16.7.-27.7.2018 – du! 6.8.68
16.7.2018
Gegen Morgen rettet mich ein Einfall: Ich werde für meine Tochter zu ihrem fünfzigsten Geburtstag ein Buch aus Bildern von 50 Jahren machen.
Habe sofort die Schachteln und Alben mit Fotos hervorgeholt und alle herausgesucht, auf denen sie auftaucht, und bin von einer Freude in die nächste gefallen.
Da war soviel Liebe zu sehen und zu fühlen – unglaublich.
War das immer so? – Ja. Ich werde an keinem Geburtstag das Staunen der Ordensschwester vergessen: „Die lacht ja immer noch!“ hat sie gesagt, da kamen die Wehen schon ziemlich oft.
Ich habe mich nur gefreut auf dieses Kind, vom ersten Augenblick, als ich wusste, dass ein Kind in mir wuchs. Ganz ohne die Angst, ich könnte etwas Lebenswichtiges falsch machen wie bei dem ersten Kind. Das war für uns beide gar nicht gut.
Das zweite Kind – auch eine Gnade der späten Geburt.
Auf den meisten Bildern ist die große Schwester dabei. Gehört einfach dahin. Vater, Mutter, zwei Kinder – die Familie sieht glücklich aus, nicht nur auf Sylt. Meine finnische Freundin sagt das mit neidischem Gesicht.
Man fotografiert doch nicht, wenn man sich streitet oder weint, sag ich. Auch nicht die, die sich traurig in ihr Bett verkriecht.
Der Blick der Kleinen sucht so oft die große Schwester, auf beinahe jedem Bild von den beiden schaut die Kleine die Große an.
Bis diese nicht mehr auftaucht. Ihr Fehlen tut weh.
Die Kleine wird allein dreißig, vierzig, fünfzig. Reist mit mir durch Westafrika, bis der Mann da ist, mit dem sie reist. Das letzte Bild im Buch zeigt sie mit ihm.
Jetzt sehe ich die Liebe in allen Bildern.
In diesem Rausch habe ich gearbeitet und mich gefragt: Wem mache ich eigentlich diese Freude? Mir?!? Das war nicht die Absicht, macht aber nichts, im Gegenteil. Es soll mein schönstes Buch werden.
Das Titelbild ist wie selbstverständlich da: Ich halte sie hoch – so wach die großen Augen, der offene Mund, das Fäustchen vor der Brust. Sie ist ein paar Monate alt. Ich halte ihr ganzes Leben in meinen Händen.
Das Buch heißt:
20.7.2018
Ich finde in den vielen Gesichtern schon am Anfang die Spuren zu ihrem Gesicht von heute. Zauberhaft. Ein Wunder – dieses Leben. Dann bin ich wieder überschwemmt von Liebe, staune und bin stolz auf meine Tochter.
Meine Cousine, die auch zwei Töchter hat, sagt: Du strahlst immer, wenn sie auftaucht. Der Glanz im Auge der Mutter? Wenn ich das hingekriegt hätte –
Zu dem glücklichen Bilderfinden kommt allmählich die Frage: Wer ist nicht dabei, der zu ihrem Leben gehört?
Meine Eltern gibt es – aber die andere Oma? Ich finde sie nur einmal auf unserem Hochzeitsfoto. Ich habe sie nach unserer Trennung nur noch einmal besucht, da hat sie nicht gewusst, wer ich bin. Die Mail an meinen Exmann ist erfolgreich: Am nächsten Tag sind gute Bilder da von meiner Schwiegermutter, die mich schon lange nicht mehr erkannt hat. Ihr Gesicht war auch in meinem Leben. Ich werde erinnert.
Aber wo ist die Freundin, die mich in größte Panik versetzt hat, als sie vierjährig aus unserer Wohnung geschlüpft und nach Hause gegangen ist? Was für ein Horrortrip, bis ich sie vor ihrer Wohnung fand in dem Haus an der stark befahrenen Straße mitten in der Stadt! Auch sie wird gerade 50. Ich rufe sie an und bekomme Bilder. Toll.
Das Suchen nach Spuren geht auch ins Leere. Ich finde den letzten Ausweis von meinem Vater nicht. Warum war der nicht bei seinen Sachen, die ich vollständig übernommen habe? Was kann er mit ihm gemacht haben? Und warum wollte ich das Foto. Dann soll mir nichts und niemand mehr einfallen. Ihr Leben hat meine Kleine von mir entfernt, und sie ist ohne mich ihrer Wege gegangen. Ganz weit weg nach dem Tod der großen Schwester.
Dann gibt es wieder Bilder von uns beiden: in Berlin, in Ouaga, in Cotonou, in Mauretanien und in Mali auf dem Fluss. Und beim Skifahren. Es ist so gut, diese Tochter zu haben. Und traurig, dass sie dieses Gefühl nie erleben wird.
In diesen Zeiten darf ich sie manchmal in den Arm nehmen, und manchmal sage ich: Heute sehe ich in deinem Gesicht meine Mutter – wie gut, dass ich inzwischen mit ihr Frieden geschlossen habe.
Das Kind mit dem magischen Datum – 6.8.68 – hat nie Mama zu mir gesagt. 68. Keine Hierarchie, immer der Vorname.
Das Selbstverständliche dieser einmaligen Beziehung ist damit nicht zu haben. Das Einmalige, dass ich der einzige Mensch bin, zu dem sie das sagen kann, und sie die einzige ist, die es zu mir sagt. Da sind wir uns etwas schuldig geblieben.
Heute versuchen wir es mit Abkürzungen, Ma, Mam oder Muddi – na ja. Mama kann es einfach nicht mehr werden. Ich bin neidisch, wenn ich höre, wie eine Fünfzig- oder Sechzigjährige irgendwo Mama! ruft.
24.7.2018
Wer keine Arbeit hat, der macht sich welche.
Auch so ein Vatersatz. Hätte zu dem gepasst, was ich gestern und heute veranstaltet habe, bis ich den einfachen Weg für die Bilder aus der Mail ihres Vaters – ein Klicken, ein Ziehen, nichts weiter – gefunden habe. Der Weg ins Buch war zu kurz, als dass ich ihn gleich erkannt hätte.
Und dabei der tägliche Kampf gegen die Löcher im Kopf. Ständig komme ich dahinter, dass ich wieder etwas vergessen oder verlegt habe. Suchen, suchen, suchen, einordnen, nachtragen – es ist mühsam. Wie oft habe ich schon gedacht: Jetzt habe ich alles. Und dann der Schrecken vor dem Einschlafen: Wo sind die Bilder aus…?!? Es wäre mir lieber, mir würde gar nichts mehr einfallen.
So vergeht die Zeit mit Bildern, nicht mit Wörtern. Ich weiß nicht, ob ich in beiden Spuren gleichzeitig fahren kann. Für die Bilder muss ich auch ganz ungewohnte Wege gehen, um Lücken zu füllen.
Was auch passiert ist: Die Spatzen sind ausgeflogen, nachdem sie immer lauter geschrien haben, und der Bauer hat die Johannisbeeren vergiftet, die seine Maschine nicht genommen hat. Will nicht, dass jemand – das sind alle hier – pflückt, was nach der Ernte sonst abfällt.
So sind unsere Bauern. Zum Gernhaben. Ich habe noch nie so viele Beeren an den Sträuchern gesehen wie in diesem Jahr. Vor der Ernte und nach der Ernte auch. Zuviel zum Verschenken.
26.7.2018
Jetzt ist also „der Elektrolyt kaputt“. Schwindelgefühl und Übelkeit haben mich umgelegt.
Mal wieder. Wie damals nach vier Wochen Israel. Habe vergessen, was ich in Quaga immer gemacht habe, wenn ich in der großen Hitze dort war: die Messerspitze Salz jeden Tag. War doch jetzt die Warnung da: Der Blutdruck ist zu hoch!
Vielleicht hätte ich doch besser auf meinem Weg bleiben sollen: Ich brauche keinen Arzt.
Ich mache es wie der Vater. Es sind seine Worte.
Als er schon zu schwach war, um Widerstand zu leisten, ließ er sich zum ersten Mal zu einem Arzt bringen. Danach lebte er noch vier Wochen.
Ich habe mittlerweile viele Ärzte überlebt, da wurde ich gar nicht gefragt: Bänderriss, Blinddarm, Bandscheibe, Brustkrebs, Brüche der Sprunggelenke. Dann kam der Hund und ich sah, dass ich ihn nicht bei anderen lassen konnte, so stumpf und matt war sein Fell schon nach einem Tag, als ich zur Metallentfernung noch einmal ins Krankenhaus musste. Jetzt leben wir sieben Jahre zusammen, und ich habe das nicht mehr gebraucht. Zu dem Arzt, der mein Knie operieren wollte, „vielleicht nur das halbe“, bin ich nicht mehr gegangen.
Timbuktu und wieder Timbuktu, mein besonderes in unserer allgemeinen Zeit.
Mahamanes Hilferufe kommen von dort, wo gerade der gefährlichste aller UN-Einsätze stattfindet. Trotzdem hoffen die Menschen, dass doch wieder Touristen kommen mögen, wo sie doch alle Mausoleen wieder aufgebaut haben. So viele haben von der Arbeit mit ihnen gelebt. Wie Mahamane. Er sei krank, schreibt er, dann klingt er erkältet, verschnupft, spricht von seinem Rücken.
Viele Wohnhäuser sind noch nicht wieder aufgebaut. Die Stadt sieht aus wie nach der letzten großen Überschwemmung, die den Lehmbauten die Füße weggezogen hat. Erst das Klima, dann Krieg.
Ich muss hier immer wieder davon reden, weil es in meinem wirklichen Leben keiner mehr hören will.
27.7.2018
Eh ich’s vergesse: Vollmond 22.23.