27.10.- 5.11.2018 – so lassen
27.10.2018
Vom Mond keine Spur am verschlossenen Himmel. Wind und Regen und wieder Wind. Kein bisschen Mond.
die Birke leuchtet
Blaumeise bleib doch
ich will nur ein Bild von dir
Es könnte mich wundern, nein: Ich staune, wie schmerzlos ruhig in diesem Oktober die Tage sind. Eine Kerze und eine Rose im gleichen Rot stehen für meine Große auf dem Tisch. Wie ein ruhiges, warmes Aneinander-Denken.
Dass sie dem Licht näher gekommen ist, erfahre ich. Wie froh sie darüber ist. Und ihr Wunsch, es mit mir zu teilen. Tun wir das nicht, wenn ich überall das große Licht suche, wo es nur geht: über jedem Wasser, jedem Fluss, jedem See, dem ich näher komme, oder dem Meer. Wo es von oben und von unten glitzert und strahlt?
Und dass sie in den Sonnenstreifen ist, die jeden Morgen, wenn die Sonne scheint, über den Wald zu mir herunterfließen, lässt sie mich wissen. Ich habe diese Momente in meinem ersten Bilderbuch festgehalten und es mehr licht genannt. Ian Goethe habe ich dabei gar nicht gedacht, passt trotzdem.
Der Vater kommt mit den Sternschnuppen, die Tochter in den Sonnenstrahlen. Ich muss schmunzeln, als ich das höre. Gut, dass ich es jetzt weiß. Mein Bett hat den richtigen Platz.
Und ich bin im richtigen Leben. Dort angekommen, wo mir das zugute kommt, was ich – ganz neu in der Welt – schon lernen musste: das Alleinsein. „ Das Kind braucht jetzt nichts, ist dick genug, hinaus mit ihm, wenn es quengelt!“
Das Draußen tut nicht mehr weh, es macht ganz andere Räume auf.
Heute kommt wieder mein Freund der ersten Tage.
Das ist dann ein Tag, wo ich putze und koche. Muss man doch, „wenn ‚n Mänsch kommt“ – sagte meine Mutter, und fing an zu backen und zu kochen.
Und ich werde die vielen Fragen loswerden, die mir der Garten inzwischen gestellt hat, und wir werden meine ersten Vogelhäuser saubermachen.
28.10.2018
Er ist schon wieder weg. „So lassen“ – diese Empfehlung lässt er mir da – und nimmt viele Sorgen, Zweifel und Bedenken mit, als er fährt. Bin fast ein bisschen traurig, als das Berliner Auto zwischen den Feldern verschwindet. Dann drehe ich mich um, wende mich meinem Garten zu. Tue die Dinge, die ich schon lange vor mir hergeschoben habe, und sie fallen mir leicht. Ich staune wieder einmal – what a difference a day makes – gestern noch war mir alles zu schwer und heute ist es fertig. Der Regen kann kommen. Ich werde die Samen, die ich gesammelt habe, dort verteilen, wo Wiese werden soll. Es ist Zeit.
Ich habe wieder Nachhilfe für Vogelstimmen bekommen. Es ist das Rotkehlchen singt im Herbst noch einmal singt. Und der Zaunkönig ist zu hören. Die Amseln sind munter, aber still. Spatzen und Meisen nicht, im Gegenteil.
Aber der Buntspecht. Als wir die Meisenhäuschen aufmachen, finden wir Nester mit winzigen Federn. Das kleine Einflugloch hat der Buntspecht aufgehackt und – so der Oberförster – die Jungen gefressen.
Ich bin entsetzt. Fassungslos. Kann die Natur so böse sein? Und ich habe dem Bösen geholfen mit den Häuschen so nah an der Futterstelle. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass der Specht tut, was er getan hat. Ich habe ihn hacken sehen und klopfen hören und nichts verstanden.
So ist das mit dem Nichtwissen: kann tödlich sein.
Wieviel Wissen hält man aus? Wie frei ist die Wahl zwischen Wissen und Nicht-wissen-Wollen?
Hoffnung gibt es nur ohne Information. Hat einer gesagt. Weiß nicht mehr, wer.
Dass die Ägypter die Zugvögel mit Netzen einfangen, um sie zu essen?!?
Der Oberförster weiß das alles und regt sich gar nicht auf. Das war schon immer so: Er hat sich nicht aufgeregt, wo ich die Wände hochgehen wollte. Hat bewahrt, wo ich tobte. Drum habe wir ja nicht zusammengepasst.
Er tut es immer noch. Er lebt damit und arbeitet. Am Grünen Band, das den Eisernen Vorhang ersetzt hat, der Zweite Kalte Krieg findet nicht mehr dort statt. Oder beim Kampf gegen die Folgen des Klimawandels im Ostallgäu, wo bald die Fichten tot dastehen werden. Sagt er.
Fressen und Gefressenwerden als Naturgesetz. Jedes Lebewesen muss fressen wollen. Auch Vögel die Vögel?!? Nicht vor meinen Augen. Die Löcher in den Häuschen werde ich mit Blech so klein machen, dass der Specht nicht hineinkommt. Ein Vorschlag des Oberförsters.
Wir haben wieder soviel geredet über alles, was ist und auch manchmal, was war. Ich sitze auf meinem Nachtwächterstuhl aus Mali und komme mir wie „etwas Besonderes“ vor – so sagt man doch heute, und es ist, als wäre ich schön. So schön wie vor 60 Jahren, als ich es gar nicht gemerkt habe.
29.10.2018
Ich hab den Schatten weggeschnitten
der auf die letzte Rose fiel
Das waren Jamben! Manchmal sind die einfach da – tatám, tatám, tatám, tatám…
Dann kam der Schnee und jetzt ist er da. Weiß auf bunt.
Hoppla: So. 9.46?
Das kann nicht sein, hab schon soviel gemacht: Klavier, Frühstück, heizen, die Winterjacken und -schuhe hervorgeholt, um die Felder gegangen mit dem Hund, der sich im Schnee wälzt, e-mails gelesen und beantwortet, ohne auf die Zeit zu schauen, aber jetzt ist die Sommerzeit vorbei. Für dieses Jahr und bald für immer. Die Mehrheit will es so. Das verstehe ich nicht. Die Umstellerei könnte man auch dadurch abschaffen, dass man immer Sommerzeit macht. Warum hat sich dieser Vorschlag – er hatte meine Unterschrift – nicht bemerkbar gemacht. Ist untergegangen. 40 Jahre mit den langen Tagen. Davor hatte es das nur in den Kriegen gegeben. (Wikipedia)
Ich habe mich jedes Jahr wieder darüber gefreut. Ich könnte meine Tage einfach nach dem Licht der Sommerzeit richten. Warum tue ich das nicht?
Ich schäme mich: Es ist das Fernsehen. Es gibt Wiederholungen, die meinem Tag seinen Halt geben, Nachrichten, Serien, Kultursendungen. Wenn das alles eine Stunde später im Rechner anschaue? Ist irgendwie daneben. Na ja, so daneben wie ich. „Bei mir ist es 11 Uhr.“ Würde ich jetzt sagen.
Und ich müsste bei jeder Verabredung, bei jeder Terminvereinbarung die Zeit umstellen. Das könnte ich schon mal vergessen und müsste es ständig fürchten.
Furcht und Faulheit: Ich werde es wieder machen wie alle.
Und ich darf eines nicht vergessen: Für die Kinder ist es besser, wenn im Sommer die Tage und im Winter die Nächte nicht so lang sind.
Ich nehme die übrige Stunde für den Brief nach Finnland, den ich seit vielen Wochen nicht geschrieben habe.
Jetzt regnet es. Ist gut für die Markise, wenn der Schnee wegläuft, er ist zu schwer für sie. Wird sie doch sowieso bei mir zweckentfremdet: gegen den Regen!
30.10.2018
Ich sehe meine Welt nie so bunt, höre die Rufe der Vögel nie so laut wie in dem Augenblick des Aufwachens. Es dauert nicht länger als einen Augenblick, dann verblasst das Leuchten, die Töne werden leiser, verklingen ganz. Es muss einen ganz und gar ungeschützten Moment geben zwischen schlafen und wach sein, wo man alles sieht und hört. Da klingen die Tritte von Mäusefüßchen wie die von Soldatenstiefeln.
Mamadou schreibt, dass er vor Sorgen nicht schlafen kann. Der Kleinen geht es besser, gut, aber dass er keine Arbeit hat, ist furchtbar für ihn. Er fragt wieder nach einem Camion – LKW?!? – für Transporte. Spricht von einem Freund, der damit Geld verdient. Kann ich mir vorstellen, es müssen unentwegt Menschen und Sachen transportiert werden.
Aber wie soll ich einen LKW nach Timbuktu bringen? Paul, der sich mit Autos auskannte, ist tot, ein anderer Freund, der auch etwas von Autos versteht, sehr krank. Und ich?! – fühle mich überfordert, nein: bin überfordert. Fühle mich mies, weil mir nicht einfällt, was ich tun kann, damit ein altes Auto nach Timbuktu kommt. Gibt es einen Weg, über das Internet ein Auto für Timbuktu zu finden? Wie? Wo? Wer?
1.11.2018
Die Transaktionsnummer. Ich spreche mit Mamadou, er klingt erschöpft. Fragt mich, was ein Camion kostet. Woher soll ich wissen, was da richtig ist. Warum schaut er nicht ins Internet?
Nein, ich will die Verantwortung für ein Auto nicht übernehmen. Ich möchte noch schlafen können. Ich sage einmal wieder, dass ich eine alte Frau bin, und meine Freunde sind tot oder krank.
Er sagt, dass er versteht. Das sagt er immer. Er wird einen Freund in Mopti fragen, meint er dann. Na also, geht doch. Er darf nicht glauben, dass ich der einfache Weg bin. Sonst fällt ihm nichts anderes ein.
Immer dann, wenn die Welt so bunt ist wie jetzt, sehe ich die Farben neben der Autobahn nach Ulm wieder. Sie leuchteten am 1. November 1962 so, wie ich es zuvor nie gesehen habe. Unglaublich bunt.
Meine Eltern fuhren mich nach Tübingen, sie wollten die Tochter dorthin bringen, wo ihr Leben ohne sie weiterging. Drei Monate hatte ich nach dem Abi mit der Mutter zusammen im Stadtmarkt gearbeitet. Wollte ihr Leben spüren, ihre Tage, die viele Jahre geworden waren. Um dann wegzugehen und nicht mehr dahin zurückzukommen.
Es war für die Eltern selbstverständlich, mit mir nach Tübingen zu fahren, Vielleicht wollten sie sich vorstellen können, wie die Tochter leben würde. Dabei verstanden sie schon lange nichts mehr von meinem Leben. Das hat schon viel früher angefangen, und wurde jedes Mal bestätigt, wenn ich die Tür zumachte und mich an meinen Schreibtisch setzte. Wieviel hatte ich lernen müssen, wovon sie nie eine Ahnung hatten.
Jetzt taten sie mir Leid. Ich wollte weg und muss mir dabei wie eine Verräterin vorgekommen sein.
Heute denke ich, dass sie stolz auf ihre Tochter waren. Die würde studieren! Vielleicht hatte sich der Vater auch an diesen Gedanken gewöhnt – der Traum von der Tochter, die mit ihrem Mann das Geschäft weiterführen würde, war schon lange Vergangenheit.
Ich muss den Opel Rekord selbst gefahren haben, hatte doch den Führerschein und brauchte Fahrpraxis.
2.11.2018
Bevor ich aus dem Haus gehe, muss ich noch eine Vogelscheuche an das Küchenfenster basteln. Es darf nicht noch einmal passieren. Die Aufkleber haben gar nicht geholfen. Ich schneide Streifen aus Aluminiumfolie und hänge sie an Schnüre vor das Fenster.
es zwitschert
ein Kauz ruft
am lautesten höre ich
die Stimme, die schweigt
Von wegen halb voll.
3.11.2018
An das Bimmeln der Glöckchen am Hals der Schafe musste ich mich erst gewöhnen, um einschlafen zu können. So nah waren sie noch nie an meiner Hecke, also keine 10 Meter neben meinem Bett. Am Morgen liegen Kügelchen auf dem Weg. Da waren sie auch. Jetzt sind sie weg.
Das Rotkehlchen liegt vor meinem Fenster. Es ist doch zu schön, um vergraben zu werden. Wie gerne sehe ich seine Brust so orange leuchten, und wie sehr habe ich mich gefreut, als es mit dem Herbst wieder näher kam und ich auch seinen Gesang verstehen konnte.
Ich bin schuld. Wenn das Haus nicht hier wäre, würde es noch leben.
Ich habe das Haus nicht gebaut.
Wenn ich die Vögel nicht mit Futter an diesen Ort gelockt hätte, würden sie anderswo fliegen. Und leben.
Früher sind auch Rotkehlchen um mein Bett herumgehüpft.
Vielleicht habe ich mit dem Füttern manche Vögel gerettet?
Es ist schwer, auf die andere Seite zu kommen, die sonnige, die positive, wo das das halb volle Glas steht.
Weil Schuld leichter zu ertragen ist als Sinnlosigkeit.
Ich werde den Vogel heute mit einem kleinen Abschied begraben und ihm wünschen, dass auch er ins Licht aufsteigen kann.
5.11.2018
An so einem Abend
bleibe ich draußen
bis mit dem Licht
auch die Farben verlöschenstehe nur da
und bin dankbar
dass diese Erde mich trägtder Kauz
sehr oft und sehr nah
ich mache die Tür
hinter mir zu
es ist dunkel
Als ich zum Schlafen wieder hinausging, war es still. Ganz, ganz still. Kein Regen, kein Wind, kein Ruf und kein Schuss. Nur die Stille kann ich hören.
Der Tag beginnt für mich noch immer mit Sommerzeit. Sieben Uhr ist sechs, ich stehe auf. Als ich mit dem Hund losgehe, sind die Farben noch verschleiert, allmählich kommen sie heraus. Als wir in den Garten zurückkommen, ist er wieder ein unglaublich bunter Traum.
Meine große alte Birke leuchtet wie die Brust des Rotkehlchens. Heute muss ich es begraben.
Ich habe ihm die drei Tage gegeben, die ich mir wünsche, bevor man das, was von mir dann noch da ist, verbrennt. Damit die Seele den Körper verlassen kann.
Dem Rotkehlchen habe dort ein Grab geschaufelt, wo ich es oft habe herumhüpfen sehen.