Ein ungewöhnlicher Fall

Das literarische Talent ist nicht eine wunderliche Pflanze, die plötzlich aus geheimnisvollen Gründen erblüht, später aus ebenso unerklärlichen Gründen verdorrt und sich nach einiger Zeit höchst unerwartet abermals entfaltet. Wie alle Menschen, ist natürlich auch der Schriftsteller den Einflüssen seiner Umwelt ausgesetzt. Hierbei haben wir es – abgesehen von den ästhetischen, philosophischen und literarischen Einflüssen – vor allem mit zwei verschiedenen, wenn auch keineswegs voneinander unabhängigen Formen der Einwirkung zu tun.

Einerseits sind die allgemeinen gesellschaftlichen, politischen, historischen und kulturpolitischen Verhältnisse Faktoren, die den Entwicklungsweg eines jeden Schriftstellers auf mehr oder weniger sichtbare Weise erleichtern oder erschweren, beschleunigen oder hemmen, in diese oder jene Richtung schieben. Andererseits übt die unmittelbare Reaktion auf das Werk eines Schriftstellers – Publikumserfolg, Pressekritik, Literaturpreise und so weiter – einen gewissen Einfluss auf seine weiteren Bemühungen aus, und zwar nicht nur auf die Wahl der Stoffe und Probleme, sondern, in vielen Fällen, auch der Formen und Stile. Diese unmittelbare Reaktion tritt übrigens immer ein, sie ist also, paradox ausgedrückt, auch dann vorhanden, wenn sie nicht vorhanden ist – etwa wenn Publikum und Presse ein Buch gänzlich ignorieren. Nichts klingt in den Ohren des Autors so schrill wie das Schweigen der Kritik, kein Echo ist auch ein Echo.

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Aus Marcel Reich-Ranicki: Wolfgang Koeppen. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2016 (Sonderausgabe von literaturkritik.de)