25.10.2018 – sag Salif!

 

Gestern kein Schuss. Es kam nur der Sturm. Anstrengend. Ich verkrieche mich vor dem Pusten ins Gesicht und dem Lärm in den Ohren. Das hilft ein bisschen. Das Rauschen wird leiser, es klingt ab, um von Neuem loszulegen, wenn ich gerade einschlafen wollte. Es wird immer lauter, bis ein Ausatmen mir ein Pause zum Schlafen lässt. Am Morgen bin ich erschöpft.

Wieder eine Meldung von gebrochener Waffenruhe in Mali. Tote und Verletzte auch bei der MINUSMA. Dort steht Mahamane noch immer auf der Warteliste. 

In Segou soll das Festival sur le Niger weiterhin stattfinden, erst recht, wo es das Festival au désert bei Timbuktu nicht mehr gibt. Feiern und Tanzen für Frieden im Land und gegen religiösen Fanatismus, auch im Ausnahmezustand, der im ganzen Land seit November 2015 gilt.

Nach vielen Aufenthalten in der Ruhe am Fluss bin ich 2008 ahnungslos, weil gedankenlos in das Festival gefallen.

Mali 1.2.2008

Segou

Eigentlich wollte ich ja zum Festival du Niger in Segou.
Die Stadt ist voll und laut mit ihrem tollen Festival, das es seit drei Jahren gibt und übermorgen anfängt. So habe ich mir das Ankommen nicht vorgestellt. Am Fluss, auf dem Fluss und überall in der Stadt Musik, Tanz, Menschen, Menschen, Menschen – es wird ein großes Fest! Dieser bunte Trubel will mich mitreißen – und ich will nicht.

Wieder  bin ich die Madame tranquille – bitte, ja, bitte! Laisse-moi tranquille –
Bin ich menschenscheu? Wenn es so viele sind und ich eine davon. Und für die Einzelnen, die auf mich zukommen, auch nur eine von vielen. Da kann doch keiner sehen, wer der Andere ist. Ich sehe in ihnen jemanden, der eine sucht, die vielleicht Geld bringt. Das verstehe ich, klar. Aber ich möchte flüchten, aussteigen.
Bin ich inzwischen zu alt, um mich ins Gewühl zu stürzen? Oder zu schwach auf dem Fuß, um im Sand herumzurennen. Oder – das ganz bestimmt – will ich lieber etwas Neues machen, etwas anderes, ganz anderes?

Da steht auf einmal steht Mamadou vor mir, und es kommt mir wie eine Rettung vor. Wir lachen, staunen, freuen uns, ich sage ihm, dass ich, bevor ich nach Tombouctou komme, dorthin will, wohin ich morgens und abends sehnsüchtig schaue: nach Kaladanga, das Fischerdorf der Bozo gegenüber von Segou. Es zieht mich zu den Dörfern am Ufer auf der anderen Seite, die ich vor zwei Jahren nur kurz berührt habe. Es war genug für eine tiefe Sehnsucht.

Um dahin zu kommen, muss ich nur von meinem Dach hinuntersteigen – ich wohne auf der Dachterrasse des Hotels Soleil de Minuit – Mitternachtssonne, einem der Jungen winken, die schon danach Ausschau halten, wo sie mit den charettes, Holzkarren auf Vollgummirädern, ein bisschen Geld verdienen können, meine Sachen drauflegen, damit ans Nigerufer gehen, in eine Piroge publique klettern und warten, bis sie voll ist und uns hinüberbringt.
Ich hätte schon in der Nacht hinüber fahren können. Wollte ich sehen, wo ich ankomme?
War wohl zu faul, alles schon wieder zusammenzupacken, was ich auf „meiner“ Terrasse um mich verteilt hatte. Um dahin zu kommen, bin ich durch einen Baum gestiegen, in dem die Zikaden zuhause sind. Sie übertönen fast den Straßenlärm, und der ist gewaltig. Nachts hat eine Frauenstimme gesungen. Schön. 

2.2.2008

Kaladanga

Ich bin am Ufer angekommen, als die gerade abfahrende Piroge publique nicht nach Kalabougou, sondern hierher fuhr.
„Sag Salif“, rief mir Mamadou noch zu, als ich schon in der Piroge stand, „ich rufe ihn an, du musst jemanden wissen, bei dem du bleiben kannst!“ – Muss ich? Ich würde ihn schon finden – z.B. als mich einer auf der Piroge fragte, wohin ich wolle. Auch er rief Salif an. Ausgestiegen bin ich wie alle durch das Wasser – endlich habe ich diese Unschuld verloren, der Pirogier stellte meine Taschen ans Ufer und sagte: attend! warte! Als alle ausgestiegen waren, rief er mich von den Frauen zurück, bei denen ich inzwischen gelandet war, setzte sich meine große Tasche auf den Kopf und ging mit großen Schritten quer durchs Dorf. Ich mit meinem dicken Fuß hatte Mühe mitzukommen. Als ich dachte: halt! Hier soll er bleiben, hier! da rief er einen Gruß, stellte meine Tasche ab und machte schon wieder kehrt. Ich war da. Hier. Genau dort, wo ich vor zwei Jahren schweren Herzens nach Segou zurückgefahren bin. Jetzt habe ich einen Platz zwischen Fluss und Dorf und dem Land dahinter. Weit und trocken. Mangobäume ziehen eine Grenze durch den Blick. Dazwischen gibt es Lücken ins Nichts oder ins Überall. So muss es sein. So habe ich es gewünscht, geträumt, aber weil ich dafür so gar nichts getan, geregelt, habe, als hierher zu kommen, werde ich manchmal ein bisschen ungläubig. Kann das gut gehen? – hab ich mich gefragt und gesagt: vertrau dir! Denk an was anderes, wenn du das mal gerade nicht kannst, oder geh schlafen.
Als ich gestern Abend auf meiner Matte lag, hab ich mir angeschaut, was ich mir gewünscht hatte, und gestaunt, wie genau es eingetroffen war. Ein Traum, aus dem ich nicht aufwache. Ich bleibe und gehöre jeden Tag ein bisschen mehr dazu. Noch eine Belohnung!

3.2.2008

Dann war es, als wollte mich der Niger mit einem Nebenarm hinunterziehen. Dabei hatte er doch eine geschlossene grüne Decke. Aber darunter gab es nur Schlamm, der mich mit jedem Schritt weiter hinunterzog. Fast wäre ich hineingefallen, konnte mich kaum auf den Füßen halten, und ganz schwer nur einen und dann den anderen Fuß herausziehen, dabei ist der eine schon wieder versunken. Wenn ich dachte: Nur noch ein Schritt, dann wird es fester, ging es weiter hinunter. Und oben ist alles mit fettem, täuschendem Grün bedeckt.
Ich bin wieder im Dorf, also irgendwie heraus gekrabbelt, hab die schwarzen Beine im Niger gewaschen. Wie das Wasser da auf einmal sauber war!
Es war ein so schöner Weg am Fluss, mit dem Wind vom Wasser und darüber. Unter der Sonne. Ich fühle mich der Erde nirgendwo so nahe wie hier. In Lettenbach manchmal, das habe ich aus Afrika mitgenommen.

Mariam untersucht meine Ohren, kratzt an dem weißen Fleck auf meinem Oberschenkel, schaut mich an, dann wieder den Fleck. Dann kommt mein ein Hals dran. Sie zieht an den Falten. Na ja. So ist es.

4.2.2008

Nichts geht hier verloren, alles ist wieder da: Jussufs verschwundene Schuhe, mein Taschenmesser in der Sonne, am Abend auch der vermisste Ibrahim.