I.8.5 Bibliotheken und Archive
Leseprobe
Von Uwe Jochum
8.5 Bibliotheken und Archive
8.5.1 Der Vordere Orient und Ägypten
Als der Mensch in der neolithischen Revolution dank der Domestikation von Pflanzen und Tieren zu einer sesshaften Lebensweise übergehen konnte, musste er in den zunehmend größer werdenden Siedlungen auf eine Vorratswirtschaft umstellen, die ohne eine organisierte Kontrolle der Produktions- und Tauschprozesse nicht möglich gewesen wäre. Ein substanzielles Element dieser Kontrolle war die Buchführung über die anfallenden Transaktionen, wofür man seit etwa 3100 v. Chr. zunächst im Zweistromland und dann im gesamten Vorderen Orient schriftliche Belege benutzte, die wochen-, monats- und jahresweise in Listen zusammengefasst und in Archiven deponiert wurden. Am Beginn der Archiv- und Bibliotheksgeschichte steht daher das Bedürfnis sich spezialisierender und als Staaten formierender Gesellschaften, die Zu- und Abflüsse produzierter Güter über einen Zeitverlauf hinweg zu dokumentieren und den dabei vorkommenden Wechsel der Besitzverhältnisse sowie die für die Erhaltung der redistributiven Staatswirtschaft notwendigen und als Naturalabgaben geleisteten Steuerzahlungen festzuhalten. Folglich besteht die Masse dessen, was im Vorderen Orient geschrieben und auf Tontafeln notiert wurde, aus ›Wirtschaftstexten‹ (Transaktionsbelegen, Inventaren, Steuerdokumenten, Kataster, Lohnabrechnungen), die einen ökonomisch-juridischen Raum beschreiben, dessen organisatorisches Zentrum das in einem Tempel oder Palast untergebrachte Archiv ist. Das heißt nicht, dass es sich bei allen archäologisch nachweisbaren Archiven stets um staatliche Einrichtungen handelte. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass eine Differenzierung von ›staatlich‹ und ›privat‹ erst allmählich einsetzte, wobei für lange Zeiträume (staatliche) Archivmaterialien auch in den (privaten) Häusern der reichen Händler und Amtsträger deponiert und dort mit dem Privatarchiv des Händlers oder Amtsträgers verschmolzen waren, so dass sich eine funktionale Überlappung von Privat- und Staatsarchiven ergab.
[...]
8.5.5 Moderne
[...]
An diesem Punkt kam die Datentechnik ins Spiel, die nahezu alle Probleme zu beheben versprach: Die digitalen Informationsmedien sollten billiger sein als das Buch und die Zeitschrift aus Papier, die Probleme der Lagerhaltung wollte man durch Publishing on demand oder besser noch durch einen vollständigen Medienwechsel hin zu einer reinen Digitalisierung lösen. Die Krise des Wissenschaftssystems wäre nach solchen Vorstellungen dadurch beendet, dass die Vernetzungsmöglichkeiten der digitalen Datentechnik das Problem der Hierarchisierung von Wissen schlicht überflüssig machten. Bibliotheken im herkömmlichen Sinne brauchte man dann freilich keine mehr, und in der Tat begannen tonangebende Bibliothekare, die ›virtuelle Bibliothek‹ zu fordern, die nichts weiter als ein professionell betriebener Knoten im Wissens- und Informationsnetz sein sollte.
Seit dem Ende der 1990er Jahre beginnt sich abzuzeichnen, dass man mit der digitalen Datentechnik zu viel versprochen hatte. Das neue Medium, inzwischen als Internet allgegenwärtig, ist nämlich alles andere als ein freies und ortloses Medium, das einen universalen Zugang (zu jeder Zeit, an jedem Ort, von jedermann) ermöglicht. Vielmehr ist das neue Medium immer noch auf handfeste Lokalitäten angewiesen, und das hat Konsequenzen. Wenn alle im Internet zirkulierenden Daten einen Ort haben, an dem sie physisch gespeichert sind, und wenn die das Internet ermöglichende Infrastruktur mancherorts vorhanden ist, andernorts aber nicht, dann resultiert aus der Ortsbindung der Daten ein juristischer Status eben dieser Daten. Das gilt selbst noch für das im Internet benutzte Adressierungssystem über URLs und URNs, das etwa in Konflikt mit nationalem Namens- oder Kennzeichnungsrecht geraten kann. Und gerade weil die Daten und das Adressierungssystem einen juristischen Status haben, können sie selbstverständlich handelbare Güter sein, für die je nach Ort ein anderer Preis gilt. Dass das keine graue Theorie ist, zeigte sich spätestens, als die Bibliotheken versuchten, die stark nach oben weisende Preisspirale für Zeitschriften insbesondere der technischen und medizinischen Fächer durch einen Medienwechsel zu durchbrechen. Am Ende der 1990er Jahre musste man feststellen, dass die Abkehr von den Papierund die Hinwendung zu elektronischen Medien die Zeitschriftenpreise nicht gesenkt, sondern einen Preisschub ausgelöst hatte. Von einer finanziellen Trendwende durch fortgesetzte Ausweitung der elektronischen Angebote ist im neuen Jahrtausend immer noch nichts zu spüren. Aber auch für die Lagerhaltung ist das Netz keine Lösung, denn die rasanten digitalen Innovationszyklen setzen einen Zug ins Futur in Gang14, der bei zunehmender Beschleunigung in immer kürzeren Abständen eine Migration der Datenbestände auf die jeweils neu- este Datentechnik notwendig macht. Dabei nimmt der Anteil des Nichtmigrationsfähigen rapide zu, sei es, dass die Geräte, auf denen die Daten gespeichert waren, nicht mehr mit den neuesten Standards kompatibel sind, sei es, dass die Datenformate geändert wurden und die Altdaten von den neuesten Programmen nicht mehr gelesen werden können. [...]
Leseprobe aus dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.