Der Sprecher aller Minderheiten

Wir lesen es in Zeitungen und Zeitschriften, wir hören es im Rundfunk und im Fernsehen, es wird uns nun schon seit zehn, seit zwanzig Jahren immer wieder gesagt: Er, Wolfgang Koeppen, ist verstummt, es hat ihm die Sprache verschlagen, er kehrt dem literarischen Leben den Rücken, er entzieht sich dem ganzen Kulturbetrieb, er hat kapituliert, er ist gescheitert. Er wird, meist ehrerbietig, als der große Verweigerer, der imponierende Aussteiger apostrophiert: Koeppens Schweigen gehört zu den beliebten, den so düsteren wie unverwüstlichen Motiven unserer Feuilletons. Das alles ist in der Tat sehr interessant. Nur hat es einen Fehler: Es stimmt nicht.

Nie ist er, jedenfalls nach 1945, verstummt, nie hat er das Publizieren aufgegeben, und es ist nicht richtig, daß er sich dem Kultlirbetrieb entziehen wollte. Die gängigen und griffigen Kennmarken verfehlen das Thema: Denn wer ohnehin vop Anbeginn verurteilt und verdammt ist, kann sich schwerlich verweigern, wer sich als ausgestoßen empfindet, kann nicht mehr aussteigen. Wenn aber von einer Kapitulation gesprochen wird, dann trifft das zwar zu, doch mit Koeppens Alter hat es nichts zu tun: Schon seine Jugend stand im Zeichen der schwarzen Fahnen der Anarchie und zugleich der weißen Fahnen der Niederlage. Das ist er denn auch bis heute geblieben – ein Dichter der Niederlage, genauer: seiner Niederlage, in der wir die unsrige wiedererkennen.

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Aus Marcel Reich-Ranicki: Wolfgang Koeppen. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2016 (Sonderausgabe von literaturkritik.de)