II.6.5 Theaterwissenschaft

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Von Christopher BalmeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christopher Balme

6.5 Theaterwissenschaft

Die Theaterwissenschaft widmet sich der Erforschung des Theaters in seinen ästhetischen, historischen, kulturellen und institutionellen Erscheinungsformen. Darüber hinaus befasst sich die Disziplin auch mit vielfältigen paratheatralen Grenzbereichen wie Performance-Kunst, Ritualen und Medienkunst, bei der der Aufführungscharakter im Vordergrund steht. In seinen Anfängen als eine Art historische Hilfsdisziplin für die jeweiligen Nationalphilologien entstanden, entwickelte das Fach recht bald eigenständige Forschungs- und Lehrperspektiven, die sich nicht mehr unter der Ägide literaturwissenschaftlicher Forschung subsumieren ließen. Diese Verselbstständigung geschah in erster Linie durch die Bestimmung der Aufführung als des zentralen Forschungsgegenstandes. Zu den wesentlichen Aufgaben der Theaterwissenschaft gehört auch die Erforschung des Musik- und Tanztheaters.

Fachgeschichtliche Entwicklung

Die Theaterwissenschaft in Deutschland verweist gewöhnlich auf drei Gründerpersönlichkeiten: Max Herrmann (1865–1942) in Berlin, Artur Kutscher (1878–1960) in München und Carl Niessen (1890–1969) in Köln. Obwohl sie alle in Literaturgeschichte habilitiert hatten, bestand ihr gemeinsames Bemühen darin, das Fach von der ›Tyrannei der Philologie‹ zu befreien und ihm eine eigenständige wissenschaftliche Legitimation zu geben. Für Herrmann lag der Schwerpunkt theaterwissenschaftlicher Forschung auf europäischer Theatergeschichte, Kutscher und Niessen beschritten einen völlig anderen Weg, indem sie die kulturelle Grunddisposition theatralen Verhaltens erforschten. Die institutionelle Geschichte des Fachs im deutschsprachigen Raum beginnt mit der Gründung des ersten selbstständigen theaterwissenschaftlichen Instituts 1923 in Berlin unter der Leitung von Max Herrmann. Zwar gab es schon seit Ende des 19. Jh.s eine Theatergeschichtsforschung, allerdings noch ohne universitäre Verankerung in Form eines entsprechenden Instituts. Ab der Jahrhundertwende fanden theatergeschichtliche Vorlesungen im Rahmen der Literaturwissenschaft statt, u. a. von Herrmann in Berlin, Hugo Dinger in Jena, Berthold Litzmann in Bonn, Albert Köster in Leipzig und Artur Kutscher in München. 1902 wurde unter Mitwirkung von Herrmann die Gesellschaft für Theatergeschichte e.V. in Berlin gegründet, die mit der bis heute bestehenden Publikationsreihe »Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte« an die Öffentlichkeit trat.

Mit der Gründung des Berliner Instituts im Jahr 1923 entwarf Herrmann eine Theaterwissenschaft, die über die reine Theatergeschichtsforschung hinausging. 1920 skizzierte er in einem Referat anlässlich der Bildung eines Fördervereins für Theaterwissenschaft Grundsätze, die das neue Fach prägen sollten. Geschichte und Gegenwart, Wissenschaft und Praxis sollten nach Herrmanns Ansatz in einer wechselseitigen Beziehung eng miteinander verbunden sein: »Theaterwissenschaft ist lebendige Belehrung aus der Vergangenheit verknüpft mit der Lehre von dem heutigen Theater«, schreibt Herrmann (1981, 18), obwohl zu seiner Zeit eine solche Wechselbeziehung keinesfalls selbstverständlich war. Für benachbarte Disziplinen, wie die Literatur- oder Kunstwissenschaft, die sich in den seltensten Fällen mit der zeitgenössischen Kunst- bzw. Literaturproduktion auseinandersetzten, war eine solche Beziehung zur Gegenwart undenkbar. Die von Herrmann geforderte Verknüpfung von Geschichte und Gegenwart in Forschung und Lehre ist bis heute ein besonderes Merkmal der Theaterwissenschaft geblieben.

In dem genannten Referat plädiert Herrmann auch für eine Erweiterung des Forschungshorizontes über die Aufführung hinaus. Die Wissenschaft des Theaters umfasse viel mehr als nur die Aufführung von Dramentexten, denn Theater sei ein soziales Spiel. Für Herrmann rückt der Zuschauer als entscheidende Komponente bei der Konstituierung von Theater in den Mittelpunkt: »Das Publikum ist als mitspielender Faktor betei- ligt. Das Publikum ist sozusagen Schöpfer der Theaterkunst. « (Ebd., 19) [...]

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