Wahrheit, weil Dichtung

Die Frage, wozu wir die Dichtung brauchen, wird mit Vorliebe dann gestellt, wenn wir nicht ganz sicher sind, ob wir eine zeitgenössische Literatur überhaupt noch haben. Daher scheint diese unbequeme Frage bei uns seit mindestens zehn Jahren dringlicher denn je. Aber sie ist uralt, vermutlich kaum jünger als die Literatur selber. Gleichwohl muß diese Frage stets wiederholt werden, sie darf schon deshalb nie in Vergessenheit geraten, weil der Zweifel an der Nützlichkeit, ja sogar an der Notwendigkeit der Literatur ihr nie geschadet und häufig geholfen hat. Diesem Ast bekommt es gut, wenn man an ihm sägt: Die Diskussion um den Sinn und den Zweck der Literatur trägt oft zu einem Klima bei, das die Entstehung neuer literarischer Werke anregt und begünstigt.

Dabei ist offenbar belanglos, daß diese Diskussion noch nie zu einem rechten Ergebnis geführt hat. Denn die Frage, um die es hier geht, läßt eine abschließende Antwort gar nicht zu. Die Kunst ist engagiert und zwecklos zugleich. Sie ist nicht mehr als ein Spaß (freilich ein erhabener) und ein Spiel, dem es allerdings am tiefsten Ernst nicht mangelt. Und sie ist nicht weniger als ein Zeichen des Strebens nach Vollendung und der höchste Ausdruck aller menschlichen Bemühungen. Jener Poet, der vor Jahrtausenden kühn und, wie wir längst wissen, nicht zu Unrecht erklärte, er habe ein Monument errichtet, das dauerhafter sei als Erz, deutete den geheimsten Wunsch aller Künstler an: Nicht die Welt zu verändern (obwohl dies ein Vergnügen ist, auf das man so schnell nicht verzichtet), sondern zu schaffen, was bleibt.

... [Weiterlesen]

Aus Marcel Reich-Ranicki: Wolfgang Koeppen. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2016 (Sonderausgabe von literaturkritik.de)