I.9.2 Bildende Kunst

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Von Monika Schmitz-EmansRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Schmitz-Emans

9.2 Bildende Kunst

Dimensionen und Aspekte der Beziehung zwischen Literatur und bildender Kunst Die historischen Anfänge der Dichtung und der bildenden Kunst entziehen sich zwar einer Rekonstruktion, aber sie sind wiederholt als ein gemeinsames Anfangen imaginiert worden: An seinem Ursprung, so will es ein traditionsreicher Topos, war das poetische Wort ›bildhaft‹, und einem komplementären Theorem zufolge entstanden prähistorische Malereien in funktionaler Analogie zu sprachmagischen Formeln oder zu verbalen Erzählungen. Die frühe Verwandtschaft zwischen Dichtung und bildender Kunst steht auch im Vordergrund, wo deren frühe Zeugnisse als zwei Darstellungsformen des Mythischen begriffen werden.

Komplexe Wechselwirkungen verbinden die Dichtung und die bildende Kunst der westlichen Welt seit der Antike. Bildkünstlerische Werke haben sich auf Inhalte und Gestaltungsformen dichterischer Werke ausgewirkt, dichterische Werke vielfältige Spuren in der Kunst hinterlassen. Zudem sind sprachliche und bildnerische Kunst als Darstellungsweisen bereits früh miteinander verglichen worden. Insofern die begriffliche Reflexion über ästhetische Darstellungsformen als eine Konstruktion der Künste gelten darf, welche nicht allein deren Rezeption lenkt, sondern auch auf die jeweilige künstlerische Praxis selbst zurückwirkt, lässt sich sagen, dass die Dichtung immer wieder im vergleichenden Bezug auf die bilderzeugenden Künste ›erfunden‹ wurde und vice versa. Vergleiche zwischen einzelnen Werken der Literatur und der bildenden Kunst liegen schließlich schon deshalb nahe, weil sich beide vielfach gleichartigen Themen, Gegenständen und Stoffen widmen, sich auf einen gemeinsamen Fundus von Mythen, Fabeln und Figurentypen stützen und zusammen das Wissen ihrer Zeit über den Menschen und die Welt modellieren.

Ein weites Forschungsfeld erschließt sich über die Frage nach strukturellen Analogien zwischen Werken der bildenden und der Sprachkunst – etwa anlässlich von Bildern oder Bildfolgen, die etwas erzählen, von Texten, die sprachliche Pendants zu malerischen Tableaus oder fotografischen Schnappschüssen bieten wollen, von Spielformen ›dramatischer‹ Bildgestaltung oder von Beispielen ›arabesker‹ Textgestaltung.

Wechselseitige Einflüsse zwischen bildender Kunst und Literatur sind sowohl für die konkrete Gestaltung vieler Einzelwerke konstitutiv als auch für die sich in ihnen manifestierende Auffassung des dargestellten Gegenstands. Landschaftsmalerei und Landschaftsdichtung beeinflussen einander wechselseitig. Weitere Korrespondenzen bestehen zwischen der Geschichte des Porträts und der Geschichte literarischer Darstellungsformen von Sub- jektivität, zwischen der Darstellung von Innenräumen in Kunst und in Literatur, aber auch unabhängig von spezifischen Gegenstandstypen zwischen beiderseitigen Techniken der Perspektivierung, Fragmentierung etc. Aus der Perspektive einer kontextorientierten Literaturwissenschaft, die es als ihre Aufgabe begreift, »Literatur in einen signifikanten Bezug zu anderen kulturellen Objektivationen zu stellen und deren Austausch- und Interdependenzverhältnis zu fokussieren« (vgl. dazu Gymnich u. a. 2006, 7) ergeben sich gerade aus der vergleichenden Betrachtung literarischer und bildkünstlerischer Werke signifikante Fragestellungen und Befunde. [...]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.