II.6.12 Sozialwissenschaften

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6.12 Sozialwissenschaften

Literatursoziologie

Die Beziehungsgeschichte von Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften lässt sich seit der Ausdifferenzierung beider Disziplinen im 19. Jh. als Geschichte sich verändernder Grenzziehungen zwischen ihren Gegenstandsbereichen und des damit verbundenen Themen-, später auch Theorieund Methodentransfers v.a. aus den Sozialwissenschaften in die Literaturwissenschaft beschreiben. Die Entwicklung interdisziplinärer Bezüge fällt zwar über weite Strecken mit der Entstehung von ›Literatursoziologie‹ zusammen, geht aber nicht vollständig in deren Geschichte auf. Fachinterne Bedingungen auf beiden Seiten, die einen weitreichenden und intensivierten Theorieimport begünstigen, scheinen vielmehr erst ab dem zweiten Drittel des 20. Jh.s gegeben, als nicht mehr der Bezug auf ›Gesellschaft‹, sondern der Bezug auf soziologische Theorie in den Vordergrund tritt und »als Kriterium für Literatursoziologie«fungiert.

Kulturkritische Annahmen über die Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft werden allerdings bereits vor der akademischen Institutionalisierung von Literatur- und Sozialwissenschaften formuliert – z. B. von Jean-Jacques Rousseau oder im Rahmen der optimistischen, moraldidaktischen Wirkungspoetiken und ästhetischen Erziehungsprogramme des 18. Jh.s von Gottsched über Lessing bis zu Schiller. Im 19. Jh. dominiert zunächst im Anschluss an die positivistische Soziologie von Auguste Comte die Beschreibung der vielfältigen Relationen zwischen den Künsten einerseits und den gesellschaftlichen Faktoren ihrer Produktion und Rezeption andererseits. Die damit eröffneten Erklärungs- und Deu- unterschietungsperspektiven werden in Deutschland zwar insgesamt verspätet rezipiert, vereinzelt aber von positivistischen Literaturwissenschaftlern vertreten. So unterscheidet Wilhelm Scherer (Poetik, 1888) Produktions- und Rezeptionsfaktoren und betont den Warencharakter des ›poetischen Produkts‹ und seinen ›Tauschwert‹ im ›literarischen Verkehr‹. Außerdem formulieren v.a. die Vertreter einer materialistischen Kunsttheorie in Frankreich unter sozialistischen und marxistischen Vorzeichen erneut normative Positionen, wenn sie die Inhalte und Formen ›realistischer‹ Kunst und Literatur auf kritisch zu beschreibende oder prospektiv zu entwerfende Gesellschaftszustände verpflichten.

Schon 1909 kritisiert Georg Lukács (im Vorwort zu seiner Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas) die platten Mimesis-Postulate einer marxistischen Basis-Überbau-Soziologie von Kunst und Literatur, die »in den künstlerischen Schöpfungen die Inhalte sucht […] und zwischen ihnen und bestimmten wirtschaftlichen Verhältnissen eine gerade Linie ziehen will«. Er begreift stattdessen die ›Form‹ als die eigentlich ›soziale‹ Komponente von Literatur und als Movens ihrer Entwicklungs- und Wirkungsgeschichte. Auch wo Lukács später das Erklärungspotenzial marxistischer Geschichtsphilosophie stärker nutzt, vermeidet er kurzschlüssige inhaltliche Zurechnungen sozialer und ökonomischer Verhältnisse auf Literatur, überwindet dadurch die Inhaltsfixierung literatursoziologischer Interpretation und erweitert deren Zuständigkeit um ästhetisch höher bewertete, weniger stoffabhängige Gattungen und Genres. Von Literatursoziologie im engeren Sinn kann allerdings kaum vor Erich Kohn-Bramstedt die Rede sein. Dessen zusammenfassende Systematisierung der bis 1931 vorliegenden Ansätze hebt neben Franz Mehrings Beiträgen zu einer marxistisch fundierten, materialistischen Sozialgeschichte der Literatur insbesondere Levin Ludwig Schückings historische Sozio logie des literarischen ›Geschmacks‹ hervor und definiert als Gegenstand der Literatursoziologie Dichter, Werk und Publikum, also »den gesamten Wirkungszusammenhang von literarischer Produktion und Rezeption auf dem Hintergrund der Gesellschaft«. Eine Synthese werk-, autor- und distributionssoziologischer Erkenntnisinteressen, die sich an der Geschichte des literarischen Publikums, an Prozessen der Gruppen- und Schulenbildung und an einer Typologie unterschiedlicher ›Geschmacksträger‹ orientiert, entwirft erstmals L. L. Schücking und opfert damit zugleich das Konstrukt eines epochen-einheitlichen ›Zeitgeistes‹ soziologischer Differenzierung. […]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.