Der empfindsame Asphaltliterat

Im Dezember 1957 reiste ich durch die Bundesrepublik. Ich war auf der Suche nach der neuen deutschen Literatur. In Hamburg, wo die Reise begann, wurde ich von einem blonden jungen Mann für den Norddeutschen Rundfunk interviewt. Nach dem Gespräch sagte er mir vertraulich, er habe schon zwei, ja sogar drei „Büchlein“ veröffentlicht. Es war Siegfried Lenz. In Köln betreute mich Heinrich Böll, der etwas enttäuscht war, daß ich den Dom besichtigen wollte, wo doch in Köln andere, kleinere katholische Kirchen wichtiger seien. In Frankfurt traf ich einen jungen Verlagsangestellten, der mir überaus tüchtig schien und der gleich Reklame für Hermann Hesse machte: Siegfried Unseld. In München durfte ich mich in einem Café in der Leopoldstraße mit einem Dichter unterhalten, den ich seit meiner Kindheit liebte: Erich Kästner. Er war genauso, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.

Dann aber wollte ich unbedingt Wolfgang Koeppen sehen. Ich kannte von ihm nur em einziges Buch: den Roman Der Tod in Rom. Der aber hatte es mir angetan, meine Kritik, in einer polnischen Zeitschrift gedruckt, war sehr ausführlich und des Lobes voll.[1] Nun saß ich in einem Restaurant und wartete auf den Autor dieses Romans. Er wird schon sein – dachte ich – wie seine poetische Prosa, also scharf und streng, böse und bissig, jedenfalls ziemlich aggressiv. Aber der Herr, der bald auf mich zukam, machte einen anderen Eindruck. Ich glaubte, er sei em solider Oberstudienrat, der Griechisch und Geschichte lehre, von den Schülern beiderlei Geschlechts geliebt werde und nach Feierabend an einem Buch über Perikles arbeite. Aggressiv war der Schriftsteller, mit dem ich den Abend verbrachte, am allerwenigsten, auch nicht selbstsicher, vielmehr etwas schüchtern, wenn nicht gehemmt, sehr freundlich und verbindlich, leise und liebenswürdig. Meine Fragen beantwortete er höflich und genau.

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Aus Marcel Reich-Ranicki: Wolfgang Koeppen. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2016 (Sonderausgabe von literaturkritik.de)