soll ich das aushalten? Ich gehe abends nicht mehr gerne hinaus, da sind nur die hohen grünen Wände, ich muss ein ganzes Stück laufen, um den Blick frei zu bekommen. Über wenigen Getreidefeldern sind sogar Grillen zu hören.
Hier sehe ich die Sonne nur noch untergehen, wenn ich auf mein Dach steige.
Heute war der Morgen für den Weg durch den Wald den Berg hinauf.
Und da sieht es so aus: Vorschriftsmäßig zerstörerisch sind alle 20 Meter tiefe, breite Schneisen gezogen, um die gefällten Fichten herauszuholen. Sie liegen geschält und gestapelt abholbereit am Wegesrand. Da wächst so schnell nichts mehr. Das weiß ich auch vom Fernsehen.
14.7.2018
Was von der Liebe übrig bleibt, bekommt der Hund.
An solchen Sommerabenden sind wir beide lange draußen, ich schaue einen Krimi, Yalla liegt auf meinem Bett, alle Viere seitlich von sich gestreckt mit Blick in den Garten und den Wald. Wie jeden Tag.
Gestern habe ich mich an ihren Rücken gelegt und ihren Bauch gekrault. Sie antwortete mit wohligem Brummen. Zuerst richtig laut, dann immer leiser werdend. Fast bin ich eingeschlafen.
Als ich aufschaue, saust eine Sternschnuppe über die Ecke des Daches. Ich muss lachen, sage danke! Mein Wunsch ist sprungbereit. Und das ist gut so.
Timbuktu hat sich gemeldet wie immer, nur dass Mahamane schreibt, er sei krank und könne nicht in die Sonne gehen. Ich habe die Mails wegen meines schwarzen Rechners erst verzögert gelesen. Eine zweite und dritte waren inzwischen da, zuletzt schreibt er, wenn ich mich nicht mehr melde, würde er mich nicht länger belästigen, wörtlich: ermüden – fatiguer (auch: stören, strapazieren).
Wie soll ich mir das vorstellen? Könnte ich damit leben?
Heute sicher noch nicht. Immer wenn ich an Timbuktu denke, und das geschieht sehr oft, würde ich mich fragen, was Mahamane jetzt macht.
Als ich ihn anrufe, um ihm die WU-Nummer zu sagen, frage ich ihn nach seiner Krankheit und höre, dass es ein Schnupfen ist. Alhamdulillah – wenigstens nicht schon wieder Krankenhaus. Schnupfen gab es oft, den Kindern lief fast immer die Nase. Darum kümmerte sich keiner.
Auf dem Küchentisch meine Post von einer Woche: terre des hommes – Plan International – Ärzte ohne Grenzen – Brot für die Welt – Unicef.
Kinder, vor allem Kinder, brauchen Hilfe, und Mädchen mehr als Jungen.
Die weggegebenen Kinder von Cotonou
Assiba kommt jeden Morgen am Hafen von Cotonou, der größten Stadt in Benin, mit Ananas vorbei. Sie trägt eine große Schale mit zwölf oder fünfzehn Früchten auf dem Kopf, als hätten diese kein Gewicht. Erst als sie die Schale auf die Erde stellt, weil ich eine Ananas kaufen möchte, merkt man, wie schwer diese sein muss. Assiba packt die Frucht, die ich mir ausgesucht habe, mit der linken Hand um die kräftigen grünen Blätter und schneidet mit einem scharfen Messer geschickt den Stiel und die Schale der Frucht ab. Als die Blätter nur noch das gelbe Fruchtfleisch tragen, überreicht mir Assiba meine Ananas. Sie lacht, weil ich so erstaunt gucke.
Cent Francs, sagt sie, das sind ungefähr 30 Pfennige. Die 100-Francs-Münze fällt zwischen die Früchte und Schalen, das große Tablett ist noch fast voll. Assiba hat sich gerade erst auf den Weg gemacht. Nun legt sie das zu einem Ring gedrehte Tuch wieder auf ihren Kopf und hebt die schwere Last hinauf, lacht mich noch einmal an und geht weiter. Ich schätze meine Ananasverkäuferin auf zwölf Jahre, sie spricht nicht französisch, wie es die Kinder lernen, die in die Schule gehen. Nur die Zahlen, die sie für die Preise braucht, kennt sie. Ihre Muttersprache ist Fon. Diese Sprache wird an der Küste Westafrikas gesprochen, so auch im Süden von Benin, in Cotonou. In den Straßen der Stadt sieht man viele Kinder, die auf ihren Köpfen Waren anbieten. Mangos, Avocados, Papayas, Bananen. Getrocknete Sardinen und Krabben, auch Zitronen, Limonen, grüner und roter Piemont – die scharfen Pfefferschoten –, Zwiebeln und Tomaten sind in kleinen Körbchen für 100 Francs übereinander gestapelt. Die Nahrungsmittel scheinen nur Mädchen in der Hand zu haben.
Kinder, die alte Kleider aus Europa verkaufen, versuchen auch am Abend, wenn es schon dunkel ist, noch Käufer zu finden. Dann sind die Küchen und Restaurants an den Straßen lebhaft besucht. Vielleicht nimmt sich der eine oder andere ja noch ein Hemd mit. Die Blusen und Hemden sind mit Bügeln um das Tablett um den Kopf gehängt, T-Shirts und Wäsche oder Schuhe liegen oben drauf.
Alle diese Kinder sind Vidomégon oder enfants placés, „versorgte“, weggegebene Kinder. Wi do me gon ist Fon und bedeutet: „Kind bei irgend jemandem“, wo es aufgehoben ist.
Die Kinder kommen aus sehr armen Familien. Die meisten lebten auf dem Land. Loukiath ist eines von ihnen. Ich treffe sie in Dantokpa, auf dem größten Markt Westafrikas. Da hocken überall Kinder vor großen Emailtellern und zählen zehn oder zwölf Tomaten von einem großen Haufen in kleine Körbchen und schichten sie auf ein Tablett. Ich bitte ein Mädchen, an dessen sandfarbenem Kleid man das Schulkind erkennt, für mich ein paar Fragen an Loukiath zu stellen, die mit ihrem Tablett gerade fertig ist. Nach und nach erfahre ich ihre Geschichte.Loukiath kommt aus dem Norden Benins. Sie war gerade sechs Jahre alt, als entfernte Verwandte aus Cotonou ihren Eltern vorschlugen, dass Loukiath doch bei ihnen leben und wie ihren eigenen Kinder zur Schule gehen könnte. Dafür soll sie im Haus mithelfen. Loukiath war das dritte Mädchen der Familie und hatte noch vier kleinere Brüder und Schwestern, für die sie mit ihren großen Schwestern sorgte. Loukiaths Eltern wussten, daß sie nie eine Schule besuchen können würde. Auch wenn die öffentlichen Schulen kein Schuldgeld kosteten, mussten Hefte, Bücher, Stifte und ordentliche Kleidung selbst bezahlt werden. Aber das Geld reicht nicht einmal zum Essen. Noch dazu war die Schule über 10 km entfernt. Wenn es einmal regnete, konnte man den Weg tagelang nicht gehen. In Cotonou aber wäre das anders: Loukiath würde etwas lernen können und gut versorgt sein. Mit dieser Hoffnung haben sie ihre Eltern gehen lassen. Die sieben Geschwister von Loukiath waren immer noch da und mussten versorgt werden.
Aber dann kam alles anders. An Arbeit war Loukiath gewöhnt. Vom Fegen des Hofes bei Sonnenaufgang bis zum Geschirrwaschen in der Nacht, dazwischen Holz- und Wasserholen vom Brunnen, zu dem man eine halbe Stunde laufen musste, Wäschewaschen, stundenlanges Stampfen von Hirse und Mais für die Mahlzeiten, von denen man nicht satt wurde. Von der Schule war in Cotonou nie mehr die Rede.
Jeden Morgen muss Loukiath auf den Markt gehen, wie viele andere Mädchen zählt sie Tomaten von einem großen Haufen in Körbchen, die sie auf einen riesigen Emailteller stapelt. Ein anderes Mädchen hilft ihr, den auf den Kopf zu heben und Louhiath macht sich mit der schweren Last auf den Weg. Loukiath läuft solange durch die Straßen, bis alle Tomaten verkauft, alle Körbchen leer sind. Manchmal ist es schon dunkel, manchmal bleiben ihr ein paar Tomaten übrig. Die abgezählten Körbchen werden zurückgebracht. Das eingenommene Geld muss Loukiath abgeben, den Lohn erhalten ihre Pflegeeltern. Wenn sie nicht alles verkauft hat, ist der Lohn geringer und sie bekommt weniger zu essen. Und am nächsten Morgen beginnt alles wieder von vorne.
Manchmal geht eine Hoffnung in Erfüllung, und Eltern oder ein Onkel oder eine Tante aus dem Heimatdorf kommen und fragen nach dem Kind. Vielleicht gelingt es Loukiath eines Tages, wieder nach Hause zu kommen. Sie selbst könnte den Weg dorthin nicht finden.
Nur wenige dieser Kinder wissen, an wen sie sich um Hilfe wenden können. Oft werden sie mit Schlägen eingeschüchtert. terre des hommes versucht auch in Cotonou, auf das Unglück dieser Kinder aufmerksam zu machen. Aber das erreicht nur die wenigsten von ihnen. Denn das Vertrauen in freundliche Fremde, die ihnen etwas versprechen, ist schon einmal missbraucht worden. Und die „Pflegeeltern“ werden alles tun, um ihre billige Arbeitskraft, die sich nicht wehren kann, zu behalten,
15.7.2018
Wieder eine Woche gelebt. Von Sonntag zu Sonntag und Sommer. Da mache ich die große Runde mit dem Rad, um nach den beiden Storchennestern zu sehen – alle Jungen waren da, sie sind fast so groß wie die Eltern. Dann in den Moorweiher im Wald und weiter durch die Wiesen. Ich glaube, was ich da oben höre, sind Lerchen. An unserer Badestelle am Fluss mache ich für Yalla halt und selbst lege ich mich ins Gras. Manchmal möchte ich mich einfach mit dieser Erde verbinden, wie ich es in der Sahara so oft getan habe. In der Sahara. Ich liege noch keine zwei Minuten mit den Händen unter dem Kopf, da krabbeln mir die Ameisen in die Haare. Ich bin schnell auf den Beinen und im Wasser und weiß wieder, wo ich bin. Wir fahren heim, nehmen den schattigen Weg durch den Wald. Das T-Shirt muss ich dreimal ausziehen und ausschütteln, bis niemand mehr darin herumkrabbelt.
Wir sind kaum im Garten angekommen, da jagt Yalla eine Ente. Sie holt sie fast ein, da entkommt die Ente über den Weiher, Yalla kann bloß noch gucken. Nicht lange, da höre ich ein schrilles Kreischen. Noch eine Ente! Ich sehe sie unter der Hecke, sie flieht Richtung Weiher, aber da ist der noch weit. Und Yalla sprungbereit, mein Halt!!! wirkt beim dritten Mal so, dass ich sie nehmen und ins Haus tragen kann. Mit Überreden will ich gar nicht anfangen. Und die Spatzen kreischen, wenn das Futter kommt.
Wenn ich am Morgen bei offenem Küchenfenster Klavier spiele, werden die Vögel draußen laut mit krächzen und kreischen, als wollten sie den Eindringling, den Fremden, der diese Geräusche macht, vertreiben. Wenn ich aufhöre zu spielen, wird es draußen leiser. Auch ein Rassismus.
Auf dem Feldweg schimpft eine Frau, die aus Nürnberg kommt und mit ihrem Hund den gleichen Weg geht, auf die Schwaben, die soviel unfreundlicher seien als die Franken. Da muss ich zustimmen und frage mich wieder einmal, wie das im Großen gehen soll, wenn es schon im Kleinen so weh tut.
Dann habe ich mich entschlossen, das Fußballweltmeisterschaftsendspiel anzuschauen, auch wenn ich wenig verstehe. Will ich doch wissen, welche Luft ich atme. Aber dann das! Es sah so aus, als hätten die Franzosen zwei Tore geschenkt bekommen. Ich war unentschieden, wem ich den Sieg wünschen sollte, aber doch nicht so! Diese Ungerechtigkeit! Der Tag war gelaufen. Der kleine traurige Kapitän der Kroaten ging mir nicht aus dem Kopf. Nein, es bleibt dabei: Fußball ist nichts für mich.