Es schmeckt nach Abschied

 

26.8.2011

Klaipeda ist nah. Schiffe kommen aus dem Hafen oder fahren hinein. Manche liegen draußen. Sie machen Licht. Das mochte ich auf Sylt auch immer so gern. Sehen, dass da Menschen draußen sind in der Welt. Ihr Licht verbindet mich mit ihnen. Gute – letzte – Nacht.
Die vierte Woche kommt mir vor wie ein köstlicher Nachtisch nach einem sehr, sehr guten Essen, das schon alle Bedürfnisse befriedigt hat. Was dann noch kommt, ist reiner Genuss.
Ich bin nicht nur traurig zu gehen, ich freue mich auch auf daheim.

Ich habe ein Ticket für die Fähre am Montag, den 30.8. Wenn es mir mal wieder gelingt, einen Wunsch erfüllt zu bekommen, bin ich so glücklich, als hätte das sehr in Frage gestanden.
Dabei war es so einfach, auch wenn meine beiden Karten nicht funktioniert haben. Also wechsle ich die letzten 50 € und bekomme noch ein Lit zurück. Mit den drei anderen, die ich noch im Portemonnaie habe, reicht es für einen Kaffee vor dem Terminal im warmen Wind, der vom Wasser herüberkommt. Wenn ich den Kaffee mit der rechten Hand trage, schwappt er in die Untertasse, mit der linken Hand nicht. Wie doch alles mit allem zusammenhängt. Hand und Fuß.

Gut, dass die Fähre von der Nehrung herüber nichts gekostet hat, weil man offenbar den Rückweg gleich mitbezahlt, wenn man hinüberfährt. Schließlich kommt jeder dahin zurück, wo er losgefahren ist. Irgendwie logisch.

Ich also auch, obwohl ich auf eine andere Fähre zugesteuert bin, nachdem ich einen Ort, der Smirtyne/Sandkrug wäre, nicht finden konnte. Muss da was falsch verstanden haben. Dass der älteste Ort auf der Nehrung auch heute noch ein Ort wäre, wo sich ein paar Häuser zusammengefunden und einen Namen bekommen haben. Dreimal bin ich hin- und hergefahren. Einmal mitten durch den Wald bis zur Düne hinüber, dann dahinter entlang und schon war ich wieder auf derselben Straße. 

Der Blick hinüber auf den Hafen von Klaipeda erschreckt mich jedes Mal wieder, wenn ich gerade mal weggeschaut habe. Da stößt etwas zusammen. Muss ich heute Klaipeda sehen? Will ich?

Pferdekutschen warten darauf, die Leute, die mit der Fähre aus der Stadt herüberkommen, zum Baden an den Strand zu bringen. Die Kutscher, die fast ausschließlich junge Kutscherinnen mit Pferdeschwanz sind, striegeln die Pferde und hängen ihnen den Hafersack um. Die Frauen, die auch hier die Wege fegen, sind älter. Am Haff stehen ein paar schöne alte Häuser, die Fensterläden sind geschlossen. Drei trockengelegte große Schiffe am Wald und ein Kurenkahn zum Begehen. Ein Museum. Das soll also Smirtyne gewesen sein. Es reicht. Ab zur Fähre. Da ist sie. Ein Paar tanzt darauf nach dem Klatschen der zuschauenden Passagiere. Wo fährt man hinauf? An der KASA ist niemand, so frage ich am Kiosk. Die Frau sagt mir auch Laba diena, aber mit Englisch oder Deutsch will sie nichts zu tun haben. Ein Mann um die sechzig kommt freundlich näher, fragt: „Fähre? Klaipeda!?“ Ich nicke, ja, ja. „Und Auto? Klaipeda, Auto!“ – „Auto?“ – Kopfschütteln. „Ni-e Auto. Nur Mensch!“
Nur Mensch. Ach so. „Andere! Drei Kilometer! Auto!“
Warum hat denn Karin von zwei Fähren geredet? Jetzt fahre ich zum fünften Mal die einzige Straße, die nach Sandkrug führt, das es nicht gibt.
Auf die Autofähre rutscht es sich mit vielen Russen fast von selbst zusammen. Ich finde, dass die russischen Männer oft unfreundlich dreinschauen. Wie die Münchner, zu denen ich „Grüß Gott!“ sage. Die rühren sich nicht aus dem Auto, obwohl sie da sehr eng hineingepackt sind. Sie sehen erschöpft aus. Muss anstrengend gewesen sein auf der Nehrung.

Memel. War Memel und ist Klaipeda, und ich bin darin hin und her gefahren, an den Megakaufhäusern entlang, um herauszufinden, was die hier mit meinem Opel machen. Überall zeige ich mein Opel-Buch vor: Ich habe dieses Problem. Die erste Station: Diagnostik. In drei Stunden, anmelden, dann dauert es eine halbe Stunde, dann kommt es darauf an. Das ist ja wie bei uns. Mag ich nicht. Ich halte an einer kleinen Werkstatt auf dem Weg nach Kintai, die kann das nicht, hat das Gerät nicht. Der Monteur zeichnet mir den Weg zu einer größeren Werkstatt auf. Der dort sitzt schüttelt heftig den Kopf, während er telefoniert, und trommelt auf seine Uhr. Es kommt mir vor, als schaute er mich geradezu vorwurfsvoll an. Na dann also nicht.
Das muss genügen, was meine Bemühungen um das neumodische Licht angeht. Gut dass ich inzwischen weiß, dass man das nicht so ernst nehmen muss. Opel muss Geld verdienen. Eine Unterstützung unserer Autoindustrie.
Ich würde das Licht ja zukleben, wenn ich dann nicht immer denken müsste: Was soll das Pflaster hier?

27.8.2011           

Minija/Minge

28 Grad. Perfekte Spinnennetze verbinden die Außenspiegel mit den Fenstern.

Egsotisch ist an dieser KAVINE die Anfahrt: Wellblechpiste aus Stein, Sand und Staub. Die entgegenkommenden Litauer fahren so schnell wie auf einer Asphaltstraße. Schnell fahren, um über die Wellen zu hüpfen?

Ich war im Haff schwimmen. War ja auch Zeit. Da sind mir die Mädchen mit nassen Haaren und Handtüchern um den Hals schon entgegengekommen. Dieser Spur bin ich gefolgt und habe von Schilf frei gehaltene Badestellen gefunden. Na also, geht doch.

Beim Wegfahren habe ich es endlich geschafft, eine gut verschlossene Milchtüte zum Platzen zu bringen. Ich habe mir angewöhnt, Dinge, die schnell schlecht werden unter das Auto hinter einen Reifen zu stellen, wenn es nur einen Platz in der Sonne gab. Und damit ich beim Wegfahren daran denke, stelle ich meine Sandalen vor mich aufs Armaturenbrett. So fällt mir immer beim Einsteigen auf: Was sollen die Schuhe hier? Ach so –
Na und gestern stand die Milch neben dem linken Vorderrad, da sehe ich sie ja beim Einsteigen, hab ich gedacht. Von wegen. Es hat schön geknallt. Was war das? Ein Schuss? Ein Reifen? Lange hab ich nicht überlegen müssen.

28.8.2011

Sind das Abschiedsträume?
Ich war so entsetzt über das, was ich da gesehen habe, so unglücklich, ja verzweifelt.
In der Stadt gingen Mädchen oder junge Frauen mit ihren Eltern herum, blieben da und dort stehen und sagten: und hier habe ich geweint??? Und hier war – dieses oder jenes, jedenfalls Gründe zum Unglücklichsein.
Die Eltern zeigten und erklärten und die „Kinder“ weinten noch einmal.
Das Ganze war eine Aktion zur Vergangenheitsbewältigung, die Konfrontation mit dem Trauma.
Jedenfalls finde ich es schrecklich und komme so ins Büro meiner Tochter, um mich auszuheulen.
Dann sind da andere Mitarbeiterinnen. Sie waren auch in der Stadt, ich war sicher, dass sie ebenso entsetzt sind wie ich. Stimmt, aber sachlicher. Sie waren deshalb nicht unglücklich.

Dann habe ich mit meiner Mutter besprochen, wo Joachim, mein amerikanischer Cousin, seine Zeit über Weihnachten zubringen soll. Ich sage: Drei Tage bei mir, dann sehen wir weiter! Normalerweise halte ich Besuch nicht länger als drei Tage aus, schauen wir, wie es dann ist.
Aber erst musste ich noch einkaufen, ich hatte nichts vorbereitet, die Geschäfte machten in einer Stunde für zwei Tage zu. Da brauchte ich einen Supermarkt, wo ich alles bekam, wollte zu Marktkauf an der Ackermannstraße. An der Ecke Kobold – Leonhard-Hausmann-Straße war ein kleiner Markt gegenüber einer Baustelle, in die bin ich hinein gefahren und jetzt komme ich nicht weiter. Die Leute sagen: Es geht nicht. Ein großer älterer Mann bestimmt: Vor Dienstag kommt hier keiner durch! Spinnt der? Ich muss da raus! Ich bin wütend und entschlossen, gebe einfach Gas, alles springt zur Seite, und ich bin durch. Denke: Na siehst du – so kann man sich durchsetzen!

Wieder auf dem „Katastrophenhof“. Ich sehe schon beim Hineinfahren, dass Ullis LKW und Pauls Passat nicht da sind. Ulli ist mit der Oma in Deutschland, ihre linke Hand ist vorgestern operiert worden. Am Mittwoch, wenn ich in Augsburg sein will, sind sie wieder hier.
Irena und ihr Mann scheinen von meinem Auftauchen etwas überfordert. Ich bin es auch, denn jetzt gibt es nur Litauisch. Davon, dass Irena immer lauter spricht, wenn ich nichts verstehe, wird es auch nicht besser.
Wir trinken Kaffee, essen meinen mitgebrachten Kuchen und nehmen den Kalender zu Hilfe.
Vor dem Kaffee dachte ich noch – wie beim ersten Mal –, gleich wieder abzufahren, Das wurde immer unmöglicher, nachdem mir alle verfügbaren Betten des Hauses angeboten worden waren. „Ni-e, ni-e, ich habe mein Auto!“ Wie immer. Mein Auto und den Platz, der Ulli der liebste ist.
Hätte ich anrufen sollen? Dann wäre ich nicht hergefahren. Aber ich wollte doch dieses Ende, nur dass ich ihn mir mit Ulli, Paul und der Oma vorgestellt habe. Schade. Jetzt, wo ich mehr Fragen habe als am Anfang. „Du kannst immer kommen, auch wenn ich nicht da bin!“ – Ulli. Da bin ich nun.

Und die Vorfreude darauf hat es drei Wochen lang gegeben. Dafür bin wieder mal kreuz und quer durchs Memelland gefahren, das gehört wohl dazu, manches Schild sehe ich nicht, oder es ist gar nicht da. Und dabei hat die Wellblechpiste der Abgaskontrolllampe das Leuchten ausgetrieben, danke!

Gut, dass ich den Abstecher nach Minge gemacht habe.
Dort habe ich gesehen, wie sich die Stare auf den Leitungen aufgereiht haben. Wollen sie nun weg?
In Silute/Heydekrug fange ich an, manches wiederzuerkennen. Aber eines stimmt ganz und gar nicht: In den vielen Nestern ist kein einziger Storch mehr. Sie sind weg. Alle. Auch die von Ullis Dach. Da klappert nichts mehr. Die Schwalben sind noch immer wild unterwegs, unten und oben. Gegen Abend versammeln sie sich auf den Leitungen.
Auf dem Hof sind noch ein paar Autos und viele Schafe dazugekommen. 28 sind es jetzt, zeigt mir Jons mit den Fingern und nickt strahlend dazu. Man kann die neuen an ihrem gleichmäßig gewachsenen Fell erkennen, und kleiner als die wild geschorenen sind sie auch. Sie wandern zu meinem Auto, nehmen es in Augenschein – komische Augen haben Schafe, gar nicht wie Augen – und gehen zupfend und kauend weiter. Zemute und ihre Tochter, die Ziegen, laufen mit, gehören zu den Schafen. Wer weiß den Unterschied. Zemute hinkt mit dem rechten Vorderfuß. Ihr Euter ist dick, sie müsste gemolken werden, aber der Melker guckt gerade Sport. Samstagabend, ach ja.
Auf dem Hof links von mir gibt es jetzt 20 Kälber. Die kommen auch zum Gucken an den Zaun. Abends fährt der Bauer mit dem Jauchewagen vom Hof. Das sieht nach Regen aus, auch wenn ich es kaum glauben kann unter dem sternklaren Himmel. Immer noch dieser warme Süd-Ost-Wind der sich wie Steppenwind anfühlt. 29 Grad. Waren so die ostpreußischen Sommer?
Der Bauer hat’s nicht wahrscheinlich nicht von den Schwalben, sondern aus den Nachrichten.

Nachdem ich mein Auto richtig abgestellt und mein Rad herausgeholt habe, bin ich gleich an den See gefahren, wo es in diesem Jahr so angefangen wie es im letzten aufgehört hat: masurisch. Zwei Männer sind an einem Schlauchboot zugange. Ich denke, sie beladen es, um wegzufahren. Ich steige ganz vorne am Steg ins Wasser, natürlich oben und unten ohne, wie immer.
Wie warm es ist, wunderbar! Ich schwimme weit hinaus, und sehe: Die laden nicht auf, sondern ab, und nun wollen sie das Boot dort ins Wasser lassen, wo ich meine Sachen hingelegt habe. Das Wasser ist so warm, dass ich schon eine Weile schwimmen kann, bis sie draußen sind. Und überhaupt sind wir hier nicht in Polen. Wenn sie noch lange machen, möchte ich aber doch hinaus. Soll ich ihnen ein Zeichen geben, damit sie sich umdrehen? Dann sehe ich, dass ich ein Tuch im Fahrradkorb habe, und das Rad steht ganz nah am Schilf. So krieche ich durch das Schilf und zupfe, als sich die Männer über ihr Boot beugen, mein Tuch aus dem Korb und binde es mir um. Fertig. Wie ein Tier, das an Land gegangen ist, komme ich mir vor. Bald fahren auch die Männer los, rudern weit hinaus auf den See, ich fahre nach Hause, nicht ohne Äpfel aufzusammeln. Sie sind saftig und gut.

Mir kommt es vor, als ob dieses Land Frieden atmet. Und es wird Herbst. Es liegen schon gelbe und braune Birkenblätter auf der Erde. Ein leichter Dunst steht am Abend über den Feldern, die Sonne geht im Nebel unter. Laba nakt heißt Gute Nacht. Ich brauche es zum ersten Mal.
Die Nacht hat mit der Milchstraße begonnen und endet mit Nieselregen und einem Temperatursturz. Der Tag wird nicht wärmer als 15 Grad. Ein Hahn kräht! Das habe ich lange nicht gehört. 

Ich bin schon am nächsten Tag abgefahren, die Haushüter schienen kein Interesse an mir und meinem Büchlein zur weiteren Verständigung zu haben, sie verabschiedeten sich für den Tag. Was sollte ich da noch nach dem Radeln zum See. Ins nächste Dorf, in die Kirche schauen, einkaufen, Äpfel aufsammeln. Noch eine Runde über Ullis Hof, dann lege ich eine Karte für Ulli auf den Küchentisch – merke jetzt erst, dass alles offen, gar kein rechtes Schoß vorhanden ist. Die Schafe habe ich inzwischen oft genug gezählt, mittags sind sie in den Stall gegangen, wo der Mist mittlerweile ein harter Berg in Fenstersimshöhe ist. Die Ente mit der Hochfrisur habe ich oft genug fotografiert. Und das Chaos auch. Ich bin traurig, dass ich Ulli nicht meine gesammelten Fragen stellen kann. 

Jetzt also Klaipeda/Memel und noch einmal an die See im Norden der Stadt. Zuerst die See. Es ist gar nicht so leicht ranzukommen, die Stadt ist nah und jeder Zweite am Wochenende da draußen. Schließlich finde ich doch noch einen ruhigen Parkplatz und mache mich auf den Weg durch einen Wald mit besonders (wirklich!) hohen Kiefern Richtung Westen, wo das Licht durchschimmert, und zerreiße einen Spinnwebenfaden nach dem anderen. Aber dann! Dann fällt die Küste steil ab, die Bäume stehen gegen das Licht über der silbernen schäumenden See. Wie soll ich meine Fassungslosigkeit beschreiben?! „Das hält mein Kopf nicht aus!“ – oder mein Herz? Es klopft wie wild. Das sieht ja wie unser Samland aus! Ich beschließe sofort, meine Sylt-Mutter zu fragen, wenn ich zuhause bin. Dafür fotografiere ich, was das Zeug hält. Bis der Akku schlapp macht. Die Küste oben und unten entlang und zurück, einmal am hellen Nachmittag, dann bei Sonnenuntergang, und immer kopfschüttelnd. Dass es das gibt und ich es sehen darf. Danke. (Gut, das Ulli nicht da war –)

Am Morgen soll dann Abbaden sein, und ich stelle mir vor, dass die See mich genauso anfassen wird wie vor Sylt mit dieser Brandung. Dass soll dann ein schöner Abschluss meiner Notizen werden. Denkste.
Ich bin am Morgen da, die Brandung ist auch da, ich ziehe mich wie jeden Morgen aus und gehe ins Wasser. Bis zu den Knien, bei Wellen bis zum Bauch, dann geht es nicht weiter. Der Grund ist voller großer und mittlerer Steine, unmöglich, darauf zu stehen oder zu gehen. Mehr als im Sitzen überspült werden geht nicht. Dazu müsste ich die Küste hier besser kennen. Aber so lange bin ich nicht mehr hier. Die Bernsteinfischer fotografiere ich noch.
Überhaupt nicht Sylt.

29.8.2011

Klaipeda

Letzte Station: Klaipeda. Um drei Uhr sticht mein Schiff in See. Ich sitze im Café und höre Deutsche reden. Die Litauer schweigen in ihre Laptops, nur einer redet laut und lange und nachdrücklich mit ihm. Ein anderer telefoniert, während er auf seinem tippt. Hier ist Litauen jung.

Ich nehme die Stadt unter meine Füße, die nichts anderes als Kopfsteinpflaster fühlen, wieder Steine, große und kleine, aber immer ungleichmäßig. Und so viele Touristen, Italiener, behinderte Italiener – Rollstühle auf diesem Pflaster?!? 

Sagen, sagt sie mir nuscht, diese Stadt. Jung, flott, modern kommen mir die Menschen vor, die keine Touristen sind. Vielleicht werde ich einmal lesen, was ich gesehen habe, als ich herum- und kreuz und quer und wieder herumgegangen bin. Zwölf Schläge von der Kirche.

Für mein Schiff, die LISCO MAXIMA, stehe ich erst mal eine Stunde an der falschen Stelle, weil ich alles umständlicher erwarte, als es ist. Als ich das erkenne, sind es noch 20 Minuten zur Abfahrt. Jetzt fahre ich los: nach Kiel? Ja! Weiter! Weiter! Mein Auto bekommt noch einen Platz zwischen den LKW. 

Das Hinaufsteigen fällt mir viel leichter als auf der Hinfahrt. Aber zum achten Deck schaffe ich die Treppe nur mit Festhalten, sonst würde mich der Wind zurückdrücken. Ich werde mich in einer Ecke auf Deck 7 zum Schlafen einrichten müssen. Als die Nehrung vorbeizieht, wundere ich mich über die völlige Abwesenheit von Gefühlen. Komisch. Auch von der See bewegt der Blick auf den Strand in mir gar nichts. Ich finde das Schiff nur langsam, so schwer und so langsam. 

30.8.2011

vor Kiel

Am Abend habe ich eine Archäologin kennen gelernt, die vom Graben bei Cranz nach Kiel zurückfährt. Sie hat blonde Rastalocken bis zum Po. Von dem Wikingern – so der Grabungsauftrag, das Projekt – haben sie nichts gefunden, aber sonst vieles, Alltagsgerät aus Eisen oder Keramik, was wichtig und interessant war.
Ich frage sie nach den “russischen“ Bedingungen auf der Nehrung. Drei Jahre hintereinander war sie jetzt da, und es sei jedes Jahr besser geworden, Zuerst habe man 16 Stunden gewartet, zuletzt nur eine halbe, und sogar deutsche Formulare gebe es jetzt! Sie nennt mir einen Namen in Cranz. Ich weiß jetzt, wo ich nächstes Jahr bin: bei Claus, der 84 Jahre alt ist.

Diese Nacht war sehr lang und sehr schwarz und sehr laut. Klappern über mir, Klirren neben mir, Flaschen werden im Abfall geschüttelt, und Rumpeln unter mir, als würde das Schiff unten an etwas Großes stoßen. Kein gestirnter Himmel über mir. Oben kann ich nur mit Mühe stehen bleiben, wenn ich mich nicht festhalte, wirft der Wind mich um. Schlaflos bin ich auch wegen des bevorstehenden Übergangs: Wie kann ich ihn gelingen lassen?

Beim Frühstück treffe ich eine 91-jährige Allensteinerin. So lange sie kann, wird sie jeden Sommer auf die Nehrung fahren. Ihre Eltern wollten nicht mit nach Ostpreußen, „dann bringst du mich als Leiche zurück!“ sagte der Vater, und sie: „na dann bleibst.“ Bei der Ausweisung durch die Polen hat sie ihren Sohn, das Baby, immer wieder in den Po gekniffen, damit er schrie und sie nicht zu den Mädels gesteckt wurde, die nach Sibirien verschleppt wurden und von denen die meisten „kaputt gegangen“ sind. Ihr Mann war schon gefallen. 

Wir schwärmen von dem Tonfall der Ostpreußen, und ich bin stolz, als sie sagt: „Sie können das R aber gut!“ Als Dank habe ich von Ulli und seinem Hof erzählt, wie ich ihn auf der Hinfahrt kennen gelernt habe. Ist gut angekommen, „so muss man es machen!“ sagt die Begleiterin der alten Dame, die auch beruflich Alte betreut und jedes Jahr mit der Allensteinerin wiederkommt. Laboe schiebt sich ins erste Fenster. – Nächstes Jahr in Cranz?!

Aber noch bin ich nicht zuhause. Wie langsam das Schiff in die Förde fährt! Das nervt mich. Endlich legt es sich zentimeterweise an den Kai.
Ich habe Janis, dem Litauer mit den schönen blauen Augen, zugesagt, über Rendsburg zu fahren, wo er das Auto für seine junge Frau, die ich für seine Tochter gehalten habe, abholen will. Er hat am Morgen seiner Frau mit das Essen genauso vorgelegt wie der Nachbar auf dem Parkplatz von Nidden/Nida. „Die Litauerinnen tragen eine Krone – sagen sie“ – erzählt die Altenpflegerin. Die Männer seien bemüht um die Frau und die Kinder. Für die sind sie immer da, auch in der Nacht. Sie hat in der Nachbarkabine das Baby und den Vater die ganze Nacht gehört. So sieht es aus: Sie liest Zeitung und er spielt im Kinderabteil.

Nun fahre ich also mit Janis durch heftige Regenschauer. Er muss auf mein Bett – einen anderen Platz habe ich ja nicht – und übersetzt mir von dort sein litauisches Navy: noch 3 km, noch 100 Meter. Links ist es!
Warum mache ich das eigentlich? Für den Likör, der jetzt in meinem Auto liegt, oder die Visitenkarte mit einer Adresse in Vilnius? Oder weil ich einfach nur freundlich sein wollte? Oder waren es doch die schönen blauen Augen –

31.8.2011

Müs!

17 km bis FuldaFuldahieristFulda. 

Wenn ich nicht unaufmerksam von der A7 auf die A5 geraten wäre, säße ich jetzt nicht vor dieser Bäckerei mit der freundlichen Frau und dem hilfsbereiten Mann – „nur aufpassen auf die Wespen!“ – und dem köstlichen Streuselkuchen mitten im Dorf mit den Fachwerkhäusern, die sich mit einer Blumenpracht herausgeputzt haben, als würden sie an einem Wettbewerb um das schönste Dorf teilnehmen. Die Schwalben sind noch da. Ich habe einen Landgasthof gesucht und ein ganzes Dorf gefunden. Ein guter Platz, um anzuhalten vor dem Heimkommen. Ein Ort, wo man Stimmen unterscheiden kann: der Hahn, die Schwalben, die Spatzen, die Männer, die Frauen.

Die Kirchenglocke schlägt scheppernd elf Mal an. Wie neblig der Morgen war, wie kühl die Nacht – 9 Grad. So herbstlich. Und wie so ganz anders es riecht als am großen Wasser, wie gestern und die vielen Tage davor. Eine Frau kommt aus dem Laden, „ne Runde heulen, dann ist mir leichter“ – sagt sie und geht mit einer dicken Tüte zu ihrem Auto. Wäre ich in Polen oder Litauen, würde ich mit dem, der am Nachbartisch Kaffee trinkt, zu reden anfangen. Warum tue ich es hier nicht? Immerhin schaffe ich ein „Schönen Tag noch!“ für ein lächelndes „gleichfalls!“
So. Jetzt mache ich noch einen Rundgang durch das schöne Müs. Dann fahre ich nach Hause.
Als ich ins Auto steige, ist die Spinne am Spiegel mit ihrem Netz noch lange nicht fertig.