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literaturkritik.de » Nr. 6, Juni 2021 » Deutschsprachige Literatur

Viel Fülle in der hehren Hülle?

Axel Ruoff legt mit „Irrblock“ eine Romanmatrjoschka vor

Von Günter Helmes

Nach der Lektüre der ersten 120 Seiten, die zugleich den ersten von drei jeweils mit Paratexten von Glauber Rocha (Terra em transe), den Brüdern Grimm (Mährchen v. Fanfreluschens Haupte) und Franz Kafka (Der Jäger Gracchus) versehenen Teilen des Romans Irrblock ausmachen, bot sich eine die Satzlänge und Satzstrukturen nachahmende ‚Imitation‘ an:

Wer seine Freude an ebenso endlos wie unübersichtlich scheinenden, doch hochartifiziell gewirkten Satzkaskaden von 25 Zeilen und mehr hat, wer ein überbordendes, flirrend-nuancenreiches attributives Sprechen genießt, das obendrein aus den „Nomen“ und „Verb“ geheißenen Schatzkisten auch noch den kleinsten Edelstein herausholt und ihm seinen ihm angemessenen Platz im nicht eben selten vexierhaft wirkenden Benennungsmosaik zuweist, dabei stets darauf achtend, dass beim Durchsteigen des „Erkennen“ geheißenen Baumes zu der den erhofften Überblick gewährenden Krone keine der den Hauptstamm üppig umgebende Verästelungen unbegangen bleibt, auch wenn das die Gefahr birgt, wie ein zu nah an ein pointilistisches Gemälde herangetretener Betrachter vor lauter Punkten nicht auf den Punkt zu kommen bzw. vor lauter Ästen weder Stamm noch Krone mehr zu sehen, von Wurzeln, Standort und Umgebung ganz zu schweigen; wer zudem einen Sinn für eine zuweilen mit Märchen und mit Mythologischem antiker und späterer Zeiten und Räume gespeisten, un- oder mittelbar Typologisch-Essentielles transportierenden und oftmals allegorisch oder symbolisch dimensionierten Archaik mitbringt – die zeigt sich beispielsweise in der Benennung der Figuren, die entweder zur Ausdeutung einladende Namen wie Hermann Troll, Hugo Dunkel, Ariana, Irene Troll, Rosa oder Clemens tragen, oder namenlos, wie „der Kustos“, „der Sammler“, „der Hausmeister“ oder „der Portier“, ganz in ihrer für bestimmte Areale der Conditio humana als basal zu verstehenden Funktion aufgehen – eine Archaik, die ebenso konkret wie zeit- und ortenthoben ist und in der entfernte Zeiten und Orte auf ein synthetisches Hier und Jetzt hin zusammenschnurren; wer schließlich das Skurrile, Groteske, Orakelnde, Numinose, Labyrinthische und Kafkaeske und den auf Vagheit, auf, salopp gesagt, ‚nichts Genaues weiß man nicht‘ hinauslaufenden Wechsel von Setzung und Aufhebung und ein damit einhergehendes indirektes, Beglaubigungen und Festlegungen jedenfalls abholdes Sprechen wertschätzt, assoziativen und sich Klang- und Wortfeldern verdankenden Verkettungen den Vorzug vor argumentativ-kausal operierenden Verbindungen gibt, sich gerne von wasserfallartig herabstürzendem Lexikonwissen und kataraktisch auftretenden literarisch-kulturellen Anspielungen und Ausführungen (im Romanverlauf u.a. Paul Klee, Georg Büchner, Johann Christian Woyzeck) mitreißen lässt und dem im Übrigen Inhalt, Gehalt und ‚Botschaft‘ allemal dem opulenten ästhetischen Erlebnis, dem wonnevollen Sprach- und Bilderrausch gegenüber nachrangig sind – – – dem wird die ganz und gar außergewöhnliche, stellenweise – doch nur stellenweise! – an die Blechtrommel oder an Solenoid des grandiosen Mircea Cărtărescu erinnernde Fabuliermaschinerie Irrblock einen exquisiten, in der zeitgenössischen Literatur so selten anzutreffenden Genuss bereiten.

Ein Connaisseur der umrissenen, ungünstigstenfalls freilich blankem Manierismus und plattem L’art pour l’art anheimfallenden Art bin ich allerdings nicht, so wie Axel Ruoff – dies sei vorweggenommen – gewiss kein Autor ist, der absichtsvoll bloß um erratisch-exquisiter Sprachartistik willen schriebe und der nichts ‚zu sagen‘ hätte, nichts ‚zu sagen‘ wünschte. Von daher waren es einige Sachverhalte, eine Figur insbesondere und einige bis dahin allenfalls angerissene Themen, die mich veranlasst haben, nach den ersten 120 Seiten bzw. dem ersten Teil trotz einer so empfundenen inhaltlich-erzählerischen ‚Anämie‘ und ‚Flüchtigkeit‘ sowie in gewisser Weise ‚drohender‘ weiterer 250 Seiten weiterzulesen.

Sachverhalte: Es geht – vordergründig – um einen „gewaltigen Steinsbrocken“, einen „Irrblock“, der, von einer omnipotenten, dramatisch wuchernden Flechtenart auf die Gefahr baldiger Zersetzung hin überwuchert, in einem „zum eigentlichen Herzen“ erklärten Außenverschlag eines in jeder Hinsicht opak-chaotischen, einer Gothic Novel gut zu Gesicht stehenden Museums lagert. In diesem Museum, einem „Kuriositätenkabinett“ in einer eine lange Zeit nicht zu identifizierenden mitteleuropäischen Großstadt – es handelt sich um Berlin, das Museumsgebäude wurde früher als Frauengefängnis genutzt, dessen prominenteste Insassin Rosa Luxemburg war –, hat ein anonym bleibender, von Gerüchten umwobener „Sammler“ vorwiegend menschliche Köpfe und Schädel aller nur denkbaren Art und Herkunft zusammengetragen. Dabei ist, so der „ortskundige[], historisch gebildete[] Rentner“ Hugo Dunkel, ein „Kadaver-Multi-Kulti“ entstanden – Dunkel wird im Romanverlauf noch eine Reihe weiterer erhellender Kommentare abgeben.

Dann geht es um den in „entwurzelte[r] Unwissenheit“ lebenden, „wie Kaspar Hauser in der Gegenwart sitzenden“ Gärtnergehilfen Hermann Troll. Dessen „besessen“ und wie von einem „Sünder in der Hölle“ wahrgenommene, doch unlösbare Aufgabe besteht darin, den „Irrblock“ erkennbar zu machen, zumindest aber die bedrohliche Flechte zurückzuschneiden und unter Kontrolle zu halten. Mit Hermann, der den Eindruck hat, „dass er vom Erkennen der eigentlichen Vorgänge und Zusammenhänge ausgeschlossen sei, in denen er dennoch zappele und die die Sammlung vorsätzlich vertusche“, kommen ansatzweise so unterschiedliche Themen wie Kindheit, Abenteuer- und Entdeckerliteratur, Schule, Schwarze Pädagogik, soziale Deklassierung und Diskriminierung, Hochsprache und Dialekt, „Ausländer“, Exotismus, Sprechen und (Recht-)Schreiben, Geschichte des Kolonialismus im Allgemeinen und deutsche Kolonialgeschichte im Besonderen sowie ganz allgemein Geschichte ins Spiel. Zusammen gehören diese Themen insofern, als sie von Unterdrückung und Ausgrenzung sowie von – träumerischer – Rebellion dagegen handeln.

Wichtiger noch für den Romanverlauf und -gehalt als Hermann Troll ist dessen großartig entworfene Mutter Irene, eine bizarre, in ihrer mäeutischen Funktion beispielsweise an den Trommler Oskar Matzerath erinnernde, doch darin u.a. dem Autor gleichende Figur, dass es ihrem „Redestrudel“ bzw. ihr selbst wie eine „sinnlose Beschränkung“ vorgekommen wäre, „bei einer Sache zu bleiben“. Irene – aufdringlich, dreist und schamlos und Gott sei Dank, ist man versucht zu sagen, um des schonungslosen Aufdeckens willen zusehends ohne Selbstkontrolle – kennzeichnet sympathischerweise wie nichts sonst „Widerspruchswut“ und Abscheu vor „Denk- und Gefühlsfaulheiten“. Sie heilt durch „Zerlegen und Sezieren“, kann nichts unkommentiert lassen, ekelt sich vor „verstümmelnden Eindeutigkeiten“, langweilt sich bei „eindimensionale[m] Sprechen“ und „klare[n] Machtverhältnisse[n]“, redet ohne Unterlass in „Vorläufigkeiten und Eventualitäten“, „übt sich in der Zersetzungskunst der Sprache“, „droht[], sich in einem rauschhaften Gefühl der Allverbundenheit aufzulösen“ usw. usf.

Irene ist es zuschreiben, dass der im ersten Teil an magisch-realistische Literatur erinnernde Roman in den nachfolgenden, knapp 100 und gut 150 Seiten langen Teilen dem ‚fact-dropping‘ nach zusehends historisch konkreter und kleinteiliger wird und sich als Familien- bzw. Generationenroman und dann als politischer Roman entpuppt. Über die von Irene erinnerten Großeltern und Eltern geraten weitere Themen wie Kaiserreich, Freikorps in der Weimarer Republik, Wissenschaft und Drittes Reich, Erziehung, Pflicht und Neigung, Zweiter Weltkrieg, Bombenhagel und Flucht, Entnazifizierung, Wiederaufbau und Wirtschaftswunder sowie Geschichtsunterricht in den Blick. Dabei stellt sich allerdings immer wieder die Frage, was an ihren von Hermann ganz zu Recht als unbefriedigend empfundenen „Anekdoten, Familiengeschichten, kurzatmigen Beschreibungen und Andeutungen“ anderenorts noch nicht erzählt oder dramatisiert worden wäre. Da diese von ihr zudem „mit Zeitsprüngen ohne Zusammenhang und Erklärung“ präsentiert werden, bleibt es dem Leser anheimgestellt, entsprechende Fäden zu knüpfen.

Beim Anfertigen dieser auf Bedeutung und Sinn abzielenden historischen Tapisserie soll dem Leser angesichts ausbleibender Kommentare des Autors bzw. einer Erzählinstanz offensichtlich der dritte Romanteil als ‚Handbuch‘ dienen. In dem schlüpft die am Ende delirierende Irene aus selbsttherapeutischen und, in Stellvertretung, aus gesellschaftstherapeutischen Gründen „[t]äglich“ in unterschiedlichste „andere Menschen und Rollen“, damit ein Erkennen und kritisches Annehmen der Vergangenheit gelinge. Als „Jägerin Gracchus“ tritt sie dabei immer wieder als die große Humanistin und Sozialistin Rosa Luxemburg auf. Deren Leben, Denken und (Nach-)Wirken bildet auch sonst das Zentrum des dritten Romanteils. Als prominentes Opfer deutscher Geschichte einerseits und Vordenkerin und Vorlebende möglicher Alternativen andererseits steht sie nicht nur gleichermaßen für Schuld, Versäumnis und utopischen Vorschein, sondern auch in unmittelbarer Beziehung zum titelgebenden Irrblock.

Unterm Strich kann man vor diesem Hintergrund in Irrblock das kühn konzipierte, doch durch zu viel und sperrig geladene Fracht im Tunnel stecken gebliebene Unterfangen sehen, eine allerdings mehr als irrblockartig groß geratene, in der Art einer Superflechte sprachlich wuchernde Parabel insbesondere über deutsche Geschichte seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts zum einen und über prognostizierbare Zukunftsperspektiven zum anderen zu schreiben: Geschichte einerseits als offizielle, als faktisch chaotische, doch in ebenso ausgetretenen wie dubiosen Kultur‚räumlichkeiten‘ und -praktiken einschüchternde, Ordnung vorgaukelnde und nur dem flanierenden Anschauen, doch nicht dem handlungsrelevanten ‚Lernen‘ gewidmete Ansammlung von Gewalthandlungen – das auch „Rumpelkammer deutscher Geschichte“ genannte Kopfmuseum; Geschichte andererseits als verborgenes, ausgelagertes und marginalisiertes Geschehen, dem Denken und Handeln zuträglicher, aber auch unguter Art, das unaufhörlich von Verschweigen, Verdrängen, Verhüllen, Unkenntlichmachung, Verfälschung und Auflösung überwuchert zu werden droht – der „an verheißungsvollen Tagen […] wie rohes Fleisch“ aussehende Irrblock.

Und die Zukunft? Die wäre wohl in der dem Museumsgelände benachbarten Verkehrsschule zu sehen, die Kinder zwar zu „Selbstkontrolle und Disziplin“ erzieht, aber deren „sicher und vernünftig“ eingerichteter, weder mit Unvernunft noch mit Gefahr noch mit Sanktionen aufwartender Übungsplatz „rührend unwirklich“ aussieht. Kann diese Zukunft wenn schon nicht in der Gegenwart, so doch wenigstens in der Vergangenheit, in der Auseinandersetzung mit museal Präsentiertem doch sinnhaft allererst zu Ordnendem und mit so oder so unterschlagener Geschichte Orientierung finden? Das Museumsgelände und das der Verkehrsschule, so die nicht gerade ermutigende Antwort, sind, obwohl einstmals zusammengehörig, mittlerweile so radikal voreinander geschieden, dass sie wie zwei Räume aus gänzlich anderen Welten wirken.

Titelbild

Axel Ruoff: Irrblock.
Bibliothek der Provinz, Weitra 2020.
376 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783990289792

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Stand: 26.05.2021 - 10:15:42
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