Das religiöse Bewußtsein des Expressionismus

1919 (Dokument 63)

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Eckart von Sydow: Das religiöse Bewußtsein des Expressionismus. In: Neue Blätter für Kunst und Dichtung 1 (1918/19), Januar, S. 193-194, 199.

Die geistige Revolution Mittel-Europas, welche den Namen des »Expressionismus« führt, scheint auch die religiösen Tendenzen wieder neu erkräftigen zu wollen. Es ist dies ganz besonders überraschend; denn: hatte nicht Nietzsche als größtes Verdienst dies gewonnen, daß er den Gott getötet hatte? Und nun regen sich, zum mindesten in den verschiedenen Bekenntnissen expressionistischer Führer, »atavistische« religiöse Neigungen in ganz unzweideutiger Art. So hat Franz Marc als das Problem seiner Generation »die mystisch-innerliche Konstruktion« bezeichnet und als das Ziel der jetzigen Moderne ganz konsequent: »durch ihre Arbeit ihrer Zeit Symbole zu schaffen, die auf die Altäre der kommenden geistigen Religion gehören und hinter denen der Erzeuger verschwindet«. Kandinsky gar redet von der »göttlichen Sprache«, die Menschen brauche, um von Menschen an Menschen gerichtet werden zu können, – von dem »Ewig-Künstlerischen«, »welches durch alle Menschen, Völker und Zeiten geht …. und als Hauptelement der Kunst keinen Raum und keine Zeit kennt«. Deutlicher noch in seiner charakteristischen Unbekümmertheit proklamiert Kasimir Edschmid die Kunst als eine »Etappe nur zwischen den Menschen und Gott«, – sie ziele über den Moment nach Ewigkeit, nach dem Einfachen, Allgemeinen, Wesentlichen; denn erst unter dem Äußeren liege das Dauernde, Ewige, – »in gesteigerter Sehnsucht Gott zu suchen, durchdringt die Schöpferkraft die Welt und steigt über sich hinaus. Das Werk …. wird der ergreifende Ausdruck der Sehnsucht der Zeit nach dem Unendlichen«.
Man hört überall in den deutschen, deutsch-russischen Erklärungen das Pathos, das aus dem Erfühlen der Ewigkeit, aus dem Willen (vor allem) zur Ewigkeit quillt. Doch ist der Sprachgebrauch, der so altertümelnd den Namen Gottes verwendet, äußerlicher als man zunächst glauben möchte. Denn das Wesentliche, was die moderne Kunst aus der christlichen Mythologie übernommen hat, ist nicht der Gedanke des transzendenten, persönlichen Gottes, den eine Kluft vom Menschlichen und Weltlichen trennt, sondern die Konzeption des Erz-Engels. Kaum ein einziger Lyriker wagt den Namen Jehovas zu nennen; wie in alttestamentarischer Scheu hält hier die Sprache und die Vorstellung inne. Nur der Engel tritt im Strahlenglanze seines Lebens auf. Denn der moderne Mensch ist zu selbstbewußt geworden, als daß er eine ewige Wirklichkeit jenseits der Sterne über sich dulden könnte. Auch als religiöser Mensch, – gerade als Religiöser, – steht er zwar der Ewigkeit nahe, aber doch auch wiederum fern; – gerade nämlich in jenem Punkte steht sein innerstes Lebensgefühl und Wollen, wo die Wirklichkeit entspringt aus dem Absoluten, – gerade in jener Schicht, in welcher sich die Schale der Wirklichkeit anschmiegt an den Kern der Ewigkeit, Göttlichkeit. Hierfür ist Symbol der Engel: der ist nicht identisch mit der Ewigkeit Gottes, sondern nur ihr Werkzeug; er ist nicht identisch mit der rastlos fließenden Momentaneität des Augenblicks der Menschlichkeit, sondern nur deren idealisiertes Ähnlichkeitsbild. So ist er rastloser Bote aus dem Jenseits in unsere Welt, Mittler (im eigentlichsten Sinne) zwischen Mensch und Gott, der wahrhafte Übermensch und Untergott. So schwebt er inmitten der ungeheuren und doch stetig von ihm durchflogenen Kluft, die Gott vom Menschen trennt, – aber dem Schöpfer doch irgendwie näher als dem Menschen.
Dies Symbol der Ewigkeit, vielmehr des Hinweises aus der Ewigkeit ins Vergängliche und aus dem Vergänglichen ins Ewige, ist höchst bemerkenswert. Denn würde der Name Jehovas zum Kristallisationspunkt unserer Religiosität, so wäre nicht Mystik, sondern Ekstatik unser religiöses Teil; nunmehr aber ist es die Mystik, der wir anheimgegeben sind.
Freilich einer Mystik, die wesentlich anders ist als die des Mittelalters. Denn jene alte, eigentliche Mystik wandte sich ab von der Wirklichkeit; sie fühlte, ihr Angesicht dein Gotte zugekehrt, hinter sich irgend etwas wie eine Luftleere, eine ängstigende Bosheit. Ihr Ziel war letztlich die Ekstase, die den Menschen heraushebt aus der Umwelt, aus der Einheit auch mit den Mitmenschen. Denn mag sie auch noch so sehr voll wirbelvoller Lebendigkeit stecken, sie hat als Sinn doch das restlose Eins-Sein mit jenem Gute, das nicht von dieser Welt ist: das völlige Leben im himmlischen Jerusalem, über dessen Eingangstore der Verheißungsspruch steht: »Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes!«
Man mag über diesen Satz denken wie man will – (er ist die Tröstung unzähliger Mühseliger und Beladener gewesen) –, so besteht er doch heute nicht mehr in seinem alten überirdischen Glanze wie vordem. Die Ruhe ist gründlich verscheucht aus unserer modernen Welt: äußerlich durch den Kapitalismus, innerlich durch die aufpeitschende Dogmatik Nietzsches. Ihn, den Leitstern unserer jüngsten Vergangenheit, hat man in sehr unkluger Weise als den »Mörder Gottes« bezeichnet. Sehr unklug –: denn er trat dem Gotte mit offenem Visier und vor allen Völkern Europas entgegen; und sehr falsch –: weil er in Wirklichkeit gar nicht das Göttliche Wesen in seiner Totalität tötete, sondern nur sozusagen die eine seiner beiden Hälften niederschlug, um in die andere Hälfte alle Macht und Lebendigkeit hineinzupressen. Diese zweite, unendlich kräftige Hälfte der Göttlichkeit nannte er das »Leben«. Diese mythologische Gestaltung des »Lebens« gewann die wundervolle Gewalt und das unheimlich Unbezwingbare der Reden Zarathustras: den allmächtigen Überschwang der Lebendigkeit und des Willens zur Macht. Seit Nietzsche beherrscht unser Bewußtsein immer stärker der Trieb: immer weiter um uns zu greifen, immer intensiver und extensiver zu erleben. Die Beweglichkeit und Bewegtheit faszinierte unsäglich. Die Ausströmung des göttlichen Wesens usurpierte alle Energie: im Hochdruck sprühte die innerste Kraft der Welt ins Grenzenlose!
Die Tat des Kapitalismus und des Nietzschetums wirkt auch heute noch weiter. Ganz unbegreiflich wäre es ja, wie eine solche tiefstgreifende Umwälzung aller Wertungen nun etwa sich sogleich ganz anders wenden lassen sollte. Wohl ist die Ruhe wieder eines jener alten Dinge, nach denen wir Sehnsucht haben, aber wir erreichen sie noch nicht. Wie die Hände Ruderern noch zittern in der ersten Muße nach langer anstrengender Fahrt, sind so auch unsere Seelen noch tiefstbewegt von allen Zufälligkeiten der jüngst verflossenen Epoche? Doch nicht! – sondern: wie Ruderern die Hände vor Erregung zittern, wenn sie vor einem neuen Start sich auf die Ausfahrt vorbereiten? Nein, auch so nicht! – sondern: wie in einer Mischung von beidem: Rückkehr und Wieder-Ausfahrt! In dieser schwer beschreibbaren Mischung von Willen zum Ausruhen und Angespanntheit zur Weiterfahrt liegt das Eigentümliche unserer gegenwärtigen Situation, Haltung der Geistigkeit unseres Herzens und Gedankens!! Denn selbst jener Künstler, dem es noch am ehesten gelingt, aus der Vielfältigkeit der Umwelt die Geistigkeit zurückzuführen in den alleinen Ausgangspunkt der Göttlichkeit und Begrifflichkeit, – auch Schmidt-Rottluff noch steht gewissermaßen diesseits Gottes, nicht in ihm. Seine Werke tendieren immer stärker dahin: die Welt so zu geben, wie sie der göttliche Geist im Momente der Schöpfung sah, während er ihre Namen dachte und aussprach. Expressionistische Kunst ist Ausdruck der problematischen Mischung des Hinstrebens zum Göttlichen, Begrifflichen und des Willens, neu gekräftigt wieder an das Tagewerk der Zeitlichkeit zu geben.
Die heutige Religiosität der Expressionisten ist eben nicht eindeutig christlich, noch weniger freilich nietzscheanisch. Es kreuzen sich vielmehr in ihr beide Arten des religiösen Welterlebnisses. Denn nicht das ruhige Allgemeine des Absoluten, auch nicht die Ruhelosigkeit der Momentaneität herrscht in ihm. Sondern das Gesicht des modernen Menschen ist zwar wieder der dunklen Tiefe der Gottheit zugekehrt, – aber nicht so: daß er (wie der mittelalterliche Ekstatiker) im Rücken irgend eine Feindseligkeit spürte, sondern so: daß er genau weiß, hinter ihm liege eine Welt voll Glanz und Fülle, Kraft und Größe, von der er sich nur abwendet, weil es ihm notwendig und erfreulich erscheint, ältere, tieferliegende Schichten seines Wesens neu zum Leben der Gegenwart zu erwecken, – Schichten, die doch auch (wie spätere) im Feuer leidenschaftlichen Erlebens glühen sollten, doch noch erstarrten und verkrusteten. So ist der Mensch unserer Zeit gleichsam im ruhigen Fluge dem Absoluten zugewendet, um doch in irgend einer lehmbruckhaften Biegung seines Körpers, seines Halses die Bereitschaft und den Willen zu erneuerter Umkehr und vertiefterer Arbeit zu verraten.
Nicht ganz richtig ist es daher, eine starke seelische Verwandtschaft zwischen Theosophie und Expressionismus heraustüfteln zu wollen. Gewiß ist die Theosophie weniger quietistisch wie die alte Mystik, sie glaubt an eine vage Vervollkommnung des göttlichen Geists während seiner Arbeitsamkeit innerhalb der irdischen Welt, in den Masken der Einzelmenschen. Aber trotz aller Achtung vor der gegenwärtigen Lebendigkeit liegt der höchste Wert dem Theosophen doch im Kern der Welt, nicht in ihren bunten Schalen. So steht er dem Christentum näher als dem Expressionismus.
Man darf mit gewisser Einschränkung sagen: der deutsche Geist hat nun wieder den unmittelbaren Anschluß an die Weltseele gefunden wie in den Tagen des Mittelalters, und zugleich das Bewußtsein für die Berechtigung der Existenz überhaupt, wie zu den Zeiten Goethes fast. Aus dieser religiösen Einstellung in die doppelte Bewußtseinrichtung: auf das Absolute und auf das Weltliche hin und zweitens aus der einfacheren Blickrichtung auf das Absolute allein, ergeben sich die zwiefachen Formungsmöglichkeiten der expressionistischen Lebendigkeit. Zwar liegt solcher Doppeltheit des Expressionismus zunächst der Lebens-Willen zur Einfachheit und Größe zugrunde: zur Größe – denn wo wäre eine Kraftquelle, die sich mit dem Absoluten vergleichen könnte? und zur Einfachheit – denn hierzu zwingt sie die Nähe des Absoluten, dessen verzehrendes Feuer nichts Raffiniertes duldet, sondern ans Primitive zurückverweist. Aber diese innerste Quelle primitiver Monumentalität kann sich in zwiefacher Richtung ein breites Flußbett bahnen. Denn einmal mag sich der Geist, zurückgewandt zum Göttlichen, so seine Welt im Kunstwerk gestalten, daß die Grundlinien allgemeiner Art immer stärker hervortreten. So formen sich dann die allgemeinen Bilder der Dinge, der Begierden, der Begriffe, der sozialen Verhältnisse: zum abstrakten Expressionismus. – Oder aber der Geist spürt den Ausstrom des Lebens aus seinem absoluten Kraftreservoir hinaus in die Einzelheiten der Wirklichkeiten. Auch diesem Expressionismus raubt die Primitivität den Willen und das Vermögen zur klaren Umschreibung der Einzelheiten der Welt: das Gegenständliche ruht auf Unendlichem, und dessen Lebensfülle überflutet den engen Raum der natürlichen Gegebenheit. Es weitet sich alles aus, wird größer, machtvoller, intensiviert sich in der Weite und berauscht sich: im ekstatischen Expressionismus. Vielleicht kann man diese zweite Art auch als »barocken Expressionismus« bezeichnen, denn gemeinsam ist ihm und dem Barock der Sinn für die Überschwänglichkeit und die unbezähmbare Glut des Herzens. Zwei Richtungen des Expressionismus (deren Analyse spätere Aufsätze gewidmet sein mögen) sollen hiermit angedeutet sein: der absolute und der ekstatische Expressionismus. Diese beiden Richtungen werden wir überall wiederfinden in unserer Gegenwartskunst: in Schmidt-Rottluff und Nolde, Werfel und Becher, Hasenclever und Kaiser. Überall aber pulsiert in überaus engen oder überaus weiten Adern das Blut der expressionistischen Primitivität und Leidenschaftlichkeit.