Franz Kafkas geschriebene Küsse

Zu seinem hundertsten Geburtstag (1983)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Im Jahre 1964 schrieb Susan Sontag in ihrem berühmten Essay „Against Interpretation“, das Werk Kafkas sei „zum Opfer einer Massenvergewaltigung“ geworden – nämlich durch Armeen von Interpreten. Hierzu ist zweierlei zu sagen. Diese „Massenvergewaltigung“ hat, wenn sie denn tatsächlich erfolgte, dem Werk nichts anhaben können, es blüht und gedeiht, was sich nachweisen lässt, auf dem ganzen Erdball. Aber es stimmt, dass sich im Zusammenhang mit Kafka eine gewisse Müdigkeit bemerkbar macht, man klagt über Unlust, man spricht von Überdruss.

Doch richtet sich das alles nicht gegen seine Bücher, sondern gegen die Bücher über diese Bücher: Nicht Kafka ruft also den Unwillen hervor, vielmehr die internationale Kafka-Industrie. Anlässlich seines hundertsten Geburtstags im Jahre 1983 wurde dies deutlich, allzu deutlich: Neben wissenschaftlichen und populären Ausgaben der Texte gab es auch eine Flut von Untersuchungen und Biographien, Handbüchern und Bildbänden, von den Symposien, Kolloquien und Ausstellungen ganz zu schweigen. Die rasch spürbare Unzufriedenheit war ungleich größer als das von ähnlichen weltweiten Industrien hervorgerufene Unbehagen – also jenen im Zeichen Thomas Manns oder Bertolt Brechts.

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