Sylt – Nich-Sylt
Sylt – Nich-Sylt5.8.2011Priekule/Prökuls
Kein Kaffee in Silute/Heydekrug. Bei Johannes Bobrowski. Kein Geld.
Hier Geld und Kaffee. Muss sein zwischen Ullis “Katastrophenhof“ und der Nehrung. Nun fehlt mir nur noch das Gas, von dem ich dachte, dass ich es überall bekomme, sonst bleibt der Kaffee bald kalt.
Jetzt geht es auf die Nehrung, an die „Ostsee bei uns“. Ich bin über viele Brücken gefahren, alte, kunstvolle Eisenkonstruktionen ohne Farbe. Manchmal Reste davon, sonst nur Rost.
Litauen? Ich habe keine Ahnung, ob es ein Land für mich wird, wie es Polen geworden ist.6.8.2011Natürlich denke ich zuerst an meine Tochter, die heute Geburtstag hat. Viso gero! - Alles Gute! – werde ich ihr durchs Telefon zurufen.
Ich bin auf der Nehrung und da ist es gut. Sitze auf der Düne, habe mir einen zweiten Kaffee besorgt nach Schwimmen und Essen und fasse den Ort ins Auge, wo ich mich im Sand einrichten will.Mein Ankommen habe ich mir anders vorgestellt: Kaum von der Fähre herunter leuchtet bei den ersten Kilometern auf der Nehrung ein weißes Warnsignal am Armaturenbrett, wie ich es überhaupt noch nie gesehen habe. Wie ein Kännchen sieht es aus. Na prima. Muss ich umkehren, zurückfahren, wieder nach Klaipeda? Erst mal halten, nachlesen, die See sehen, baden. Die Straße, an der man nicht halten darf, zieht sich in die Länge, da kann ich grübeln: Wasser? Nein, das sieht anders aus, das weiß ich, trotzdem hoffe ich auf ein Wasserproblem, das könnte ich ja noch selbst lösen. Dieses Auto! Ich denke an den Motorschaden auf dem Weg zum Skifahren, als es noch keine drei Jahre alt war. Muss es mir meine Bewegung in der Welt mal wieder schwer machen? Eigentlich ist ein Auto für das Gegenteil da.
Dann stelle ich es neben die Straße ins Gras, wo ein Trampelpfad durch den Wald Richtung Wasser zu sehen ist. Vielleicht überlegt es sich das ja noch einmal mit dem Leuchten, bis ich wiederkomme.
Ich laufe ans Meer und es ist, wie es ist: die Nordsee bei Ostwind. Auch hier sind Nackte. Gut. Eintauchen – da fehlt was! Nachsalzen! – schwimmen. Dann lege ich mich bäuchlings in den Sand und schlafe ein. Angekommen.Doch es hilft nichts, ich will weiter, vorwärts oder rückwärts, das Auto warnt noch immer, ich fahre nach Süden. Also Nida/ Nidden.
Dreimal NIDA nach links. Werkstatt? Nein. Gleich beim ersten Aussteigen fallen mir die schönen wehenden Gewänder der Frauen auf. Ich komme mir schäbig, schlampig, ja geradezu schmutzig vor, als ich nach einer Tankstelle frage. Die besteht aus zwei Zapfsäulen, welche eine Frau an der Hauswand sitzend beaufsichtigt. Genug. Ich lasse das Auto stehen, steige aufs Rad um und werde in drei Wochen zurück nach Klaipeda fahren.Noch einmal baden, laufen, dann Fisch essen am Strand, dazu ein litauisches Bier. Stelle ich mir vor. Das Laufen im Sand geht schwer mit dem Fuß, der sich nicht abwinkeln lässt, auch das Hinaufsteigen zum Kiosk. Dann ist der zu. Da gibt’s heute gar nichts mehr.
So mache ich die Bekanntschaft mit Barbara und Hans, die sich ihr Bier mitgebracht haben. Sie stellt nach der Begrüßung mit schwäbischem Tonfall eine Flasche Memelbräu vor sich auf den Tisch, an dem ich sitze, ihr Mann eine grüne Carlsbury-Dose. Sie: „Ich komme nämlich aus Memel.“ Wir stellen fest, dass wir im gleichen Jahr geboren sind. Ihr Vater war im Krieg geblieben, ihre Mutter ging mir ihr im Oktober 44 aufs Schiff von Gotenhafen nach Lübeck. Zwei Jahre, von denen die Mutter bis zu ihrem Tod 1972 nicht sprechen wollte, waren sie unterwegs. Sie ist dann 1974 zum ersten Mal nach Litauen gefahren mit einer Reisegruppe. Als sich diese auf den Heimweg machte, sei sie, die von sich sagt, dass sie selten weint, von einem Weinen geschüttelt worden, das nicht aufhören wollte. Dazu kamen Erbrechen und Durchfall, sie lag zwei Tage weinend und schlafend im Bett. Ihre Reisegefährten nickten verständnisvoll: Das haben wir alle hinter uns, das ist die Heimat, die sich meldet.
Und mir hat wieder einmal eine Hand den Mund zugehalten bei der Heimfahrt im letzten Jahr.
Später habe ich manchmal gesagt: ich weiß nicht, warum es mir so schlecht geht, es war doch alles so gut. Eine Freundin hat sich gewundert, dass ich das nicht weiß.Zuerst hat mich der schwäbische Tonfall gestört, später sagt Barbara, sie habe auch bei mir etwas Süddeutsches gehört. Wir wollten doch dazugehören, wo wir angekommen waren.
Als sie vor sieben Jahren hier war, ist sie zu einem Amt gegangen, um etwas über „ihren“ Hof zu erfahren. Da hat man ihr gesagt, sie könne ihr Land jederzeit wieder haben, sie müsse es nur bewirtschaften. Das war ihr zu schwer. Und leben wolle sie jetzt hier nicht. „Nur schad, dass es uns nimmer g’hört!“
Schad – nich schad. Das hat ja nun seinen Grund, und der sind wir. Schon vergessen?
Wir haben geredet, bis mir kalt und ich nicht nur durstig, sondern auch hungrig war. Einen Übergang weiter gibt es noch Bier und Chips. -Soll es da weitergehen, wo es im letzten Jahr auf der Frischen Nehrung aufgehört hat, wo ich das letzte Restaurant geschlossen und nur noch Chips fand? Nur dass das Bier jetzt Alus statt Piwo heißt? – Aber hier schmecken die Chips nach Schmand! Und es sind die besten!Wo werde ich schlafen? Mich mit dem Auto in die Büsche schlagen, in den Wald abtauchen wie in Masuren, kann ich hier nicht, da sind nur schmale Fußwege. Also bleibt nichts als ein Parkplatz. Wie halten es die Litauer damit, wenn da jemand im Auto schläft? Wie die Polen, die sich Sorgen machen, oder wie die Sylter Polizisten, die höflich „Guten Morgen“ sagen und „bitte suche Sie einen Campingplatz auf!“ Das geht hier gar nicht, denn der einzige Platz ist voll.
Als ich am Morgen aufstehe, sehe ich im PKW neben mir drei junge Litauer, zwei Frauen und ein Mann am Steuer, die im Sitzen schlafen. Damit wäre meine Frage beantwortet. Aber bei einem halbnackten Mann neben einer Frau in einem Kombi bin ich dann noch erschrocken, bei allen anderen Autos, in die man hineinschaut, ob man will oder nicht, weiß ich jetzt Bescheid.7.8.2011
Es ist, als wäre mein Traum litauisch gewesen und ich habe so wenig verstanden wie den ganzen Tag.
War das wirklich eine Nacht? Eine wirkliche Nacht. Eine Nacht, in der ich lebe statt zu schlafen. Auf dem Sand, neben dem Wasser, unter der Milchstraße. Ich finde es gar nicht mehr besonders, nur richtig. Den großen Wagen haben die Polen noch nicht gestohlen. Und jeder, der schon einmal die Milchstraße gesehen hat, weiß, wie dicht dann die Sterne gesät sind. Zwei grüne Lichter im Süden markieren die russische Grenze. Daneben kreist das Signal eines Leuchtturms. Dann Stimmen, ein Licht streift über den Sand und mich, die Stimmen nähern sich, das Licht auch, dann ist es aus, die Stimmen werden leiser, verstummen. Am Morgen sehe ich nicht weit von mir eine Gruppe, die sich dort schlafen gelegt hat.
Selbstkontrolle: Hatte ich Herzklopfen? Keine Spur. Hätte ich Herzklopfen haben sollen?
Sonntag also. Ich lasse Isomatte, Schlafsack, Decke, „Schlafanzug“ am Strand zurück, einen Haufen unter einem Handtuch. Ich werde erst abends wiederkommen, wenn der Sonntagsrummel vorbei ist. Ans Haff will ich, ins letzte Café vor der Grenze. Da bin ich nun.
Zwischen mir und der Grenze die größten litauischen Dünen. Bis zu ihrem Fuß bin ich geradelt. Da stellen sich gerade Deutsche die Frage: Treppe oder Sand? Die Mehrzahl entscheidet sich für die Treppe. Ich muss einsehen: Das schaffe ich nicht. Ich kehre um. Nein, ich resigniere noch nicht, aber ich hoffe, dass es in zwei Wochen weniger qualvoll ist mit meinem Fuß, der mag weder so viele Treppen, noch den Sand. Es ist anstrengend, ein paar Jahre zurück zu gewinnen.
Wann werde ich sagen: Ich kann das nicht mehr? „Das“: meine Art zu reisen und nur meiner Neugier zu folgen.Wenn ich Litauerinnen miteinander sehe, höre ich sie oft lachen. Ob sie auch über Männer reden, wie die Frauen bei uns, mit immer den gleichen Worten, langweilig. „Ich muss Meins machen!“ Als wäre nicht jeder Mensch etwas Neues.
Bei manchen Toiletten machen es die Litauer so: Ein gleichschenkliges, spitzwinkliges Dreieck hat die Spitze oben und darüber einen Kreis. Daneben ist das Dreieck gedreht, die Spitze ist unten und der Kreis oben über der waagrechten Seite. Oben breit, unten schmal: der ideale Mann.
8.8.2011
Is doch auch n schönes Fleckchen Erde – Pappi – du? hier?? Da bleib ich doch einfach.
Schön, dass bitte auf Litauisch dem Polnischen ähnlich klingt, wo mir doch leicht das Vertrautere rausrutscht. Schon wieder hab ich prosche statt paschom gesagt, als ich den Kaffee am Hafen von Nidden/Nida bestellte. Vielleicht hab ich genug genuschelt, und man hat’s nicht gemerkt.Westwind hat den Himmel blau gefegt, wie er das auch auf Sylt so oft tut, treibt die Wolken zum Festland, da bleiben sie irgendwo hängen. Hier ist die Luft nun rein. Unglaublich rein.
Zum Trocknen ideal. Und das ist bitter nötig. Nach dem warmen, stillen Tag ist gestern ein Gewitter gekommen mit Sturm und fettem Regen, den trieb es diagonal durchs Bild. Sonntag Abend und ich wollte doch endlich mal Fisch und nicht Chips essen. So hab ich mich, bevor der Regen anfing, in ein Restaurant gesetzt im Kiefernwald.
Ich habe mein Häufchen von der letzten Nacht und den Korb mit Wein und Wasser, Kaffee und Feuer mit der wasserdichten Decke geschützt und den Sylter Sonnenschirm tief in den Sand gebohrt und schräg gestellt. Könnte ja sein, dass nur wenig herunterkommt und ich wieder am Strand schlafen kann, so wie vorgestern, da hätte ich auch draußen bleiben können.Mit dem ersten Schluck Bier ist schon klar, dass daraus nichts wird. Dieser Regen meint es ernst. Schnell werden die Plastikwände zu gezogen, man sitzt trocken – aber ob mein Schirm stehen bleibt? Unwahrscheinlich. Der Fisch schmeckt sehr gut.
Der Regen scheint sich ausgetobt zu haben und lässt nach, es hat bestimmt um 10 Grad abgekühlt. Nun regnet es mal laut, mal leise weiter. Als es gerade mal leiser ist, renne ich zu dem Häuschen auf die Düne hinauf, wo mein Fahrrad steht und ich dann auch, solange meine Ungeduld es zulässt. Die ist unvernünftig, ich stürze hinaus und zu den Treppen, da kann ich sehen: Der Schirm ist weg, mein Häufchen unberührt.
Also hin, anstatt zu warten. Ich bin ja noch nicht nass genug. Vom Schirm keine Spur. Ein weißer Stiel steht an der Mülltonne, da hat wohl jemand das Oberteil als Regenschirm genommen. Ich packe mein Zeug zusammen. Was bis jetzt noch trocken geblieben ist, wird nun nass und nässer, und blöd zu tragen ist es auch. Keine Zeit, die Luft aus der Isomatte zu drücken. Na wenigstens habe ich nicht noch einen Schirm zu halten. Dann aber sehe ich ihn auf der anderen Seite neben der Treppe liegen, mit einem Betonbaustein beschwert. Er streckt seine Stacheln in alle Richtungen. Nun also doch Sylt: da hat ein Strandnachbar meine Muschel gesichert, als der Wind zunahm und ich nicht da war.Aber mein Schirm hat einen Sturzflug nicht überstanden, der ist hin. Trotzdem nehme ich ihn zum Entsorgen mit, für diese Tonne ist er zu groß. Noch ein dicker Regenschwall – kann ich noch nässer werden? – die Treppe hinauf und das sperrige Zeug irgendwie auf den Sattel gespannt, im Sand hinunter, durch den kleinen Kiefernwald zum Parkplatz, ist ja alles nah beieinander. Am Auto angekommen, fällt mir der ganze Haufen vom Sattel in die dafür vorgesehene Pfütze. Wenn ich noch etwas Trockenes hätte – ich würde es auch hinterher werfen! Und das alles muss ich jetzt im Auto verstauen.
Zuerst einen Kaffee. Ungeschickt stoße ich die brennende Kartusche um und schon lodert eine Stichflamme. Ich sehe das Auto explodieren – drehe aber schnell genug den Gasknopf zu. Aus. Puuh.
Gab es das nicht schon einmal? Sylt in den Siebzigern: Feuer in der Hörnumer Gemeinschaftsküche. Das Fett in meiner Pfanne stand in Flammen. Und ich sei so ruhig gewesen, als sei das ganz normal – hat später ein noch immer fassungsloser Zimmernachbar erzählt.
Ich hocke in meinem Autobett und trinke Rotwein aus der Kaffeetasse mit dem Friesenmuster. Der Regen hört auf. Ja, warten müsste man können. Halb sieben. Ich denke an die geniale Erfindung der Strandkörbe, die hier fehlen.Um sieben hält ein moderner Reisebus neben meinem Parkplatz. Mit meiner Erinnerung an griechische Buchstaben kann ich Kaliningrad entziffern. Plötzlich kommen von allen Seiten Leute gelaufen, Alte, Junge, Männer, Frauen, eine Frau in dünnem Kleidchen mit Spaghettiträgern, das ziemlich lustlos, weil nass, an ihr herunterhängt. Sie greift ein Kind und hebt es lachend in den Bus.
Kaliningrad 86 km. Ich ziehe zu dem Parklatz um, wo dieses Schild steht. Umziehen heißt: mit dem Auto 500 Meter fahren, zurücklaufen, Fahrrad holen. Dort stelle ich mein Auto so, dass die Schiebetür neben meinem Bett offen bleiben kann, wenn es regnet. Ich stehe am Wald, wo keiner vorbei gehen wird. Die Straße führt nur noch nach Russland. Zwei Kilometer sind es bis zu dem kleinen Stückchen Grenze, die Litauen auf der Nehrung mit Russland hat. Immer wieder Autos, große russische, mittlere litauische. Fahren die Russen vom Wochenende nach Hause? Ich habe nicht mitgezählt, wie viele 40 000 € – Autos heute schon an mir vorbei gesaust sind. Reiche Russen reisen eben. Und was haben die Litauer in Königsberg gemacht? Wo diese Straße – die alte Poststraße – geradewegs hinführt? Irgendwann mache ich meine Tür zu. Nicht immerzu Autos gucken – es ist wie ein Zwang: Russe? Litauer? Ich bilde mir ein, ich könnte hören, wenn die Russen kommen. Sie fahren oft mit Vollgas zur Grenze oder davon weg. Die Litauer tun das selten. Und warum die vielen Geländewagen.Als ich von meinem Abendnickerchen wach werde, bin ich überrascht von schlechter Laune. Habe Sehnsucht nach Sylt und weiß nicht, warum ich nicht dort bin. Ich rekapituliere die Zeiten, die ich auf der Insel gelebt habe:
1 als ich ein Kind war, mit 10 Jahren und bis ich 18 war
2 als (Haus-) Frau und Mutter, 24 – 35 Jahre alt
3 als ich wieder allein war, 62 – ?9.8.2011
Als ich heute aufwachte, war der Himmel blau mit kleinen leichten weißen Wolken. Der Wald um mich herum war frisch und blinkte und blitzte. Kiefern dicht beieinander. Komisch, dass sich ein Mensch diese Landschaft ausgedacht hat. Vor etwa 150 Jahren erst hat man angefangen, Kiefern auf der Nehrung zu pflanzen gegen denn fliegenden Sand. Jetzt steht er da wie jeder Wald von immer.
Neben mir hält ein Mercedes, ein junges Pärchen steigt aus, nimmt Strandsachen aus dem Kofferraum und geht Richtung FKK-Strand. Dann ein kleiner Skoda mit einem mit älteren Paar, das geht auf der anderen Seite in den Wald, Pilze sammeln, denke ich, nach dem Regen. Pfifferlinge, wie sie an der Straße verkauft werden?
Mein Fahrrad steht unabgeschlossen neben meinem Auto, es gibt keine Schlösser bei MAXIMA. Da kann ich meine nassen Sachen zum Trocknen drüber hängen. Dann schaue ich mir den Schirm an, bevor ich ihn zum Abfall trage. Aber als ich die Speichen geordnet und gerade gebogen habe, lassen sie sich zusammenstecken. Jetzt brauche ich Nadel und Faden, dann kann man den Schirm noch benutzen. Für Sonne. Nicht für Sturm und Regen. Ich danke dem, der den Stein darauf gelegt hat.
Um mich herum wird heute Russisch gesprochen.
Die Schwalben – mein Barometer – sind unentschlossen. Sie streifen flach über die Straße, um im nächsten Moment über die Dächer aufzusteigen. Was soll das werden? Sie denken nicht daran, sich in den Himmel zu werfen, so wie wir in den Schaum dieser Wellen, die jetzt auch mir Respekt einjagen, wenn sie mich auf den Sand schmeißen. Aber warum schmecken sie nach nuscht? Nachsalzen!Ich bin mit einer Frage gekommen und beobachte die Antworten, die mir die Tage geben.
Heute ist Sylt. Ich höre es schon beim Aufwachen. Und fühle: 14 Grad. So kalt ist ja das Wasser noch nicht nach dieser warmen Woche. Aber Wellen tauchen mich unter, wenn sie sich über mir überschlagen. So ist es recht. Und die Ostsee ist wie meine Nordsee, die wie „unsere Ostsee“ ist, wie es meine Mutter immer gesagt hat.Als ich auf dem Campingplatz nach den Duschen schaue, kommt Barbara, die Memelerin, auf mich zu gelaufen und lädt mich zum Kaffee ein. Sie und Hans und ich, wir sitzen vor dem Wohnwagen und tauschen Erfahrungen aus. Dass nicht viele Deutsche hier sind. Dabei hatte der junge Litauer auf der Fähre doch gesagt: „Es wird Ihnen gefallen, es sind viele Deutsche da. Fifty-fifty.“ Ich zeigte auf mein Kauderwelsch-Sprachbüchlein: „Lerne ich dafür Litauisch?“
Nein, vielleicht 20 Prozent bei den Wohnwagen, stellen wir fest, bei den Autos sind es noch viel weniger. Aber Russen! Und ihre Fahrweise! „Da ist doch heute glatt einer auf dem Zebrastreifen einer Frau über die Hühneraugen gefahren!“ Und noch einmal mit schwäbischer Entrüstung: „über die Hühneraugen gefahren!“
Sie sind heute am Haff nach Norden geradelt, wie schön es da war! Aber baden darf man im Haff nicht, das hat schon ihre Mutter gesagt. Und heute sagten die Leute es wieder, warnend und drohend: „Nicht ins Wasser gehen!“ – als Hans Lust dazu zeigte. „Ihr Mann wird davon eine grüne, schrundige Haut bekommen, den wollen Sie nicht mehr anfassen!“ Die Memel, der Nemunas, bringt mit den Zuflüssen Gift ins Haff, das dreimal so groß wie der Bodensee ist. Aber die Fische aus dem Haff werden gefangen, geräuchert, gegessen? Was sagt der Reiseführer? Dass Umweltverschmutzung ein Problem ist, dem man verstärkt beizukommen versucht, und dass der Nemunas viele Abwässer aufnehmen muss, die er dann ans Haff abgibt.
Und vor 70 Jahren? Als die Mutter eine Warnung aussprach, die sicher nicht gerade erst aufgekommen war? Mir kommt es vor, als sei diese aus eher magisch denkenden Zeiten. Heute jedenfalls waren die wenigen Menschen, die ich im Haff habe baden sehen, auch drei Stunden später noch nicht einmal hellgrün.
Ich bin dann aber doch wieder auf die andere Seite zum Schwimmen gefahren, sind nur zweieinhalb Kilometer und das Meer ist offen.
10.8.2011
In meinem Traum gab es einen Mann, den ich liebte, und er liebte mich. Wir wollten zusammen leben, aber er war verheiratet und musste sich erst noch trennen. Da wurde seine Frau sehr krank und starb. Es war ganz selbstverständlich, dass wir auseinander gingen. Die Tote konnte ihn ja nicht mehr gehen lassen.
Ich erinnere mich an den Traum mit dem Gefühl: ja! so ist es. Der neue Anfang wäre nur mit einer Trennung möglich. Mit dem Tod bleibt der Mann bei seiner Frau.
Und die Heimat? Bleibt mein Herz bei ihr, weil sie für mich tot ist? Weil ich mich nicht von ihr trennen konnte -?Ich höre die See. Sie muss so wild wie gestern sein. Gefühlte Windstärke 6-7, in Böen 8. Der Sand fliegt und sticht, wenn es nicht gerade mal wieder einen Starkregenguss herunterschmeißt. Zwischen Guss und Guss spannte sich gestern Abend ein Regenbogen von Süden nach Norden und von Norden nach Süden über das Haff.
Eine Spinne hat in der Nacht einen Faden vom linken Außenspiegel zum Fenster gespannt. Den hat der Guss nicht zerreißen können. Wenn der Wind angreift, dehnt er sich, und zieht sich wieder zusammen, wenn der wieder Luft holt.Jetzt kommen die Prozente: Deutsche Reisebusse fahren den russischen von gestern hinterher. Aus meiner Parkplatzperspektive.
Ein deutsches Auto – LB – hält zwei Plätze neben mir. Eine Frau, die vielleicht schon zehn Jahre länger als ich auf der Welt ist, steigt aus, wir begrüßen uns und sie ruft überrascht: „Schau mal“ – gemeint ist der alte Herr, der noch am Steuer sitzt – „sie hat einen Tisch im Auto!“ Da redet sie wohl von meiner Küchenbox auf dem Beifahrersitz, auf deren Deckel ein blau-weiß-kariertes Küchenhandtuch liegt und jetzt ein Becher mit Wasser steht. Ich bin gerade bei meinem Mittagessen, ein Käsebrot. Dann will die Frau alles Mögliche wissen, vor allem, ob ich alleine sei. Mein „Ja, allein“ entlockt ihr einen Jubelruf: „Super!“ Sie fragt noch mal nach: „Ganz allein?!?“ – „Ja, ganz allein.“ Nun noch mal: „Suuuper! Super!“ Sie sagt es dem Weißhaarigen weiter, der inzwischen langsam, vorsichtig aus dem weißen Volvo gestiegen ist. Da käme ich mir ganz schön blöd vor, wenn ich der Mann an ihrer Seite, Lebens- und Reisegefährte, wäre. Drei Wochen bleiben sie. Wie ich.Aber nicht so die Deutschen – schon wieder? – die fünf Minuten später halten. Wieder ein Paar, diesmal ein junges, mit einem SIXT-Leihwagen. Wo die Dünen seien, fragt er mich. Ich sage, was ich weiß. Und ob dort ein Parkplatz sei? Das weiß ich nicht. Sie kommen gerade aus Riga und wollen mal kurz einen Blick auf die berühmten Dünen werfen. Muss man doch gesehen haben, wofür ist man sonst auf die Nehrung gefahren. Ich hoffe, sie haben sie gefunden.
Ich habe dort den Fuchs getroffen, der im Moos saß und mich erwartungsvoll angeschaut hat, verwundert, dass ich ihn nicht fotografiere. Und ich hatte meine Leica nicht dabei, war ich doch nur zum Einkaufen unterwegs. Aber es wäre wieder ein so perfektes Bild geworden, dass jeder meint, es sei eine Montage.