Heine, Kafka und das Judentum
Aus einem Gespräch Marcel Reich-Ranickis mit Peter von Matt (1986)
Von Marcel Reich-Ranicki und Peter von Matt
Vorbemerkung des Herausgebers: In dem zuerst 1986 geführten Gespräch Marcel Reich-Ranickis mit Peter von Matt, das zuerst 1992 im Ammann Verlag, 1994 als Fischer Taschenbuch und später in weiteren Verlagen veröffentlicht wurde, ist wiederholt von Kafka die Rede. In der hier erneut publizierten Passage geht es um Heine, Kafka und ihr Judentum.
M. R.-R.: […] Heine ist ein typisches Beispiel für einen jüdischen Autor in deutscher Sprache im 19. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert ist das beste Beispiel, das wir überhaupt geben können, Franz Kafka. In seinen großen Romanen kommt kein einziges Mal das Wort »Jude« vor – und gerade davon ist im Prozeß und im Schloß immer wieder die Rede. Ich bin davon überzeugt, obwohl ich weiß, daß man Kafka auch anders lesen kann. Das Schloß zeigt die Sehnsucht des Juden nach einer Heimat. Er will in das Schloß aufgenommen werden, er möchte nichts anderes als ein Einwohner des Dorfes sein und gleichberechtigt behandelt werden, also als ein ebenbürtiger Mensch. Das ist sein Traum, seine Hoffnung. Im Prozeß wacht K. auf und wird verhaftet. Warum? Wir erfahren es nie. Das ist doch das Gefühl des Juden, der in dieser Welt angeklagt ist und nicht recht weiß, warum. Ich glaube also, daß Kafka die Situation des Juden innerhalb der nichtjüdischen Welt in diesen beiden großen Parabeln verarbeitet hat; man kann das natürlich auch am Beispiel einer ganzen Anzahl kleiner Geschichten und Parabeln zeigen. Daß aber Kafkas Romane mit Genuß und Gewinn von Menschen gelesen werden können, die nie gehört haben, daß es Juden auf dieser Erde gibt, steht auf einem anderen Blatt. Das ist selbstverständlich.
... [Weiterlesen]Weitere Informationen auf der Seite unseres Verlags LiteraturWissenschaft.de