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Die Mittellosen

Roman

Von Szilard Borbély


Justus Makollus schrieb uns am 14.06.2017
Thema: Szilard Borbély: Die Mittellosen

Mit seinem Romandebüt "Die Mittellosen. Ist der Messias schon weg?" legte der ungarische Autor Szilárd Borbély eine, wie er selbst im Anhang schreibt, "eingeschränkte[...] Fiktion" vor, einen Hybriden, bestehend aus realen Kindheitserinnerungen und erdachter Handlung.
In vielen kleinen Szenen, die mehr oder weniger thematisch und zeitlich miteinander verwoben sind, schildert der Erzähler, ein Junge von unbestimmten Alter, den Alltag in einem ungarischen Dorf am Ende der 1960er Jahre. In einer sprachlichen Diktion, die von unendlicher Zerbrechlichkeit und Sensibilität geprägt ist, öffnet sich dem Leser eine Welt, die zwischen Jahrhunderte alter Tradition und den Umwälzungen der kommunistischen Revolution zerrissen wird. Der Junge und seine Geschwister leben in einer Dorfgemeinschaft, die die Eltern der Kinder nicht akzeptiert, da diese "Zugezogene" sind und darüber hinaus Nachfahren von Großbauern, sog. Kulaken. Das Dorf lebt in der abgeschotteten Welt seiner eigenen Ideale und Geschwindigkeit und lehnt Veränderungen jeglicher Art strikt ab. Individuen werden nicht geduldet und ausgegrenzt, so geschehen mit den im Dorf lebenden Juden Ende 1944, so geschehen mit der Familie des Erzählers, die sich in einer sozialen Position zwischen dem Dorfkern und den Zigeunern am Dorfrand befinden. So auch geschehen mit dem Erzähler, der keinen Anschluss findet und von den anderen Kindern geschlagen und als "Jude" beschimpft wird, da das Fremde, das Unbekannte und non-konformistische Wesen der Familie eine Zuschreibung braucht, um im Kosmos der Dorfbewohner einen Platz zugewiesen zu bekommen.
Die Geschichte stellt zwei Entwürfe des Zusammenlebens antagonistisch gegenüber: zum einen die Individualität, die Einzigartigkeit des Menschen, die Freiheit der Gedanken und des Handelns. Den Wunsch nach Progression und Wandel. Auf der anderen Seite Angepasstheit, Konformismus und Verlust der Souveränität: alle Frauen sind Hausfrauen und Mütter, alle Männer arbeiten und gehen nach der Arbeit geschlossen in die nächste Kneipe. Wer sich dieser Uniformität zu entziehen versucht, wird gnadenlos ausgestoßen.
Das Plus des Textes, der dem Leser ein bedrücktes Gefühl der Empathie für den Erzähler beschert, liegt aber darin, dass er ohne jede Emphase auskommt; beinahe neutral gehalten und nur mit pointierten Parteinahmen des Erzählers versehen, legt "Die Mittellosen. Ist der Messias schon weg?" das Schicksal einer Familie dar, dass sich mühelos reproduzieren und auf andere Orte und Zeiten übertragen lässt. Im Anhang des Haupttextes, der von einem kurzen, mit "Verlorene Sprache" übertitelten Kommentar des Autors beginnt, spricht dieser von dem 'Wunsch, der Frage nachzugehen, wann er den Kontakt zu seinen Eltern, zu seiner Kindheit und den gemeinsamen Erinnerungen verloren hat. Und schlussfolgert, dass zu einer vollständigen Integration immer der Verrat an der eigenen Vergangenheit gehört:

"Die Migranten der ersten Generation tun alles, um die Vergangenheit zu vergessen, das Milieu, die Sprache, den Ort, den sie verlassen und den sie vergessen müssen, um erfolgreiche Migranten sein zu können. Auch das Band des Heimwehs und der Nostalgie müssen sie schonungslos zerschneiden, sonst gelingt der Versuch nicht. [...] In der zweiten Generation aber schlägt all das zurück, kommt das Geheimnis ans Licht. Denn ein Geheimnis zu haben, ist kein Segen, sagt der Talmud."

Das Leben in Freiheit hat seinen Preis, doch dafür einzustehen und zu kämpfen, erfordert mehr Mut und Entschlossenheit, als sich zu fügen und den eisernen Regeln einer hermetisch abgeriegelten Gemeinschaft unterzuordnen. Insofern ist dieses Buch ein Appell an die Freiheit und ein Zeugnis einer Generation, die mit den damit verbundenen Opfern wie keine andere umzugehen gezwungen war und ist.

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