Ingeborg Bachmann: Das dreißigste Jahr
Erzählungen (1961)
Von Marcel Reich-Ranicki
Ingeborg Bachmann, deren Lyrik seit ihrem Debüt im Jahre 1953 in deutschen Landen mit Recht gerühmt wird, ist kühn genug, um ihr erstes Prosabuch, den Erzählungsband Das dreißigste Jahr, einer Problematik zu widmen, die zumindest seit dem Zeitalter der griechischen Tragödie die Dichter aller Länder fasziniert. Hier der verzweifelte Mensch mit seinem dunklen Drange, seinen revoltierenden Ideen und edlen Absichten – dort die feindliche Welt, die in die Schranken gefordert wird; hier das einsame Individuum – dort die bestehende Gesellschaft mit ihren Regeln, Gesetzen und Konventionen. Seit Prometheus und Antigone ist es immer wieder die gleiche Konstellation. Sie steht auch heute im Mittelpunkt vieler literarischen Versuche, zumal epischer Sinndeutungen unserer Zeit. Und das muß so sein, und das ist gut so. Nur daß wir jetzt, nach den Erlebnissen, die unserer Generation zuteil wurden, nicht recht die Geduld aufbringen können für eine Ablehnung der Weltordnung, die sich nur aus dem Emotionalen ableitet, für eine instinktive Revolte, in der man vergeblich ein intellektuelles Fundament sucht. Ein Autor, der diesen klassischen Konflikt aus heutiger Sicht behandelt, will gewiß wirken, doch läßt sich die Befürchtung nicht von der Hand weisen, daß die epische Darstellung einer nur gefühlsbedingten Auflehnung die große Problematik eher verwirren als klären kann.
Ingeborg Bachmann ist eine zu souveräne Künstlerin und eine zu gute Kennerin moderner Literatur, um nicht zu wissen, welche Gefahren ihre Prosaversuche bedroht haben. Aber ihr vornehmlich lyrisches Talent trieb sie immer wieder zu einer eben im Emotionalen verankerten Fragestellung. Nicht konkrete Überlegungen, nicht Gedanken veranlassen die Helden dieser Erzählung zu ihrer schwermütigen Rebellion gegen die bestehende Ordnung, sondern Gefühle, die zwar sehr ehrbar sein mögen, sich jedoch leider einer rationalen Nachprüfung hartnäckig entziehen. Für die Menschen, die hier gegen die Welt gestellt werden, sind also gewissermaßen Pauschalgefühle charakteristisch. Ausgiebig und mitunter sogar ein wenig selbstgefällig operiert Ingeborg Bachmann mit Begriffen wie etwa „Wahrheit“ oder „Schuld“ oder „das Böse“, die sich jedoch meist nur als unzulängliche Bezeichnungen dunkler Empfindungen erweisen. Ihre Helden empfinden das Leben als eine „ungeheuerliche Kränkung“, sie verspüren „Lust, an der Verfassung zu rütteln“ und möchten die „alte schimpfliche Ordnung“ einreißen. Die simple Frage jedoch, warum das Leben eigentlich eine „Kränkung“ und die Weltordnung so „schimpflich“ sei, bringt leider die Konstruktion der meisten Geschichten schnell ins Wanken, denn ein lockeres Gewebe aus Ahnungen, Befürchtungen und Hoffnungen ist – jedenfalls für die erzählende Prosa – kein ausreichendes Fundament. Ins Wanken gerät übrigens auch schnell die psychische Struktur dieser verzweifelten und ratlosen Menschen. Vom Helden der Titelerzählung heißt es: „Er hat immer das Absolute geliebt und den Aufbruch dahin … In allen Augenblicken, wo dieses Äußerste ihm vorschwebte, wo es zum Greifen nahe war, ist er ein Raub des Fiebers geworden, hat die Sprache verloren …“ Eines Richters, der in der Novelle „Ein Wildermuth“ über sich und die Menschheit Gericht hält, muß sich schließlich der Nervenarzt annehmen. Der Ich-Erzähler der Geschichte „Unter Mördern und Irren“ stellt am Ende fest: „Es hallte in mir die Nacht, und ich war in meinem Wahn.“
... [Weiterlesen]Erschienen im Verlag LiteraturWisssenschaft.de – https://literaturwissenschaft.de/buch/ueber-ingeborg-bachmann.html