6.-16.9.2018 – Dzién dobry!

6.9.2018

Ich bin wieder hier. Da wartet 2018 aufs Weitermachen. Gar nicht so leicht nach der sprachlosen Zeit.

Gestern Abend ging die Reise mit einem Besuch als „Wahloma“ bei meinem Enkelkind zu Ende. Die Mutter hat einen guten Weg gefunden für sich und ihr Kind. Mir fällt auf, wie viel die Kleine lacht! Und die Mama tut es auch. Das macht mich richtig froh.

10.9.2018

Das war der erste Tatort seit Monaten, in denen ich gar keinen Tatort mehr sehen wollte. Sofort hat es etwas Beruhigendes, am Sonntag Abend diese Tonfolge zu hören.
Dann folgte die dem Thema angepasste Organspende-Diskussion mit Anne Will. Ich höre länger zu, als ich eigentlich möchte, weil ich auf eine Stimme warte, die sagt: Ich will meinen eigenen Tod.
Es gab keine Stimme dafür. Warum eigentlich nicht?
Darf man das nicht mehr denken? Auch nicht ein Einziger von acht Gefragten?
Wie Rilke: 

O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.

- – - 

Denn wir sind nur die Schale und das Blatt:
Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.

Es sind Tage, in denen man das Näherrücken eines Endes spürt. In den Tagen und überhaupt.
Mit einer beinahe süßen Melancholie und dem Wind über der Haut.

11.9.2018

Wenn die Dinge getan sind, die nach so einer Reise getan werden müssen – den Auto-Haushalt zurückbauen, saubermachen und verräumen, mit der Wäsche in den Waschsalon fahren und einkaufen –, dann kann ich das anfangen, was ich bis zum 30. September fertig machen muss. Dann macht apple, wie angekündigtkeine Fotobücher mehr. Das war eine Enttäuschung! Es sind die schönsten Bücher gewesen, die ich finden konnte. Aber schmollen nützt nichts. Was ich schon angefangen habe, möchte ich noch zu Ende bringen und retten, was noch zu retten ist. Drei Wochen. Ich habe einen Termin.
Ich denke zuerst an Sylt und Masuren. Daran habe ich schon viel gearbeitet.

12.9.2018

Da sind mir die Eisblumen dazwischen gekommen. Das Buch, das es schon gibt, soll mit neuen Fotos zusammengeführt werden. Ich staune wieder über die Bilder, es sind sehr gute dabei, und sie sind einzigartig: Denn wo gibt es noch Eisblumen? Ich sollte mich doch darum kümmern, einen Weg in die Welt für sie zu finden. Dafür habe ich aber gerade keine Zeit.

Das Buch heißt jetzt: Blumen aus Eis.

 

© H. Tarnowski

13.9.2018

Heute ist Masuren dran, nach hause soll es heißen.
Inzwischen bin ich nicht mehr in Mali gewesen, aber in Polen und in Litauen.
Im Sommer 2010 war ich also zum ersten Mal zu Hause.
Zuvor habe ich über David einmal wieder die Verbindung zu den Eltern aufgenommen.

 Mai 2010

Vor der Reise nach Polen

David gibt wieder, was der Vater sagt:
Wir hatten es gut. Es war Platz für alle da. 
Vielleicht haben wir den Fehler gemacht zu meinen, man kann ein Land besitzen.
David, du weißt, wo du geboren bist. Wenn das Gebäude später abgerissen worden ist und es steht was anderes drauf, weißt du trotzdem, daher kommst du.
Bloß weil jetzt jemand anderes dort wohnt, weißt du trotzdem, woher du kommst. 
Wenn du weißt, woher du kommst, weißt du, wohin du gehen willst.
Jetzt zu mir:
Du wolltest eine Zeitlang nicht dahin gehen, weil du gedacht hast, uns zu verraten.
Das ist nicht so. Ich hatte nicht den Mut.
Du kannst dahin gehen und wir würden dich begleiten. 
Als würden wir einen Friedhof besuchen von jemandem, den wir lieb gehabt haben.
Dann ist der Kreis endlich geschlossen. Du machst das im Auftrag von uns, wir würden dabei sein.
Dann hat unser Schmerz endlich einen Platz und darf da sein.

Für manche Vertriebene sind Spenden ein Vorwand, um hinzufahren, sonst hätten sie nicht den Mut. 

David: Da ist ein russischer Panzer
Sei nicht erschrocken, wenn du solche Dinge siehst.
Bei jeder Befreiung gibt es auch eine Niederlage.

Ich glaube, es hätte mir weh getan, dass ohne die Deutschen das Land nicht so schön ist. Aber das Land ist genauso schön. Die Natur macht das Land schön.
Du kannst besser damit umgehen, du hast nicht diese Denkweise.
Du würdest dort freundlich aufgenommen, vielleicht neugierig.

David: Er zeigt mir zusammengefallene Gebäude, da steht nichts mehr, Klinkersteine liegen herum.
Die Mutter sagt, es wäre schön, wenn du die Tante besuchen könntest.
Sie lacht, ist lustig, das war ihre Methode, mit Problemen umzugehen.
Der Vater hat die Dinge schwer genommen. Er ist verbittert:
Es hat mir meine Gesundheit weggenommen.
Die Mutter: Ich habe versucht, durch Lachen diese ganze Thematik zu ertragen, das hat der Vater nicht verstanden.
Geh wie ich dorthin, nicht wie dein Vater. 
Du würdest das Bedürfnis haben, darüber zu reden, es nicht wie eine Flasche zuzumachen.
Schreiben vielleicht, eine Mischung aus Text und Fotos machen.
Damals und Jetzt gegenüberstellen und zeigen: Es sieht friedlich aus. Stellvertretend.
Ein Familienausflug. Und du schreibst das Buch, als ob wir dabei sind, und sagst am Schluss: Die waren nicht wirklich dabei.
So ein Buch könnte ein Türöffner für viele Leute sein. Es geht um Versöhnung.

David: Der Vater möchte, dass du weißt, dass du nicht allein dorthin fährst. Es gehört viel Mut dazu. Er freut sich darüber, weil du keine Berührungsangst mehr mit deinen Wurzeln hast. Er schmunzelt:
Viele Leute haben meinen Vater gekannt, er hat einen sehr guten Ruf gehabt, war sehr freundlich. Du musst nie Angst haben, mit Leuten über ihn zu reden, die würden ihm nie ein Steinchen hinterher werfen, im Gegenteil.
Sei nicht überrascht, wenn einige davon sich an mich erinnern, und zwar anders als du mich in Erinnerung hast. Es ist durchaus möglich, dass die mich als so was wie einen Bengel beschreiben. Das war, als ich jung war. 

David: Da ist etwas aus Marmor. Ein Grab? Ein Denkmal? Tante Clara?
Du versuchst, Puzzleteile zu sammeln, das ist auch eines.
D: Es gibt eine lustige Geschichte über die Frau auf dem Friedhof. Sie muss nicht verheiratet gewesen sein.
Sie durfte nie heiraten.
D: Er schmunzelt darüber.

16.9.2018

Die Bilder in nach hause zeigen meinen Weg: Burkersdorf, der Bahnhof, es muss derselbe sein, wo wir Weihnachten 1944 angekommen sind. Auch die aus Stein gehauenen Pferde sehen so alt aus, als wären sie schon damals nicht neu gewesen. Kochtöpfe und Pfannen an den Zäunen dagegen zeigen, dass hier etwas Neues angefangen hat.

14.6.2010 

Von Burkersdorf bis Wartenburg /Barcewo
Angekommen am 21.12.1944 in Burkersdorf, Kreis Ortrand.
Zwischen Goldap und Ortrand war an einem Tag die Heimat verloren. In Vaters Wehrpass ist am 21.12.1944 ein Stempel des Wehrmeldeamts Gumbinnen: Abmeldung nach Burkersdorf. Am selben Tag noch stempelt das Wehrmeldamt Hoyerswerda die Anmeldung in Burkersdorf als „Wehrdienst im Beurlaubtenstande“. Weihnachten 44.
Am 10.3.1945 wird das Kreiswehramt Coburg stempeln: Flüchtling aus Burkersdorf.

  

© H. Tarnowski

Als ich in Burkersdorf den Bahnhof fotografiere, wo wir angekommen sind, kommt ein Mann aus seinem Garten, sieht mein A am Auto, fragt: Aachen? Ich: Nein, Augsburg, Bayern.
Ob ich den Unterschied kenne zwischen einem Unglück und einer Katastrophe? Nein? Also in einer bayerischen Schule wird der Lehrer danach gefragt, was der Unterschied zwischen einem Unglück und einer Katastrophe sei. Er erklärt das so: Wenn im Starnberger See ein Schiff untergeht und 20 Menschen ertrinken, dann ist das ein Unglück, wenn es Preußen sind. Wenn es aber Bayern sind, dann ist das eine Katastrophe.
Ich soll lachen, also mache ich das.
Nun wird mir der Weg ganz genau erklärt, den ich nehmen soll. Ob er ihn mir aufschreiben soll? Er habe ein Schreibmaschine – danke, es geht so, wie er es erklärt hat.

Das Pflaster ist noch immer dasselbe. Es tut meinen Füßen weh. In Sommerschuhen.
Kinderspielplatz mit drei Pferden aus Stein. Die müssen uralt sein, so verwittert, wie der Stein ist und wie glatt an der Stelle, wo man drauf sitzt.
In Burkersdorf schaue ich in die Schulstraße, um zu sehen, ob sie weitergeht.
„Ja?“ ruft eine dicke Frau, die gerade vor ihrem Haus Blätter von den Steinen fegt.
So angesprochen frage ich: „Geht es dort hinten weiter?“
Sie: „Ja, da geht es weiter.“
Ich: „Danke! Und erst einmal: Guten Tag!“
Ich komme später noch einmal an der Frau vorbei. So einen dicken Menschen habe ich bisher nur im Fernsehen gesehen. Aber es kommen noch mehr.
Da war kein Weg. Muss ein Missverständnis gewesen sein. Dabei haben wir doch heute noch die gleiche Sprache, das ist morgen vorbei.
In der Bäckerei am Markt frage ich nach einer Toilette. Schräg gegenüber im Hof des Rathauses – so die Verkäuferin. Sollte die Türe zu sein, kann ich von hinten hinein, mischt sich ein Herr ein, der am Nebentisch ein Stück Torte isst. 83 ist er. Mit 16, also 1943, war er an der Narew. –  In Vaters Wehrpass steht am 7.9.39: Narew-Übergang –, dann fünf Jahre in russischer Gefangenschaft. Dafür habe er 1992 1000 Mark bekommen.
Ortrand ist nicht mehr Sachsen, sondern 1998 Preußen, Brandenburg geworden, er wollte Sachse bleiben mit einer Gruppe, die hieß Sachsen-Allianz. Die Versicherung hat ihnen 15000 € für den Namen angeboten, darauf haben die Sachsen verzichtet, wären 1000 € für jeden gewesen.
Die Verkäuferin hat ihren Arbeitgeber in Sachsen, die Kinder gehen in Brandenburg zur Schule.
Der Herr erzählt noch, er habe sich bei seiner Konfirmation – 1943? – vorgenommen, jeden Tag eine gute Tat zu tun. Er schenkt mir ein Krustenbrötchen aus seiner großen Tüte, es sei das Beste hier.

Ich schlafe unter Vögeln, Dresden in Aussicht, noch 60 km. Und Kühe, die in Wiesen liegen. Einfach nur da liegen.
Zum Frühstücken biege ich in einen Feldweg. Als ich schon fertig bin, kommt ein weißhaariger Herr auf mich zu, lächelnd: „Guten Tag. Finden Sie sich nicht zurecht?“ – „Danke, ich wollte mich nur auf der Karte orientieren. Vielen Dank, das ist sehr nett.“ Beim ersten Mal empfinde ich es als Aufmerksamkeit, beim zweiten Mal auch noch. Wann denke ich: Kontrolle?
Die sächsischen Kühe liegen noch immer im Gras.
Ein Storch, ein See, verwechselt. Als ich zum Schwimmen näher komme, wird der See ein großes Feld blauer Blumen. Neben einem leicht gebogenen Schornstein ohne Storch.
Es gibt Momente, da fühle ich eine so tiefe Bewegung, wie ich sie nur von der Liebe kenne. Da ist auch immer ein Schmerz dabei.
Ich trinke den Wein von der Hochzeit von Freunden aus, als ich mich entschlossen habe: In Ostpreußen werde ich trinken, was mir Ostpreußen gibt, und nicht, was mir das Allgäu geschenkt hat.
Aus meinem Radio kommt jetzt kein deutsches Wort mehr. Das ist neu für mein Auto. Es hat noch nie meine Sprachgrenze überschritten.
Gdansk 301 km.
An der ersten Tankstelle stehen fast nur deutsche Autos. Kaum einer fährt nach Osten wie ich. Mit billig gefüllten Tanks und 20 l-Kanistern im Kofferraum fahren sie zurück.
An der Kasse begrüßt mich ein Herr in Anzug mit Krawatte mit „Guten Tag!“ Guten Tag also. Weil hinter mir schon der nächste Deutsche wartet, gehe ich zu den beiden jungen Frauen an der Imbisstheke, um sie zu fragen.
„Bitte: Wie sage ich auf Polnisch guten Tag?“ – Sie lachen: dschen dobre. So höre ich es und sage es nach: dschen dobre, dschen dobre, dschen dobre. (richtig: dzién dobry!) Sie nicken und lachen wieder. Und Auf Wiedersehen? – Do widzenia. Oh weh. Da winke ich lieber, als ich hinausgehe.

15.6.2010 

Posen/Poznan – Osterode/Ostroda
Mein Auto ist drinnen und draußen zugleich. Genial. Offene Tür, offene Fenster, offenes Dach!
Überall kann ich unter Vögeln sein. Und unter was für Vögeln! Nie gehörte Töne, Stimmen, Melodien. Nur den unermüdlichen Kuckuck erkenne ich wieder. Und alle die anderen?
Ich denke, ich stehe am Ende der Welt.
Von wegen. Ein Hund. Hund ist nicht Katze, geht selten allein, kommt mit zwei Radfahrern wieder. Kehrt noch einmal um zu mir, läuft dann mit den Rädern weiter.
Als die Stimmen verstummt sind, kommt ein Mann, leicht unsicher, schwankend, auch mit einem Hund. Er schaut mich an, mein Auto, sagt etwas. Kopfschütteln. Es sagt noch etwas. Ratlosigkeit. „Nix polski.“ – „Nix polski?“ Weitere mir nicht verständliche Fragen. „Frau?“ – „Frau deutsch?“ Ein bisschen, entnehme ich der Geste. Er hat sein Handy schon in der Hand, als er fragt: „Problem?“ – Ich: „Nein, nein, nix Problem!“ – Er: „Nix Problem.“ Klappt sein Handy zu. Gott sei Dank, wir haben ein Wort gefunden, das wir beide verstehen. Er schwankt weiter seines Wegs, der Hund hinterher.
Ich muss fragen, was danke heißt.
Mit den Vögeln wache ich auf, lausche, schlafe wieder ein. Ein Auto. Ein knatterndes Mofa. Man fährt zur Arbeit. Auto, Auto. Aufstehen! Es ist 6.15. So früh stehen die Polen auf? Es muss 5 Uhr gewesen sein. Jetzt, um halb acht, ist schon viel Verkehr am Ende der Welt. Kuckuck und kuckuckuck.
Von wegen: Die Polen sind faul, Pappi –
Und erst die Polinnen. Zwei Frauen stehen an der Ausfahrt zur Fernstraße nach Torun/Thorn, selbst für die Unkundigen gut zu erkennen. Und für den Kundigen erst recht. In leuchtend grünem, engem, kurzem, kaum arschlangem Türkis, die eine mit langen blonden, die andere mit ebenso langen schwarzen Haaren. Blödes Lied vom Mädchen im Polenstädtchen. Jetzt habe ich es den ganzen Tag im Kopf.
Ich laufe den Weg hinauf, wo die Autos verschwunden sind. Da oben steht ein Kreuz, daneben liegt ein Friedhof, geschmückt mit so vielen frischen Blumen, als wären hier alle gerade gestorben.

Im nächsten Ort muss ich Geld wechseln, wenn ich einen Kaffee trinken will. Die Bedienung hat den Kopf geschüttelt, als ich ihr – vor dem Bestellen – fragend meinen Euro gezeigt habe. Wo? Eine Dame in dem Kaffeekränzchen an einem großen Tisch hat mich gesehen und ist aufgestanden, um mich zu einer Bank zu begleiten. Sie spricht Englisch. Und ich weiß noch immer nicht, was hier danke heißt.
Auf dem Weg zur Bank treffen wir eine junge Frau mit einem Baby im Kinderwagen, die sich lebhaft mit meiner Begleiterin unterhält. Dabei höre ich immer wieder etwas, das klingt wie Dzekuje. Als wir allein weitergehen, kann ich englisch fragen: Warum hat sie so oft Dzekuje gesagt?
Ja – ihre Freundin habe sich gewundert, wie dünn sie geworden sei. Sie habe eine SLIM – Kur gemacht. Verstehe. Sie hat sich also für Komplimente bedankt. Djekuje heißt also danke.
Wo ich herkomme? Deutschland, sag ich, Germany. Ist sie überrascht? Ich bin unsicher und lade sie nicht auf einen Kaffee ein.
Wie war das mit Auf Wiedersehen ? Do widzenia sagt sie, ach ja. Do widzenia. 
Ich werde mir Eselsbrücken bauen müssen. 

Als ich später Lucija fragte, warum der Musiker vor dem Supermarkt auf Deutsch danke zu mir sagt, lacht sie leicht verächtlich und meint: „Die Polen geben nichts. Der vertrinkt es ja nur.“ 

16.6.2010

Beim Weiterfahren hängen schwarze Wolken über Ostpreußen. Ich fahre durch den Regen, bin fast allein auf der Straße.
So werden es Schlangenlinien. Drei Störche.
In Osterode/Ostroda angekommen bin ich unsicher, welcher Spur ich folgen soll. Ausschau haltend nach Jahrhundertwendehäusern wundere ich mich über die Menschen davor. Und bin doch auch neugierig auf sie. Ich werde es über das Essen versuchen. Mich versorgen lassen von ihnen. Versuchen über Speisekarten zu sprechen. 

18.6.2010 

Wartenburg/Barcewo – Sensburg/Mragowo
Als ich gestern in der Bank Geld wechselte, dachte ich: Jetzt muss ich wissen, was Friedhof heißt, wie soll ich ihn sonst finden. Heute brauche ich das Wort. Cemetry. Wird man mich verstehen?
Lucija hatte, als ich nach dem Friedhof fragte, genickt und eine knappe Kopfbewegung nach rechts gemacht. Also nicht der Friedhof, an dem ich am Tag zuvor vorbeigefahren bin, es war der neue, der mich auf die Idee gebracht hat, nach dem Grab der Tante zu suchen.
Lucija hatte auch gesagt: Ja, es gibt ein Tarnowski-Grab, und beiläufig noch: nur ein flacher Stein, gleich neben der Allee.

Ich gehe in die Richtung, die mir Lucija mit dem Kopf gewiesen hat. An Opis Friseurgeschäft vorbei. „Ich sehe ihn noch davor stehen, an der Ecke, stattlich, freundlich –“ hat sie gesagt. Dann einen Berg hinauf, hinter einer Mauer, da ist der Friedhof schon, ganz ohne das Wort.

Der Vater hat mal von dem Grab der Tante gesprochen.
Ich weiß von keiner Tante, die in Ostpreußen begraben ist, es muss eine Großtante gewesen sein.
Dann stehe ich vor einem Grabstein, auf dem steht: CLARA TARNOWSKI.
Gerade als ich gedacht habe: Jetzt finde ich es.
Ich war schon eine Weile suchend herumgegangen, zweifelnd, ob ich zwischen dem hüfthoch blühenden Hahnenfuß und Giersch und den Akeleien überhaupt etwas finden könnte. Die meisten Gräber sind dicht überwachsen, gusseiserne Kreuze ragen heraus, ein paar Platten liegen offen da. Laut ist es. Drei Gärtner arbeiten sich mit motorisierten Freischneidern durch die Wildnis. Ein Steinkreuz steht schon frei, die Häuser der Schnecken, die da hinauf geflohen sind, werfen lange Schatten. Leschinski steht darauf. So hieß der Obermeister, bei dem mein Vater in die Lehre ging.

© H. Tarnowski

Auf der rechten Seite der Allee steht das Grün noch ungeschnitten. Dann finde ich Tante Clara.

Cemetry habe ich nicht gebraucht, dafür aber etwas Essentielleres.
Meine Tankanzeige leuchtet nun schon seit 40 Kilometern, weil es keine Tankstelle gab. Ich halte in der nächsten Ortschaft und spreche ein Frau an, dzién dobry, und will ihr das rote Licht zeigen. Sie wendet sich heftig abweisend ab und eilt fort. Dann also ein Mann. Der schaut wenigstens mein Licht an, fragt „Gas?“ Ich denke, das heißt Benzin und nicke. Er weist geradeaus, sagt etwas wie 2 km. Dann scheint er zu zweifeln und bietet mir noch ein Wort an: Benzina? Ja, das ist es! Benzina! Super! Hätte ich ja auch schon mal sehen können, aber bisher waren die Tankstellen immer da, bevor ich sie brauchte. Es geht weiter: lewo, weiß schon: links, das L macht es mir leicht. Dann sagt er noch eine umständliche Zahl, klingt näher als vorhin die 2 km. Dziekuje! Dziekuje! Ich steige ein, winke, biege ab, in diese kleine Straße? Da frage ich sicherheitshalber doch noch einmal, jetzt wieder eine Frau: Benzina? Sie nickt lebhaft und zeigt lachend nach vorne: da! Ein kleines Häuschen, ein Mann darin, eine Zapfsäule davor. Das gab es voriges Jahr bestimmt noch nicht, so neu wie es aussieht. Benzina. Dieses Wort werde ich auch morgen noch wissen. Wenn alles so einfach wäre –