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Auerhaus

Roman

Von Bov Bjerg


Manfred Gessat schrieb uns am 03.10.2017
Thema: Bov Bjerg: Auerhaus

Was ich von der Geschichte des
armen Werthers nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt, und leg es euch hier vor, und weis, daß ihr mir`s danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, und
seinem Schicksaale eure Thränen nicht versagen.

Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund seyn, wenn du aus
Geschick oder eigner Schuld keinen nähern finden kannst.
WERTHER, Vorrede






Ich fand das ganze Buch langweilig.
AUERHAUS, Höppner



WERTHER im AUERHAUS
Eine Lesehilfe für Erwachsene

immer mal weg!

Höppner war immer mal für ein paar Tage weg*. Aber dieses mal war etwas anders.  Auch Frieder wäre in der Zwischenzeit fast "weg" gewesen, hätte ihn sein Vater nicht gera-de rechtzeitig gefunden.

Kein schlechter Romananfang: Zweierlei "weg". Der Kurztrip und der Tod. Der Roman-einfall wird auch nicht dadurch schlechter, dass wir ihn seit WERTHER kennen. Wie froh bin ich, daß ich weg bin! beginnt Goethes Briefroman, das düstere Ende schon im ersten Satz vorweg nehmend. Wir werden noch sehen, wie extensiv sich Bjerg der Vorlage be-dient; hier beachte man den Tonfall:

Jedenfalls, als die Sache passierte, da war ich gar nicht da. Und hatte auch nichts mitbekommen, logisch.

Präziser hätte es selbst Goethe nicht sagen können. Auch er war ja immer mal weg. Als die Wetzlarer Katastrophe (1) passierte, war er bereits seit sieben Wochen wieder unter-wegs. Deshalb hatte er auch vom Selbstmord seines entfernten Jurakollegen Karl Wilhelm Jerusalem nichts mitbekommen. Logisch. Aber über die genauen Umstände des Todes ließ sich Goethe brieflich genauestens unterrichten.

Jerusalems Vater war ein hoch angesehener Theologe. Beide waren mit Lessing befreun-det. Der Sohn hatte sich in einem demütigenden Streit mit einem kleinlichen Vorgesetzten verkämpft, hinzu kam die nicht erwiderte Liebe zu einer verheirateten Frau. Sein Schicksal  und die eigenen Erlebnisse in Wetzlar verarbeitete Goethe zwei Jahre später in „Die Lei-den des jungen Werthers“; ein Briefroman, ein Geniestreich, Weltliteratur.

mäandern

WERTHER und AUERHAUS (2) stehen in engem Verhältnis. In Hinsicht auf "Adoleszens-literatur" kann das eigentlich nicht überraschen. Die „Wertherzeit“ ist menschentypisch, vergleichbar dem Ödipuskomplex. Jeder junge Mensch hat damit irgendwann irgendwie zu tun (3). Greift sich ein Autor das Thema, steht er automatisch im Banne des WERTHER.


* Zur besseren Lesbarkeit sind alle AUERHAUS-Zitate fett, alle WERTHER-Zitate fett und kursiv gedruckt. Alle Zitate aus Die Leiden des jungen Werthers stammen aus der Erstfassung von 1774, bzw. den Ergänzungen von 1887, ein-schließlich Goethes orginaler Orthographie und Grammatik, die sich offenkundig mehr den Ohren als den Augen ver-pflichtet fühlte. Textkorrekturen nach dem Erstdruck wurden nicht berücksichtigt. Neudruck der Texte Suhrkamp TB-Ausgabe, Frankfurt 1998

(1) Horst Flaschka, Goethes "Werther", Werkkontextuelle Deskription und Analyse, München 1987. Soweit nicht aus-drücklich vermerkt, sind alle biographischen Hinweise auf Goethe und WERTHER Flaschkas Standardwerk entnommen.

(2) Bov Bjerg, AUERHAUS, Roman, Berlin 2015. - Von mir erstmals 2015 unter Titel "Hintergründiges zu Bov Bjergs `Auerhaus` " bespochen. Beide Aufsätze ergänzen sich. Der zweite vorliegende Studie möchte die WERTHER-Themen im AUERHAUS darstellen, freilich ohne es darauf  zu reduzieren.
(3) "Es müßte schlimm sein, wenn nicht jeder einmal in seinem Leben eine Epoche haben sollte, wo ihm der `Werther` käme, als wäre er bloß für ihn geschrieben." Goethes Gespräch mit Eckermann am 2.1.1824. -  "Der Selbstmord ist ein Ereignis der menschlichen Natur, welches, mag auch darüber schon so viel gesprochen und gehandelt sein als da will,doch einen jeden Menschen zur Teilnahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder einmal verhandelt werden muß", Dichtung und Wahrheit, In: Goethes Werke, Hamburg 1964, Bd.9, S.583 ff.
Dafür bräuchte er ihn nicht einmal selber gelesen zu haben. Zu tief hat sich Goethes Erst-lingsroman in das Tableau jugendlicher Entwicklung eingraviert. Salinger, Plensdorf, Kracht, Herrndorf und Bjerg übernehmen seine Plots so selbstverständlich wie dutzend
andere zuvor. Auch das macht ihn zur Weltliteratur.

Auf welche Weise sich Bov Bjerg des WERTHER annimmt, ist allerdings so kunstreich und berührend, dass sein Roman sich interpretatorisch einige Kärrnerarbeit verdient hat.

Von einigem Interesse könnte etwa der Umstand sein, dass wir den Vornamen Werthers so wenig wie den von Höppner kennen, sich übrigens auch Goethe im Privatkreis fast aus-schließlich mit Nachnamen anreden ließ. Über Werthers und Höppners Väter wissen wir kaum mehr, als dass sie tot sind. Auch über die Mütter erfahren wir nicht übermäßig viel, aber es reicht.

Die Söhne halten sie auf emotionaler Distanz (4). Werthers Mutter verließ nach dem Tod des Mannes den bisherigen Familienwohnsitz, um sich in ihre unerträgliche Stadt ein-zusperren. Höppners Mutter ist nicht umgezogen, hat dafür aber den unerträglichen F2M2 geheiratet, dem die Wohnung nicht eng genug sein kann. Andererseits arbeitet sie für ihre Kinder bis zum Umfallen, ist fürsorglich und lässt viel mit sich machen; wohin gegen Wer-thers Mutter  sich um die Karriere ihres Sohnes sorgt und ihn gern in Aktivität gehabt hät-te. Was aber aus Goethes, bzw. Werthers offiziellen Ambitionen in Wetzlar (Studium, Be-ruf, Familie) wurde, ähnelt wiederum Höppner; es blieb beim Herumeiern!

Höppner interessiert sich für Sachbücher, keine Romane. Ob er damit wirklich der ideale Chronist für Frieders letzte Lebensmonate ist, haben wir nicht zu entscheiden. Jedenfalls pflegt er wie der (fiktive) Herausgeber des WERTHER eine zumeist nüchtern-distanzierte Prosa, selbst wenn er sich am Ende die Thränen nicht versagen kann. Gewissenhaft wertet er alle aufgefundenen Zettel im Auerhaus aus, als sei es ihm ebenfalls ein beson-deres Anliegen, auch das kleinste aufgefundene Blättchen nicht zu gering zu achten. (5)

Seine profane Ausrichtung führt Höppner - romanhaft verwirrend -  in die Nähe einer wei-
teren Person, nämlich zu Lottes Verlobtem - gleichzeitig Goethes Freund und Rivale - Johann Christian Kestner alias Werthers Freund und Rivale Albert. Von niemand anderem als diesem Kestner/Albert liehen sich - nicht weniger romanhaft verwirrend - Jerusalem/
/Werther die Pistolen zum Selbstmord und erhielt danach Goethe den sachlichen Bericht, den er - romanhaft zum Dritten - fast wortgetreu in seinen WERTHER übernahm. Soviel zur Sache.

Es deutet sich etwas an: Es könnte sich lohnen, WERTHER und AUERHAUS mäandernd zu lesen. Nicht auszuschließen, dass die vergleichende Lektüre zu interessanten Erkennt-nissen führt. Vielleicht münden sie in einen Kreis, vielleicht auch in eine Spirale.




(4) Enttäuschungen wollen sie ihnen möglichst fernhalten. Werther bittet seinen Freund, seiner Mutter dergleichen Nach-richt bei einem Säftchen mitzuteilen; Höppner verschweigt sie lieber ganz.

(5) Der fiktive Herausgeber WERTHERs tritt zum Schluss des Romans immer deutlicher in seiner Rolle als beglaubigen-de Instanz für die Echtheit der Ereignisse in Erscheinung; ähnlich Höppners Mutter, wenn sie ihrem Sohn den Zeitungs-artikel über die Narretei junger Männer vorliest.
Idyllen

Wir lebten ein richtiges Leben mit Aufstehen und Frühstückmachen und Federballspielen, mit Essen besorgen und zusammen kochen.

Immer mal weg ist nicht die ganze Lösung. Vagabunden sehnen sich gleichzeitig nach Idyllen. Höppner schaut im Fernsehen gerne Alte Filme und den ganzen Heile-Familie-
-Kram., "Ach könnte das schön sein, als friedlicher Bürger ..., ein Häuschen mit Garten ..." (6), wir kennen noch die Evergreens.

Das friedliche Landleben, die häusliche Familie, die überschaubare dörfliche Ordnung kommen in Deutschland literarisch in der zweiten Häfte des 18. Jahrhunderts so richtig in Mode. WERTHER beglückt seine Leser mit populären Plots (7):

Du kennst von Alters her meine Art, … mir an irgendeinem vertraulichen Ort, ein Hüttchen aufzu-schlagen, und mich darin zu beherbergen.

Die große Welt interessiert gerade nicht. Die Deutschen machen keine Revolution (8). Der Leser erfährt von der politischen Großwetterlage im WERTHER wie im AUERHAUS gera-de mal am Rande, wobei beide Romane sich der gleichen Technik bedienen.

Werther berichtet nach einer eher privaten als öffentlichen Demütigung in nachklingender Erregung seinem Freund: Ich wollte in den Krieg! das hat mir lange am Herzen gele-gen. Von feindlicher Bedrohung oder patriotischer Begeisterung war aber nirgendwo die Rede. Friedliches Hessen! Etwas anderes als persönliche Verärgerung und Betroffenheit möchte Werther ja auch nicht ausdrücken.

Höppner will sich um den Wehr- und Zivildienst drücken. Nach der Pfeife von irgend-welchen Spezial-Schwachmaten zu tanzen, das war nicht mein Fall. Überhaupt ist alles Scheiße. Mehr Gründe braucht es nicht. `68 ist lange her. Im kalten Krieg lässt  sich leben. Ich habe noch nie einen Toten gesehen, sagt der Zeitsoldat! Glückliche BRD! Grundlos dreht Bjerg die Zeitspirale nicht 30 Jahre zurück. AUERHAUS 2015 hätte nicht mehr funktioniert.

Sollte der Eindruck entstehen, junge Männer hätten sich in 200 Jahren kaum verändert, so widersetzen sich ihm wenigstens die Frauen:

.….so sehnt sich der unruhigste Vagabund zulezt wieder nach seinem Vaterlande, und findet er in seiner Hütte, an der Brust seiner Gattin, in dem Kreise seiner Kinder und der Geschäfte zu ihrer Er-haltung, all die Wonne, die er in der weiten öden Welt vergebens suchte.

Ich sagte: „ Wenn ich nach Berlin ziehe, besuchst du mich dann?“
Vera sagte: „Na, was denkst du denn?“
Ich: „Willst du mal Kinder?“
Vera: „Du spinnst.“

(6) Räuber-Song aus "Das Wirtshaus im Spessart", Günter Neus und Wolfgang Müller, 1958

(7) Damit beschenkt uns auch B. Bjerg. Lotte hätte es zu schätzen gewußt: Und der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wieder finde, bey dem`s zugeht wie um mich ...

(8) Das ist der Hauptgrund, warum die deutsche Hüttchenidylle so schnell peinlich wird: das notorische Schwächeln ihres Gegengewichts. Our House hatte es da leichter, die Charts zu stürmen, obwohl es sich von deutschen Sehnsüchten eigentlich nicht unterscheidet.

Bov Bjergs Vierzeiler stellt die modernen Geschlechterverhältnisse klar.

Kerker und Regeln

Familien- und Landleben als Waffe gegen höfisches Aristokratentum und städtische Ent-fremdung? Das Modell hinkte schon immer. Bornierter Eskapismus. Die sozialen Krän-kungen bleiben, selbst in der Light-Version.

Das Gymnasium für die Stadtrandkinder bekommt keinen Eigennamen, sowenig wie der Bauernsohn, der nach Kuhstall riecht. Wir nannten ihn bloß „der Bauer“. Frieder hat dafür wenigstens die historische Erklärung. Guten Abend. Ich komme geradewegs aus dem Feudalismus. Sind Sie bereits auf dem Weg in die Industriegesellschaft?

Standesmäßig zählt er sich wie Werther zu den Subalternen (8a). Doch was ist schlim-mer? Die feudale Bevormundung (9) oder das bürgerliche Regelwerk ? Birth, School, Work, Death. Ist Karriere wirklich alles? Nein! So sieht es das Auerhaus-Team, so fühlt es Werther.

Man kann zum Vortheile der Regeln viel sagen, ohngefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. ….Folgt der Mensch , so giebts einen brauchbaren jungen Menschen, nur mit seiner Liebe ist’s am Ende und wenn er ein Künstler ist, mit seiner Kunst.

"Meine Eltern sind stolz darauf, dass ich aufs Gymnasium gehe. Und wenn ich mal zum Mond fliege, sind sie auch darauf stolz. Aber sie werden es nicht verstehen." "Was?" "Wie sich die Schwerelosig-
keit anfühlt. ..."

Wer sich jung fühlt und entwickeln möchte, reibt sich an der Enge. Anders als F2M2, dem im Gegensatz dazu selbst die Zimmer zu hoch sind. Doch Höppners häusliche Rebellion dagegen – ARSCHLOCH DUMM WIE 1m FELDWEG – verschwindet hinter der Tapete.

Werther wendet sich (mit versteckten Hinweisen auf Platons Höhlengleichnis) gegen den Käfig oder Kerker, in dem er sich eingesperrt fühlt. Er gerät in Verzweiflung, wenn er sich ansieht, wie alle Würksamkeit und alles Nachforschen auf träumende Resignation hinausläuft, da man sich die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und lichten Aussichten bemahlt.- Da trifft es sich für F2M2 doch ausgespro-chen günstig, dass er bereits von Beruf Maler ist. Kein Maler, der malen konnte. ... Sondern einer, der anmalen konnte. Wände und so.

Trauerspiele

Das deutsche Trauerspiel. Wenn sich Werther erschießt, wird "Emilia Galotti" aufge-schlagen daneben liegen. WERTHER und AUERHAUS zitieren die vertrauten Muster:

Die Väter imitieren feudale Herrschaft. Die töchterliche Unschuld bringt sich um. Die Frau-en üben sich in kreativer Haushaltsführung.

Ein gutes junges Geschöpf … verlassen von aller Welt … stürzt … sich hinunter, um im Tode all ihre Quaalen zu ersticken.

Die große Schwester von Lothar…hatte sich aufgehängt. … Sie war schwanger, hieß es hinterher. Sie
wurde nicht einmal 18.

(8a) Frieder hat Erfahrungen als Omega-Wolf ."Wenn man nicht im Gehege drin ist, dann ist das interessant."

(9) Werther verkämpft sich weniger mit der feudalen Ordnung als mit ihren Bürokraten und seiner Elterngeneration.
Werther erzählt von einer braven Frau, deren Mann - ein geiziger, rangiger Hund - sie so knapp hält, dass sie ihre Familie nicht anders versorgen kann, als sich den Rest zusam-men zu stehlen, zur Not wöchentlich aus der Loosung (der Kirchenkollekte).

Knappe Budgets sind primär Frauensache. Höppners Mutter schleppt regelmäßig abge-laufene Essachen aus dem Supermarkt. Vera bringt Frieder auf die Idee, die teuren Sa-chen beim Penny zu klauen. - Aber geklaut ist selbst die Idee.

Fluchtwege

Werther flieht aus der Enge seines Lebens. Er entdeckt die paradiesische Natur, das liebe Thal; verliert sich in pantheistische Stimmungen und  am Bache liegend im Wim-meln der kleinen Welt zwischen den Halmen, armen Würmgen, Ameisen. Er genießt das einfache Landleben, einen Garten, gestaltet von einem fühlenden Herzen, und einen Kirchplatz, ringsum eingeschlossen mit Bauernhäusern, Scheuern und Höfen. So vertraulich, so heimlich ...

Das AUERHAUS hat das Paradies weit hinter sich gelassen. Das Tal wird von einer Um-gehungsstraße überspannt; der Mühlbach ist eingedolt. Als Gärten posieren Brennes-selhügel, ehemalige Misthaufen, hier und da mit Geranien bepflanzt. Der Kirchturm lugt über eine Mauer aus groben Steinen ... wie ein dicker, missgünstiger Zwerg. Gott sei Dank eingesperrt ...

Werther kennt noch einen weiteren Fluchtweg - den problematisch-deutschesten! - den Weg nach Innen; Innerlichkeit, die Einsamkeit des Herzens. Ich kehre in mich selbst zu-rück, und finde eine Welt!  

Arbeit und Karriere zählen nicht zu Werthers Fluchtwegen. Haben einen weiteren überse-hen? Wir werden es im Auge behalten.

Wie steht es nun um Höppners Alternativen? Wenn wir es richtig sehen, ist ihm nur noch eine geblieben: Berlin, Knast und Klapse in Einem.

Trittspuren

Mir war nie aufgefallen, wie ausgetreten die Treppe eigentlich war. Die Mulden im Holz, glattpoliert wie Bachkiesel.

Höppner wurde nach seinem verpatzten Abitur Treppenhausputzer, mit geschärftem Blick für Trittspuren. Im Nachhinein kündete sich seine Eignung für den Beruf bereits im Prolog des  AUERHAUSes an. Höppner war es, der auch die Spuren im Neuschnee entdeckte.

Ich erkannte Frieders frische Stiefelstempel und ging ihnen nach.

Aber warum drückt er sich denn so gestelzt aus? Stiefelstempel? Warum notiert er nicht
einfach "Fußspuren"?  

Die Antwort ist einfach, auch wenn Höppner selbst nichts davon weiß. "Stiefelstempel" ist ein Kunstwort, über das der Leser, wenn er aufpasst, gleich in den ersten Zeilen des
AUERHAUSes stolpern kann. Stiefel, zumal im Gravitationsfeld von Adoleszenz, sind untrennbar mit Werther verbunden (10).
Und Stempel? Sprachlich bilden sie den eigentlichen Fremdkörper. Sie prägen das Kunstwort; wirken selber wie in den Satz hinein gestempelt, passen eher zu Büro  und Verwaltung (11) als zum Schnee. Wir finden des Rätsels Lösung wieder im WERTHER.

Großzügig wurde der begabte Jüngling in ein fürstliches Haus eingeladen. Sein Gastgeber und Gönner suchte das Gespräch mit der Kunst, gerade weil er in Wahrheit selber nichts davon verstand. Die Situation, die sich daraus entwickelte, können wir in Werthers Briefen fast körperlich nachempfinden: wie er mit den Zähnen knirscht, wenn es der Fürst mal wieder recht gut zu machen denkt und auf des jungen Gastes warme Imagination an Natur und Kunst mit einem gestempelten Kunstworte drein tölpelt.

Daher also kommen die drein getölpelten Stiefelstempel am Beginn des AUERHAUS! Ein heimlich aus dem WERTHER entführtes Kunstwort, das Bjerg als stillen Wegweiser in seinen Roman einbaute.

Die Absätzen wiesen die Richtung. Wollen wir sie zurück verfolgen?

Der fiktive Herausgeber von Werthers Briefnachlass wollte seinen Lesern ursprünglich ebenfalls mitteilen, wodurch er angetrieben worden, den Fustapfen des unglücklichen
emsiger nachzugehen. Goethe strich später die Stelle. Aber in den Schlussszenen, im
düsteren Umfeld von Werthers Todesnähe, tauchen die Fustapfen wieder auf. Sie verlaufen und vermischen sich - wie im AUERHAUS ! - mit den Spuren des älteren Dichters und Vorgängers. Es eröffnet sich eine dichterische Kaskade!

Wenn ich ihn denn finde, den wandelnden grauen Barden, der auf der weiten Haide die Fustapfen seiner Väter sucht und ach! ihre Grabsteine findet. ... Der Wanderer wird kommen .... und fragen: Wo ist der Sänger ...? Sein Fußtritt geht über mein Grab hin und er fragt vergebens nach mir auf der Er-de.

Frieder

Der Vater hat eine warme Stimme und glaubt an die zehn Gebote. Die Mutter nimmt
Schlaftabletten. Beide machten den Darkroom zu Frieders Kinderzimmer. Seither erlebt
Frieder seine Umwelt meist hinter Glas. So ein ganz dickes Glas. Davon abgesehen, ist Frieder hochbegabt.

Nach turbulenten Monaten im AUERHAUS verlässt er als Einser-Abiturient das schwäbi-sche Bauerndorf, wird Fahrradmechaniker in einer kleinen Stadt in Hessen ohne Fuß-gängerzone (12) und begeht dort Selbstmord. Depressionen sind wie ein Fahrrad mit einem kaputten Tretlager, hatte schon Höppners Mutter erklärt. Man kommt bei allem
Strampeln doch nicht vom Fleck. (13)

Was wissen wir über Frieder hinter dem Glas? Sein Name und Talent sind ihm nur ange-


(10) Werthers unkonventioneller Tracht erreichte Kultstatus. Kestner beschreibt erstmals von Jerusalem: blauer Frack, gelbe Weste und Beinkleider, braune Stulpenstiefel. Goethe weist auf ihre Verbreitung "unter den Niederdeutschen in Nachahmung der Engländer" hin; Dichtung und Wahrheit, Werke Bd.9, Hamburger Ausgabe, München 1981. -  Die grellfarbene Outfits im AUERHAUS knüpfen an der Werther-Tracht an: Veras grüne Haare und Harrys rote Latzhose, auf der Silvesterparty noch steigerungsfähig: eine Kluft aus rote(m) Netzhemd, knallenge(n) Jeans mit abgeschnitten(en) Beinen bis hoch zum Schritt, schwarze(r) Nylon-Strumpfhose.

(11) Stempeln und Stempelkissen begegnen uns gleich wieder. Dann geht es  weniger um Fußabdrücke.

(12) Wetzlar ist eine hessische Kleinstadt bis heute ohne Fußgängerzone!

(13) Wie Frieder sich auf dem Fahrrad fortbewegt, gleicht er einem absurd große(n) Metronom.
heftet (14). Das Psychogramm erhielt er von K.W. Jerusalem(15), von Goethe die Locken.
Wenn er gekonnt hätte, hätte er so sorgenlos und draufgängerisch gelebt wie Alexis
Sorbas, der Grieche, oder sich zumindest nicht besonders viele Gedanken gemacht wie Harry, der Schwule. (16) Aber real bleibt er der Bauer mit minderen Erfolgsaussich-ten, zumal bei Mädchen. Eine aus der Zeit gefallene Protestgestalt im Geruch des niede-ren Standes. Ein bisschen Kaspar Hauser. (18)



Doppelgänger

Wenn wir Frieder zum ersten Mal begegnen, ist er bereits seit Monaten in der psychiatri-scher Klinik am der Stadtrand. Im Herbst hat er den ersten Freigang. Der Park ist regne-risch und nebelig; der Springbrunnen ... mit Brettern vernagelt, Winterstarre spürbar. Höppner träumt vom Tod. Ich will in die Stadt, sagt Frieder. Dort ist alles noch trostloser,
die Fußgängerzone … kaum auszuhalten, …statt Sitzbänken eine Betonpyramide, ... der ideale Ort für Leute mit Depressionen. Hier waren sie mit ihrer Umwelt im Einklang.

Frieders erster Gang ins Freie, unverkennbar symbolisch aufgeladen, ruft förmlich nach  mäandernder Lektüre:

Werther zieht es aus dem unangenehm engen Wetzlar in die unaussprechliche Schönheit der Natur rings umher. Eine paradiesische Frühlingslandschaft, ein Brunnen mit klarstem Wasser aus Marmor-felsen wird zum Ort der Begegnung. Werther verströmt pantheistische Träume und spürt die Gegenwart des Allmächtigen.

Frieders Laufrichtung steht in gewolltem Gegensatz zu Werthers. Es herrscht Herbst statt Frühling, nordische Todesstimmung statt südlicher Anmut. Der Brunnen ist schon zuge-
deckt, das Wasser abgestellt. Anstelle des Landlebens lockt die Stadt. Träumerische All-heit weicht dem Alptraum des Erhängtwerdens, der poetische Aufschwung dem Gleich-maß der Depression.

"Die Absätze wiesen die Richtung!"

Motivumkehrung statt Parallelführung, zugleich Verdopplung. Wie das literarisch geht, zeigt WERTHER.



(14) Zu Frieder als Meisterdieb und J.P. Hebels Zundelfrieder vgl. meinen Aufsatz "Hintergründiges ..." (s. Fußnote 2)

(15) ausführlich zu Jerusalem: Heinrich Gloël, Goethes Wetzlarer Zeit, besonders Kapitel IX; Berlin 1911; Nachdruck Wetzlar 1999. Besonders hervorzuheben: "Der Zartbesaitete ... hatte das Bedürfnis nach freundschaftlichem Verkehr, war aber so verschlossen und wählerisch, daß er nur mit wenigen befreundet war." - "Er neigte zur Melancholie und zur Vereinsamung, er entzog sich allezeit der menschlichen Gesellschaft.." - "Die Natur hatte ihm ... die `Fähigkeit zur Verstellung` versagt".- "er ging in den Tod als gequältes, nicht genügend widerstandsfähiges Menschenkind .."; mit  "übertriebenem Hang zu metaphysischen Spekulationen". " Leibnitzen`s Werke las er großem Fleiße."  Aus Lessings Nachruf stammen die ehrenden Worte: "Es war die Neigung zu deutlicher Erkenntnis; das Talent, die Wahrheit bis in ihre letzten Schlupfwinkel zu verfolgen. Es war der Geist der kalten Betrachtung. Aber ein warmer Geist, und so viel schätzbarer." (zit. aus: Philosophische Aufsätze von Karl Wilhelm Jerusalem, hrsg. von Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig 1776). - Goethe schrieb: "Der unglückliche Jerusalem! ... Gott weiß, die Einsamkeit hat sein Herz unter-graben, und - seit 7 Jahren kenn`ich die Gestalt, ich habe wenig mit ihm geredt`..." (zit. nach H. Flaschka a.a.O. Seite

(16) Immer mal wieder irren sich die Protagonisten. Das ist im AUERHAUS nicht anders als im WERTHER. Harry hat auch eine unverkennbar schwäbische Seite: "Anschaffen, das lohnt sich vielleicht noch zwei, drei Jahre. Ich muss auch an später denken."

(17) entfällt

(18) "Was macht man mit einem Raum ohne Fenster?"
Das Verdopplungsmotiv taucht dort zunächst in Gestalt der Jahreszeit auf. Wie sich die Natur zum Herbst neigt, wird es Herbst in mir und um mich her.  Werthers Stimmung verdüstert sich, sein Untergang beginnt. Dann begegnet er zwei menschlichen Doppelgän-gern; einem Bauernburschen (19), anschließend einem armen Kranken im grünen Rokke. Die Lage wird einigermaßen unübersichtlich. Wer folgt wem?

Den Bauernknecht trieben aufrichtige Liebe, Treue und Leidenschaft zu Gewalt und Mord. Als Werther unmittelbar nach der Bluttat am Ort des Verbrechens, seinem sonst so geliebten Platze, eintrifft, entdeckt er entsetzt, wie sichtbar sich alles verändert hat. Die starken Bäume standen ohne Laub ..., waren ent-blättert.

Im Falle Frieders kündet sich soeben seine Entlassung aus dem Irrenhaus an, aber kei-neswegs geheilt, sein Überleben ist ungewiss. Mit Höppner bildet auch er ein Doppelge-spann, ein merkwürdiges, seit Jahren.

Es war ein bisschen so, als ob ich noch einen Bruder hätte.

Hier beginnt nun Bov Bjergs Spiel mit Wiederholung, Variation, Verdopplung und Goethe!

Keiner der Brüder ist zur Mordtat fähig. (20) Dennoch tauchen in Höppner auf dem Hin- und Rückweg zusammen mit Frieder von der Klapse in die Stadt Gedanken an Mord und Selbstmord auf. Wie zum Glück entdecken sie beim Überquerung der Schienengeleise keine Blutflecken und schubst auch keiner den anderen vor den Zug. Höppner tut nur so! Danach springt er ausgelassen in einen Laubhaufen und kickt das Laub ausein-ander.

Es machte mir Spaß, mich wie ein Kind zu fühlen, oder zumindest so zu tun. Na ja, ein bißchen tat ich es auch für Frieder.

Der Weg des Paares über die Eisenbahnbrücke bewegt sich eindeutig entlang der Schlüs-selworte aus Werthers Doppelgängerszenen: Psychiatrie/Tollhaus, Mord/Bluttat und Herbst/Laub. - Nur: wo bleiben die aufrichtige Liebe, Treue und Leidenschaft ?

Die Stelle der Leidenschaft übernimmt Höppners kindliches Vergnügen nach der nicht ge-tanen Tat! Und aufrichtige Liebe und Treue? Zwei Lesearten sind möglich: Bjerg wollte seinem eher coolen Publikum die gefühlsüberladenen Worte taktvoll ersparen.  Alternativ: Er legte Goethes Worte, bzw. die Eigenschaften, die sie ausdrücken, nur etwas tiefer, verschob sie in den Subtext der Handlung. Aufrichtige Liebe und Treue seien auf diese
Weise dem Roman rekonstruierbar erhalten geblieben, steuerten quasi von unten das AUERHAUS weiter!

Wir wollen über den mordenden Bauernknecht nicht Werthers zweiten Doppelgänger,  den armen Kranken, vergessen.



(19) Goethe hat die Bauernknecht-Episoden erst in die Zweitfassung des WERTHER (1786) eingefügt. Die Umarbeitung war u.a. eine Reaktion auf den Wertherkult. Die Nebenhandlung mit dem Bauernburschen sollte die Identifikation mit dem Romanhelden erschweren. - Bjerg unterstreicht mit den Namensgebungen "Bauer Frieder" und "Höppner Hühner-knecht" den Doppelgängerstatus seiner eigenen Romanhelden - und ihre literarische Herkunft.

(20) Sowenig wie Goethe oder Werther dazu in der Lage waren. Aber die Spannbreite ihrer inneren Beziehung sollte man nicht unterschätzen :"Wäre Werther mein Bruder gewesen, ich hätt`ihn umgebracht", Goethe, Römische Elegien II (1795) - Andererseits spricht Goethe wieder in seiner Trilogie der Leidenschaften (1827)  "An Werther" vom "vielbewein-ten Schatten".
Er war wie Werther erst der Leidenschaft, dann jedoch der Raserei verfallen und hatte ein Jahr an Ketten im Tollhaus gelegen. Auch dort, bekennt der Kranke, war einmal eine Zeit, da mir`s so wohl war. ..., so lustig, so leicht wie ein Fisch im Wasser! Doch die Zeit, von der er so rühmte, daß er so glücklich  ... gewesen, war der Abschnitt seines Lebens gewesen, wo er nichts von sich wußte. - Zu seinem jähem Erschrecken registriert Werther plötzlich seine innere Nähe zu dem armen Kranken,.

Einen abgründigen Humor wird Bov Bjerg niemand absprechen wollen. Aus dem Kranken im grünen Rokke macht er einen in seinen Dienstauftrag versunkenen Polizisten; den Typ am Stempelkissen, der die Fingerabdrücke nahm. Im AUERHAUS verkörpert der Typ das Gegenmotiv zu Frieders Aktionismus.

Er sah ganz konzentriert aus und gleichzeitig total abwesend, wie im Halbschlaf. Als ob er meditierte. Vera hatte mal gesagt, wenn man in dem, was man machte, völlig aufging und dabei die Zeit vergaß, war das das Glück. Dieser Polizist war glücklich. ... In diesem Moment hätte ich gerne mit ihm ge-tauscht.

Reifungsstörung

Die Väter waren immer viel dümmer als die Mütter ... Die klügsten und freundlich-
sten Frauen hatten die dümmsten Arschlöcher zum Mann.

Antike Helden und Ritter waren gestern. Mit privatisierenden Männern lässt sich kein Staat machen. Werthers oder Höppners Vater werden nicht einmal namentlich erwähnt. Werther ist so wenig ein Kraftkerl (21) wie Frieder oder Höppner. Im Gegenteil, alle drei haben ein regelrechtes Defizit an Männlichkeit (22).

Die Qualitäten der Typen, die bei Frauen Erfolg haben, möchte sich Höppner lieber nicht genauer vorstellen. Den Auerhahn im AUERHAUS gibt Harry. Er verkörpert zwar auch
nicht gerade einen sexuellen Kraftprotz, aber um Höppner auszustechen, reicht es. Wenn es um die Vergabe des Markenzeichens Kerl geht, bleibt der seinen Minimalanforderun-gen an Männlichkeit selbst als Chronist noch treu. Ein Kerl ist für ihn sogar der Zeitsoldat, der noch nie in einem Krieg war.

Frieder/Höppner/Werther sind unfähig, sich aus ihrer Trägheit in Beziehungen zu einer konsequenten Haltung zu ermannen, im Ernstfall werden sie von ihren Gefühlen über-mannt. Ihr Mangel an Männlichkeit ist nicht weiblichen, sondern infantilen Ursprungs (23).

Väter, die keine Welt mehr repräsentieren, hinterlassen unsichere Söhne. Die bewegen
sich in träumender Resignation, geraten ins Schwanken, sobald sie ihr angestammtes Milieu - das unerträgliche Gefängnis - verlassen und flüchten sich in eine Zuschauer-
rolle, ins Kontemplative.

Ich fand Partys ziemlich blöd, und Frieder fand das eigentlich auch. Ich dachte zumindest, dass er das dachte. Wenn wir mal auf eine Party gingen, setzten wir uns irgendwohin und blieben da sitzen.
... Wir unterhielten uns und guckten geradeaus und beobachteten Leute, ...

(21) Kerl ist ein Schlagwort des Sturm und Drang. Merkmal ist der Tatendurst , fakultativ die sexuelle Ausschweifung. Berühmt ist Karl Moor aus Schillers "Räubern": "Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen." Der Götz von Berlichingen, an dem Goethe noch in Wetzlar schrieb, war ebenfalls ein Kerl im Gegensatz zu seinem schwächlichen Jugendfreund von Weislingen, mit dem Werther bezeichnenderweise mehr gemein hat als mit Götz. Vgl. Horst Flaschka aaO S.130 ff

(22) zu diesem ganzen Abschnitt: Horst Lange, Die Berge als Schule der Männlichkeit, Goethes Briefe aus der Schweiz als Kommentar zu den Leiden des jungen Werthers, in: Oliver Ruf (Hrsg.), Goethe und die Schweiz, Hannover 2013

(23) Horst Lange, a.a.O. S. 222f.
... die vielerley Menschen, die allerley neuen Gestalten, machen mir ein buntes Schauspiel vor der Seele..... Ob`s nicht optischer Betrug ist. Ich spiele mit, vielmehr ich werde gespielt wie eine Mario-nette ...

Sexuell  sind solche Söhne im typischen Fall verklemmt!

Was ist das mein Lieber? Ich erschrecke vor mir selbst! Ist nicht meine Liebe zu ihr die heiligste, reinste, brüderlichste Liebe? Habe ich jemals einen strafbaren Wunsch in meiner Seele gefühlt?

Wir guckten den anderen beim Sündigen zu, dann standen wir wieder auf und fuhren nach Hause. ... Küssen und Flirten und so was, das sollte man nicht ins Lächerliche ziehen, ...

Sie verlieren sich spekulativ ins Unendliche, erkunden die Grenzen ihrer Vorstellungs-kraft (24), halten sich für allmächtig, weil sie mal geklaut haben, aber scheitern vor der Wirklichkeit (25).

Immerhin gibt es auch zarte Reifungsschritte. Zwischen Höppner und Frieder entwickelt sich ein männliches Bündnis. Keine erotische Beziehung, aber ein informativer Austausch und eine gegenseitige Stützung in Geschlechterfragen (26). Erste Früchte werden sicht-bar.

Frieder: "Manchmal war sie ein Arschloch."
Ich: "Finde ich nicht."
Frieder: "Findest du doch."


Gewissheiten

"Ich hab`s gemacht! Ich hab`s gemacht!"

Schluss mit Reden und Träumen. Nicht weiter nur im Kreis. Kein Herumeiern mehr. - Kino-Action, Taten, (h)opp oder top. Tabletten, Axt, Pistole! (27)(27a)

Frieder durchbricht das Glas. Sein Aktionismus bringt selbst Höppner in Bewegung:

Ich holte aus und knallte ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Ich drosch mit ganzer Kraft. ...
Frieder ... wehrte sich nicht.

"Seien Sie ein Mann!" beschwört Lotte Werther.




(24) Ich erinnere mich so lebhaft, wenn ich ... dem Wasser nachsah, ... wie ... ich mir ... vorstellte, wo es nun hinflösse, ... und bald Grenzen meiner Vorstellungskraft fand, ...bis ich mich ganz im Anschauen einer unsicht-baren Ferne verlohr.

(25) Herrlich, wenn Höppner Hühnerknecht versucht, eine Gans zu tranchieren. "Haben Sie das schon mal gemacht, junger Mann?"

(26) Sie tauschen ihre Erfahrungen, genauer: ihre fehlenden Erfahrungen mit Mädchen oder Frauen aus, geben sich moralischen Rückhalt bei Niederlagen. Das Lästern über Frauen ist eine von vielen Eigenschaften, mit denen sich Män-nernetzwerke festigen. Wie vieles, was in dieser Studie abgehandelt wird, entwickelten sich diese Verhaltensnormen forciert im 18. Jahrhundert. Horst Lange spricht von der Etablierung homosozialer Bindungen, a.a.O. S. 225f. Frieder parodiert die Netzwerkidee, indem auf der Silvesterparty wahlos Leute einander vorstellt und sogar versucht, sie mit irgendeiner ausgedachten Gemeinsamkeit zu verkuppeln.

(27) "In dem Moment, wo ich die Tabletten runtergeschluckt habe, da war ich irgendwie ganz da. ..."

(27a) "Ich hab`s drauf angelegt. Dass der Bulle schießt. Ich hab es drauf angelegt."
Die Tat allein bewirkt es noch nicht. Indem Werther sich erschießt, wird er kein Mann, son-dern nur unsterblich - und zwar als ewiger Jüngling! Frieders Aktionen bewirken gar nichts. Er kommt keinem Zentrum näher, keinen Millimeter.

Für alle gewiss ist nur der Tod (28). Wie man ihm begegnen wird, reif oder unreif, darüber entscheidet das ganze Leben. Sterben folgt subjektiven Gewissheiten, aufgeladen mit  dem, wovon das Leben zuletzt noch zehrt.

Sterben! Was heißt das? Sieh wir träumen, wenn wir vom Tode reden.
Vergehen! - Was heißt das? das ist wieder ein Wort! ein leerer Schall für mein Herz.--
Sterben! Grab! Ich verstehe die Worte nicht!
Wir werden uns wieder sehn! Hier und dort wieder sehn!
Ich gehe voran! ... und ich fliege dir entgegen und fasse dich ...

Werthers Suggestionen durchschimmern noch Höppners nächtliche Imaginationen nach seinem missglückten Suizid nach Wetterbericht.

Ich schaute in einen Tunnel. Es wurde immer dunkler. ...  Ich hörte eine Stimme, es war Frieders Stim-me. Frieder war also schon tot. Er nahm mich in den Arm, ich stand auf und schwebte mit ihm zum Licht.  



Wanderer

Ja wohl bin ich nur ein Wandrer, ein Waller (Pilger) auf der Erde! Seyd ihr denn mehr?

Nein, Höppner ist auch nur ein Wanderer. Immer mal weg. Dabei begibt er sich dreimal sogar auf eine echte Wanderung, zu Fuß (30) wie früher. Mal aus Beengtheit, mal aus
Verlorenheit. Mal aus dem Elternhaus, mal aus dem Auerhaus.

WERTHER ist vieles. Unter anderem ist er ein Grundtext der Romantik. Goethe hat das Motiv des gefühlvollen Wanderns vorgeprägt, das Wilhelm Müllers und Heinrich Heines Helden begleiten wird. All ihren Wanderungen liegt etwas Fluchtartiges, Unvorhersehbares zu Grunde. Sie sind Befreiungsakte aus innerer Beklemmung.

Das erste Mal zieht Höppner das Weihnachtsessen für Alte und Obdachlose dem üb-lichen familiären Heiligabend-Streit vor. Draußen ist es kalt, in seinem Inneren auch. Märtyrer- und Samariter-Fantasien begleiten seinen Fußmarsch. Das christliche Liebes-mahl (31) mit Pennern und Nonnen hebt seine Stimmung. Wiedersehen mit Pauline.

Die zweite Wanderung führt ihn in Suizidabsichten mit einer Flasche Wodka in der Plas-tiktüte durch den Wald. Wir werden ihr eigenen Abschnitt widmen.


(28) Werther (auch Höppner?) betrachtet den Tod - im Gegensatz zu Frieder - nicht als biologisches, sondern als onto-logisches  Ereignis. Die Seele wechselt bloß den Seinszustand! -  So ist für Werther wirklich gewiss nur ein Faktum: Sein Wunsch und seine Fantasie einer Zweierbeziehung vertragen sich nicht mit einer Welt, die sich aus Dreierbeziehungen baut. Deshalb bleibt ihm nur die eine Lösung: eins von uns dreyen muß weg und das will ich seyn.!

(29) entfällt

(30) fustapfen und Doppelgänger werden wir nicht mehr los, der sterbende Vagabund im Straßengraben meldet sich schon an!

(31) Die Tradition der Liebesmahlfeier (Agape) betont das gemeinsame Verzehren mitgebrachter Speisen, gleichgültig wer was und wieviel mit gebracht hat, und den Gedanken der Caritas. Es soll schon 1. Jahrhundert bestanden haben und unterscheidet sich vom Abendmahl (Eucharistie) als Opfermahl.
Höppners dritte Wanderung steht im Zeichen der Auflösung des Auerhauses. Der Appetit war ihm vergangen (32).

Es gab Tage, das war das Auerhaus schlimmer als eine Familie voller F2M2. Tage, an denen niemand mehr mit irgendwem redete. Ich ging raus ...

Sein Weg führt mit deutlichen Anklängen an Werthers Lieblingsweg an der Kirche, am Friedhof vorbei in die Natur, in den Frühling. Die Obstbaumblüte beginnt, zum letzten Mal begegnen wir dem Vagabunden, auch wenn er nicht mehr selber Erscheinung tritt. Der Tausch der Vierpfennigstücke unterstreicht das Doppelgängermotiv. Aber unüber-sehbar ist Höppner auf einem anderen Weg angelangt als seine romantischen Vorgänger. Ein Lindenbaum steht nirgends.

Ich bemerkte erst jetzt, dass die Obstbäume blühten. ...
Hinter den Stämmen der Bäume ging ein hellgrüner Riegel quer, das war die Hecke vom Friedhof. Lebensbaum oder so was.

Undinen (33)

Werthers Naturerleben reicht von anfänglicher Schwärmerei bis zur endlichen Entfrem-dung. Wie er sie erlebt, korrespondiert dabei eng mit dem Stand seiner Frauenbeziehun-gen. Die vormalige Freundin rückte ihm zu nahe, die jetzige (Lotte) bleibt seiner Leiden-schaft zu indifferent. In den Naturszenen spiegeln sich die Gefühle. Sie erzeugen Unruhe, Aufbruchstimmung, Wanderlust und -elend.

Naturparallelismus ist das eine, Gegensätzlichkeit das andere. Das Dreieck Werther, Lot-
te und Natur ist komplex und konflikthaft. Werther sucht oder vernachlässigt die Natur je nach dem Stand seiner Frauenbeziehung. Anfänglich begegnet er der Natur noch wie der Gestalt einer Geliebten. Zweitrangig wird sie erst, als Lotte erscheint. Zwischen Lotte und der Natur entwickelt sich eine Konkurrenz, deren feingewebtes Netz sich am Motiv des Wasser - von den Thränen bis zum übergetretenen Fluß - bestens nachverfolgen lässt. (34)

Von Goethes Wassermetaphorik zu den Allegorien der Romantiker in ihren Nixen- und
Undinenmärchen (35) war es nur ein kurzer Weg. Das Schwanken des männlich Lieben-
den zwischen einer edlen Frauenseele und einer zweideutig lockenden Naturgestalt (36)
wird implizit schon im WERTHER breit verhandelt. Wasser blieb das Signum dämonen-
hafter Weiblichkeit.


(32) Trotz gebratener Fischstäbchen! Höppners Zurückweisung des WG-Gerichts vor dem Verlassen des Auerhaus parodiert eine der bewegenden Schlussszenen zwischen Lotte und Werther: Lotte sitzt am Klavier und spielt ein Menu-ett, das beiden vormals sehr lieb gewesen war. Um Gottes Willen, sagte ich ... hören sie auf. Werther, sagte sie, mit einem Lächeln, das mir durch die Seele gieng, sie sind sehr krank, ihre Lieblingsgerichte widerstehen ihnen... Ich riß mich weg ...

(33) zu den Abschnitten Wanderer und Undinen sehr lesenswert: Jane K. Brown, "Es singen wohl die Nixen": Werther und das Märchen der Romantik, in: Ironie und Objektivität; Aufsätze zu Goethe, Würzburg 1998

(34) vgl. auch H. Flaschka a.a.O. S.163

(35) Melusine, Loreley, Rusalka. Auch im Blautopf soll eine Nixe gehaust haben. Höppner ist wieder mal ahnunslos, was Vera vorhat. Er liest halt Sachbücher.
  
(36) Lotte erscheint wiederholt als gefährliche Ablenkung vom Ideal der Natur, übernimmt selbst die Rolle der Wasser-nixe, gerät zur Doppelgängerin der Natur, etwa in der Magnetenberg- oder der Kanarienvogelszene J.K. Brown a.a.O.
S. 189

Von derlei Zweideutigkeiten und Untiefen weiß Höppner trotz Vera und Pauline nichts. Mit Frauen geht es ihm wie dem frühen Werther mit der Natur. Er sieht nur paradiesische Un-schuld. Dabei ist er der Gefahr näher, als er denkt.

Ihre Augen waren ganz nah an meinen Augen. … Ihr Mund auf meinem Mund. Den Geschmack hatte ich nicht erwartet. Es war komisch, aber sie schmeckte irgendwie nach Wasser … und … konnte nicht ablenken von dem tollen Gefühl, das ihre Lippen auf meinen Lippen bewirkten.




Portraits

...du solltest sie sehen, diese Augen. ... Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, meine vorstel-lende Kraft ist so schwach, ...Werther über Lotte.

... quasi das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte. … Haare, ganz glatt ...mit Glatze noch schöner aus als vorher, noch symmetrischer. Ihr Kopf war ganz rund ...ihre wahnsinnig schönen Augen ... Und die Ohren.  Perfekt geformte Ohrmuscheln, ... Höppner über Pauline.

Zu schön. ... Mann, die war so perfekt, dass ich mir nicht einmal einen runterholen konnte, wenn ich an sie gedacht habe! ... Frieder über Pauline.

Ich (bin) nicht im Stande, dir zu sagen, wie vollkommen sie ist, warum sie vollkommen ist. ... Werther über Lotte.

Um was geht es? Kraftraubende Ikonen oder verzehrende Gefühle? Ungehemmte Lust klingt jedenfalls anders: Greifen die Kinder nicht nach allem, was ihnen in den Sinn fällt?

Anbetung schaft eher Distanz als Nähe. Das Thema beschäftigt auch Theologen. Der
charismatische Schweizer Pfarrer Lavater (37) besuchte Goethe zur Zeit der Niederschrift des Werther. Sein Lieblingsthema war das menschliche Portrait. Die edle Seele zeige sich
im vollkommenen Portrait! Goethe gefiel der Gedanke. Gemeinsam machten sie sich ans
physiognomieren; ihr Enthusiasmus entlud sich in der Kunst des Scherenschnitts. Kein Wunder, dass Lottes Schattenriss ihre besondere Aufmerksamkeit fand. Er wird für Wer-ther zum Objekt der Leidenschaft wie des Verzichts, der Verehrung wie des künstleri-schen Ersatzes.

Lottens Porträt habe ich dreymal angefangen, und habe mich dreymal prostituiert (blamiert), das hat mich um so mehr verdrießt, weil ich vor einiger Zeit sehr glücklich im Treffen war. Darauf hab ich denn ihren Schattenriß gemacht, und damit soll mir genügen.


Pauline scheint von solchen Dingen zu wissen.

Sie spielte mit den Händen vor der Herdtür. Ein Schattenengel, ein Schattenschaf. Ein Schattenhund, der bellte.






(37) Rüdiger Safranski, Goethe, München 2013, S. 172 f.
Weihnacht

So ein Quatsch! Das ist doch nichts Christliches! Das kommt von der Germanen. Hatte Jesus einen Weihnachtsbaum?

Bewegende Fragen. Die Antwort ist gar nicht einfach. Weder die Herkunft des Weihnachts-fests, noch die des Weihnachtsbaums sind eindeutig geklärt. Über Jesu Geburtstag weiß man gar nichts, von Märtyrern interessieren eher die Todestage. Aber kirchlich wurde schon im 4. Jahrhundert der 25. Dezember als Tag seiner Ankunft diskutiert. Der Weih-nachtsbaum kam über 1000 Jahre später, vom protestantischen Deutschland verbreitete er sich über die Welt. Eine originär christliche Botschaft verkörperte zu keinem Zeitpunkt, schon gar nicht den christlichen Heiland. Auf dem Petersplatz steht er erst seit 1982!

Fest und Baum in der heutigen Version entwickelten sich am wahrscheinlichsten durch Verschmelzung zahlreicher religiöser Riten und Bräuche (38), wobei Konkurrenz, Ausrot-tung, Kulturkampf im weitesten Sinne wohl keine geringe Rolle gespielt haben. Der Baum-schmuck hat der Verbreitung des "Christbaums" als Augenweide sicher nicht geschadet. Anders gesagt, das ungeschmückte heidnische Grün hatte es auf Dauer schwer gegen die glitzernde Konkurrenz.

Im 18.Jahrhundert machte der Christbaum seine eigentliche Karriere. Er mutierte zum ge-fühlten Zentrum der bürgerlich-häuslichen Gemeinschaft. Mit Goethe hielt er Einzug in die Literatur. Werther erinnert sich inmitten seiner Vorbereitungen zu seinem Selbstmord zwei Tage vor der Weihnacht an die Zeiten, da einen ... die Erscheinung eines aufgepuzten Baums mit Wachslichtern, Zukkerwerk und Aepfeln in paradisische Entzükkung  sezte.

Unter dem aufgepuzten Baum geht es für Kinder und Obdachlose im WERTHER wie im AUERHAUS vorwiegend um Süssigkeiten/Zukkerwerk und Geschenke. (Die Verlegung der Kinderbescherung vom traditionellen Nikolaustag auf Weihnachten war ein Teil des lu-therischen Konfessionskriegs.) Für die Erwachsenen ist Heilig Abend eine konkurrenzlos wichtige Terminsache, der beschissenste Arbeitstag im Jahr. Weihnachten im AUER-HAUS ist noch verminter als im WERTHER. Auf den Straßen konkurriert der Lichterbaum mit der Leuchtreklame der Volksbank um Kundschaft.

Darkroom

Frieder spürt keine Entzükkung an Weihnachten. Er wurde im Dunkeln geboren, seine
Erinnerung gehört dem Darkroom. Sein Umhauen des Lichterbaums ist weniger ein An-griff auf die christliche Botschaft (39) als auf die Dorfgemeinschaft, die ihn als Kind im Stich lies.

"Der Frieder war schon immer speziell."

Zu seinem Begräbnis kommt zwar das halbe Dorf, aber "Wegen seiner Familie, nicht


(38) Goethes eigenes synkretistisches Verhältnis zur Religion ist bekannt. Auch im WERTHER gestattet er unterschied-lichsten religiösen Einstellungen die Koexistenz, allerdings ohne sie dadurch ihrer Unterschiede zu berauben. Goethe selbst verstand sich nicht als Christ.

(39) Gleich geht im Stall das Licht an, im Stall von Bauer Seidel.  Frieder ist der einzige, dem das frühmorgens auf-fällt. Er präzisiert den Hinweis gegenüber dem Freund so, als könne der ihn missverstehen. Welcher Stall, welches Licht? Als Weihnachtssymbole sind sie immerhin einige Jahrhunderte älter als der Weihnachtsbaum!
wegen ihm."

Höppner erinnern die Dörfler an seine Hühner, so still wie sie immer waren auf dem Weg zum Schlachthof. Auf ihrem Zug zum Gasthaus "Ochsen" gleichen sie in ihrer schwarzen Kleidung gar Riesenameisen, seelenlosen Geschöpfen! (40)


Wenigstens einmal und sei es für kurze Zeit will Frieder sich mit ihnen im Dunkeln verein-nen. Es geht ihm weniger darum, die Lichter zu löschen, sondern es dunkel werden zu las-sen. Ich glaube, dass ist ein Unterschied.

Es war stockdunkel. Und still. ... Eine Stimme begann, "Stille Nacht" zu summen. Dann noch eine Stimme und noch eine. Alle drei Frauen summten "Stille Nacht".

Etwas fällt auf. Gemessen an der Bedeutung, die die Aktion für Frieder hat, hält sich die Reaktion der christlichen Dorfgemeinschaft in Grenzen. Der Protest der Gemeindearbeiter ist so verhalten wie kindisch. In ihrer Protestaktion bleiben sie allein. Kein Geistlicher hat sie begleitet.

Bäume

Man möchte sich dem Teufel ergeben ... über all die Hunde, die Gott auf Erden duldet, ohne Sinn und Gefühl an dem wenigen, was drauf noch werth ist. ... Ich sage dir, dem Schulmeister standen die Trä-nen in den Augen, da wir gestern davon redeten, dass sie abhauen worden – abgehauen! Ich möchte toll werden, ich möchte den Hund ermorden, der den ersten Hieb dran tat.

Das waren andere Töne! Gegen Werthers Wut und Empörung sind die Protestaktionen der Gemeindearbeiter zahm und zahnlos. Man muss Werthers donnernde Anklage (41) - Sie liegen! - im Ohr haben, um den hintergründigen Spott nicht zu überhören, dass die Arbei-ter das tagelange auf dem Parkplatz (L)iegen lassen des Baumes für ihre Aktion halten!

Aber der Reihe nach. Um was geht es? Bäume symbolisieren in germanischer Tradition die unzerstörte, heile Natur, darüber hinaus dienen sie als Orte der Begegnung und Bera-tung. Die christliche Kirche misstraute beidem. Erstens sei die Ursünde des Menschen kein Vergehen gegen die Natur, sondern gegen Gott gewesen, zweitens sollten Menschen ihre wichtigen Dinge unter dem Kreuz und nicht im Schatten obskurer Bäume regeln. Boni-facius wusste, was er tat!

Noch im WERTHER finden die bewegendsten Begegnungen im Schatten von Bäumen statt. Auf dem Kirchplatz stehen Linden, ebenfalls am oftmals aufgesuchten Brunnen und vor dem Tore von Werthers Heimatstadt. Unter Linden möchte Werther begraben sein. In einer Allee aus Castanienbäumen (42) stand er häufig mit Lotte.



(40) Für Werther sind umgekehrt selbst kleinste Kreaturen beseelte Wesen. Der harmloseste Spaziergang kostet tausend tausend armen Würmgen das Leben, es zerrüttet ein Fustritt die müseligen Gebäude der Ameisen, und stampft eine kleine Welt in ein schmähliches Grab. - Höppner bleibt in seiner Einschätzung zweideutig. Den ontolo-gischen Status beseelter Wesen scheint er Ameisen nicht zuzubilligen, aber gewisse anthropophile Fähigkeiten schon. Herbstwanderungen neben der A8 oder der A6 hält er zumindest nicht für ganz unmöglich.

(41) Anklage und Klage! Werthers Liebesverhältnis zur Natur ist spürbar!

(42) Werther hielt sich gerne in der Castanien-Allee auf, auch bevor er Lotte kannte. Ein geheimer sympathetischer Zug hatte mich hier oft gehalten.  (Zu "sympathetisch" siehe Seite 19 f.) - Im AUERHAUS klaubt Höppner Kasta-nien vom Rasen des Psychiatrieparks!
Die Geschichte der Nußbäume führt zu einem der gewaltigsten Gefühlsausbrüche des Romans. Die Schönheit der Bäume prägte die Idylle eines Pfarrgartens, wo man sie über Generationen gepflegt und geehrt worden. Und dann hatte die neu eingezogene, aufge-klärter Theologie zuneigende Pfarrersfrau die Nußbäume ..., die uns so lieblich be-schatteten, kurzer Hand beseitigen lassen.

So einer Kreatur war es auch allein möglich, meine Nussbäume abzuhauen. …. Die Bäume nehmen ihr das Tageslicht.

Das ganze Dorf murrt, ... die Frau Pfarrer soll`s spüren, was für eine Wunde sie dem Ort gegeben hat, aber das christlich-aufklärerische Bündnis gegen die Natur steht auf Seiten der Pfarrersfrau.


Frevel

Auch dieses gilt es zu bedenken: Frieder hat den Weihnachtsbaum zwar umgehauen, aber nicht gefällt. Der Natur entrissen haben ihn die, die ihn wie Tausende andere alljähr-lich aus dem Wald holten. Ein industriemäßig betriebener, gedankenloser Naturfrevel zur Feier der christlichen Ankunft! Womöglich waren die Gemeindearbeiter selber die Täter!

Zweideutigkeiten zur Weihnacht. Brückenschläge zu Höppner Hühnerknechts gruseligen Plastikboxen an der Verlade-Rampe zum Schlachthaus - Ich stopfte die Hühner rein .. -, zur tranchierten Gans am Pennertisch und der sicher ausgedachten Geschichte - Der Typ redete wirr. Er verstand, dass ich nichts verstand. - vom Auschwitz-Apother, der nach fünf Jahren Bau zum Weihnachtskonzert entlassen wurde. Im Vergleich zur unsicher verbürg-ten Ankunft der HERRN kam dieser Herr pünktlich. Die Leute sind aufgestanden und haben geklatscht. Deswegen?

Bedenkt man alles recht, geht der verhaltene Protest der Christengemeinde auf Frieders Aktion durchaus in Ordnung. Das schlechte Gewissen liegt auf ihrer Seite.



heile Natur

Höppner wandert durch den verschneiten Wald, bergauf mit Wodka und Suizidabsichten,
Alc und Kälte.  Es lohnt sich, genau zu lesen.

Ich stapfte hoch. Senkrecht zum Hang, durch den Schnee, zwischen den Bäumen durch. Kahle Bu-chen. Und immer wieder Weihnachtsbäume. Ungeschmückte(!) Weihnachtsbäume, die noch standen (!), überzogen mit Schneeschimmelpilz. Dichte, heile(!) Welt. Die Tannenzweige streichelten mir die Wangen. ...

Die Nächstenliebe mag bei Nonnen in guten Händen sein. Die Natur braucht keinen Hei-land! Wir bekommen von ihr am meisten, wenn wir ihr mit unseren Erlösungsgedanken fernbleiben. Die waren immer schon speziell (43).

(43) Kultureller Synkretismus hat allzeit Konjunktur. Wo kommt er her, was treibt ihn? Aufrichtige Liebe und Freund-schaft ? Oder bemühte Ignoranz im Schlepptau heimlicher Gebietsansprüche? Nur eins, mein Bester, in der Welt ist`s sehr selten mit dem Entweder Oder gethan. - Kürzlich wurde der Autor Zeuge einer Einladung zu einer protes-tantischen Heilig-Abend-Andacht. "Wir feiern nicht in der Kirche, sondern draußen an einem großem Feuer. Weißt Du, wie damals die Hirten ..." Ach ja ?! Feld und Feuer waren immer schon christlich, wie der Baum? (E)inerseits, anderer-seits, quasi und sozusagen. Egal, nicht egal.
Höhepunkte

Über allen Gipfeln ist Ruh. Wir erleben die Metamorphose des bildungsfernen Stadtrand-Gymnasiasten in literarische Hochkultur. Sie nähert sich dem Höhepunkt.

Der Schnee schimmerte, als ob er sich am Tag vollgesaugt hätte mit Licht, das er nach und nach wie-der abgab.

Schön empfunden, wie von Goethe (44).

Ich sagte laut in den Wald: "Vera fickt mit Harry!"
In Gedanken strich ich "fickt" durch und schrieb darüber: "schläft wahrscheinlich".
...
Ich wusste nicht, was das alles bedeutete.

Dann wollen wir es ihm erklären. Die erste Fassung des WERTHER (1774) war ganz im Sprachstil des Sturm und Drang geschrieben, oft unbändig-derb in der Wortwahl. In der Weimarer Fassung (1787) änderte und ergänzte Goethe manches; durchgängig alles, was ihm zu unflätig erschien oder als allzu modischer Wortschatz (45). - Höppner wiederholt unter dem besänftigenden Einfluss der Natur gerade Goethes mäßigende Entwicklung im Zeitraffer!

Ovid hätte an der Verwandlung des aliteraten Höppner in Literatur und Literaturgeschichte seine Freude gehabt! Trotzdem ist es riskant, was Bjerg seinen Protagonisten alles zumu-tet, übrigens in diesem Falle sogar gegen ausdrücklich besseren Rat. Was nachträgliche Verbesserungen betrifft, war Werther ganz anderer Auffassung als Goethe.

Ich habe gelernt, wie ein Autor durch eine zweyte veränderte Auflage, und wenn sie noch so poetisch besser gewesen wäre, notwendig seinem Buche schaden muß.

Werther verbreitet Skepsis. Die Skepsis springt über. Auch Höppner beunruhigen jetzt Ver-änderungen, besonders wenn sie mit Vera und Kerlen gleichzeitig zu tun haben. Hat sie neuerdings einen Haupt- und einen Nebenkerl? - Die Pointe liegt im "Kerl". Höppner be-unruhigt Harrys Männlichkeit, Goethe störte das Wort! In der Zweitfassung hatte er des-halb alle Kerls gestrichen oder sie penibel mit Mann oder Mensch ersetzt (46). Bloß damit Höppner das wieder rückgängig macht? Was erlaubt sich der Kerl?! Goethe mag sich beruhigen, ein 1774er Kerl und ein 2015er Kerl meinen beileibe nicht das Gleiche (47).







(44) Goethe kennt dieses Phänomen vom Leuchtenden Schwerspat. Er beschreibt ihn in seiner Italienischen Reise. Da der Stein von einem Bolognese entdeckt wurde, heißt er auch Bononischer Stein. Unter diesem Namen lernt Werther die Eigenschaft des nächtlichen Schimmerns kennen.

(45) Victor Lange, Die Sprache als Erzählform in Goethes Werther, S. 269, in: Formenwandel, Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Böckmann, hrsg. von W. Müller-Seidel und W. Preisendanz, Hamburg 1964

(46) vgl. H. Flaschka S.142 f.   - Höppners Schlusskorrektur seines Abituraufsatzes wiederholt köstlich Goethes zweifel-haftes Verfahren. "Klos" ersetzte ich durch "Toiletten" und "Scheiße" durch "Fäkalien".

(47) Mit Goethes Streichung der Kerls verband sich indessen eine tiefe Dramatik. Der Eifer, mit der Goethe ans Werk ging, spiegelt seinen Bruch mit dem Sturm und Drang, v.a. in der Person von J.M. Reinhold Lenz, den man noch 1775 als Goethes "jüngeren Bruder" tituliert hatte. (Brief Herdes an Hamann, zit. nach Königs Erläuterungen a.a.O. S. 101). Der symbolische Brudermord in Gestalt der Streichaktion ist schwerlich zu übersehen. (vgl. dazu die Fußnoten 20 und 21). Höppner Beharren auf "Kerl" rüttelt somit an der ganzen Architektur von Brüdern und Doppelgängern!
Empfindsamkeit

Die Zeiten und die Sprache ändern sich. Als Goethe seinen WERTHER schrieb, befand sich eine Literaturperiode auf ihrem Kulminationspunkt, über die wir heute nur noch lä-cheln, - wenn wir sie denn noch kennen: die Periode der Empfindsamkeit. (48) Empfind-samkeit meinte weniger ein bestimmtes Gefühl als ein Kulturmuster (49), die stete Suche nach Herzensbeziehungen und Innerlichkeit. Ihr Schlüsselworte hießen in ihrer englischen /französischen Herkunft sensitivity/sensibilitè (50) und sympathy/sympathie (51), in ge-quältem Deutsch: sympathetische Gefühle.

Was führt freie, aufgeklärte Menschen zusammen? Was ist Liebe ohne die segnende Hand Gottes? Sympathetische Gefühlen wollten den Wunsch nach Individuation mit der Hoffnung auf harmonischen Ausgleich utopisch vereinen. Beides sollte möglich sein! Doch in Werthers empfindsamer Natur müssen wir es miterleben, wie sich diese Wünsche mit Fortgang der Handlung immer mehr zerstreuen. Sie ergibt keine Harmonie - aller sympa-thy und Seelenverwandtschaft zum Trotz.

Und darf ich`s sagen? ... sie wäre mit mir glücklicher geworden als mit ihm! O er ist nicht der
Mensch, die Wünsche dieses Herzens alle zu füllen. Ein gewisser Mangel an Fühlbarkeit, ein Mangel - nimm`s wie du willst, daß sein Herz nicht sympathetisch schlägt bey - Oh! - bey der Stelle eines lieben Buchs, wo mein Herz und Lottens in einem zusammen treffen.

Vielleicht wäre unser Freund noch zu retten gewesen, vermutet der Herausgeber des Werther, wenn es nicht ausgerechnet am Vortag des sorgfältig geplanten Selbstmordes
zwischen Lotte, Albert und Werther, - zwischen allen dreien! - zum Bruch der sympatheti-schen Gefühle gekommen wäre. (51a)  Erst nach geschehener Tat melden sie sich über-mächtig zurück. Die Beerdigung wird ohne die beiden Zurückgebliebenen stattfinden.

(48) Die Empfindsamkeit verbreitete sich von England und Frankreich nach Deutschland, etwa ab 1740. Das Jahr 1773 gilt als ihr Höhepunkt, der WERTHER als ihr literarisches Hauptwerk. Für Goethe war das zeitlebens ein Schock. Er wollte sich qua "poetischer Beichte" ja gerade von dem Empfindsamkeitskult befreien, aber danach berief sich jahrzehn-telang jede Empfindelei auf  ihn!

(49) Klaus P. Hansen betont ihren in sich konsistenten Zeitgeist, der die großen Metaphysiker des 17. Jahrhunderts (Descartes, Leibnitz), den Pietismus, die englische moral-sence-Philosophie und den französischen Sensualismus vereint. Vgl. seinen Aufsatz "Neue Literatur zur Empfindsamkeit" Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft Und Geistesgeschichte 64 (3):514-528 (1990). Sozialkritisch wird dieser Zeitgeist mal als Waffe gegen die Adelsherr-schaft, mal als Ausdruck bürgerlicher Resignation gesehen.

(50) sensitivity könnte man vereinfacht mit "von Natur aus tugendhaft" übersetzen. Sensibilitè geht von der Vorstellung einer allen Menschen angeborenen  Neigung zu Moral, Treue, Hilfsbereitschaft, Caritas aus, ohne dass es dazu ver-nünftiger Reflexion bedarf. Der Begriff steht zwischen Vernunft und Leidenschaft. Lit.: Frank Baasner, Der Begriff `sen-sibilitè` im 18. Jahrhundert, Heidelberg 1988

(51) "Sympathy" würde man heute mit Mitgefühl/Verständnis/Empathie übersetzen. Ihre Grundidee reicht aber tiefer. Sie wurzelt in einer Philosophietradition, die bis in die Antike zurück reicht; der doppelten Erfahrung der Welt als einerseits vereinzelt, atomisiert, individuiert, und gleichzeitig als Weltganzes, Unit. - Ontologisch stellt sich die Frage nach einer  inneren Verbindung alles Einzelnen, sei es nun belebt oder unbelebt, irdisch oder göttlich. Die Monadenlehre operiert mit der Vorstellung einer atomisierten Weltseele.- Medizingeschichtlich ging es ihr um das Verständnis des Zusammenwir-kens getrennter Organe. In der noch immer gebräuchlichen Bezeichnung "sympathisches Nervensystem"  hat Paracel-sus seine Fußstapfen hinterlassen.- Ethisch hoffte man, dass Menschen über eigene Automatismen verfügen, die sie nach Auflösung von Schuld und Zwang weiterhin zu altruistischem Verhalten bewegen. Sympathy stellte man sich wie einen Kitt  vor, als eine Eigenschaft, der die sündige, unaufgeklärte amorphe Masse der Menschheit zusammenhält.  - Sympathy wurde deutlich organhafter gedacht als unsere heutigen Begriffe von Sympathie und Liebe. Das sympathe-tische Band der Liebe beinhaltete Seelenverwandtschaft und Freundschaftskult, selbst Inzest. Liebe kommt in diesem Verständnis einer physikalischen Kraft nahe. Werther erzählt das Mährgen vom Magnetenberg zur Beschreibung der Seelenkräfte, die zwischen ihm und Lotte wirken. In den Wahlverwandschaften vergleicht Goethe (wie Pauline in der Sylvesternacht) Liebe mit Chemie. Vgl. dazu: Klaus P. Hansen, "SYMPATHIY" in: Die empfindsame Theologie Nathaniel Hawthornes, Rheinbach1989

(51a) "jedes dachte seinem Recht und dem Unrechte des andern nach." Zur "beliebten Deutschlehrer-Frage", wie
Albert vermochts nicht. Man fürchtete für Lottens Leben.

Im Vergleich zu diesem Trio oder Paar verleiht die Fähigkeit, sympathetische Gefühle einfach abzuschalten, Frieder und Pauline (beim Holzspalten) nahezu übermenschliche Fähigkeiten:

Von den beiden blinzelte keiner. ... Die Axt schlug in das Scheit. Frieder sagte: "Das war knapp".

Wo sympathy einst die Zuversicht verbreitete, dass monadischen Existenzen keine Isolier-haft drohe, scheint manch einer das heute geradezu zu fürchten:

"Mein Vater ... hat sich ein paar Bienenstöcke besorgt. Das ist jetzt sein Hobby: Imkerei. Er hat so einen Astronautenanzug an und steht in einer Wolke von Bienen. Gesellig, oder?"


Relikte

Wir nähern uns dem Zentrum. Wer das AUERHAUS aufmerksam liest, wird sie an vielen Stellen noch entdecken: die Spuren von Empfindsamkeit und sympathetischer Gefühle. Versteckt, verschlungen, parodistisch finden wir ihre Schlüsselworte über den Text ver-streut; immer ironisch, mitunter blasphemisch, im Ergebnis berührend. Mäandernd gele-sen, werden sie deutlich.

"Weint er?" ... "Er lacht."

Wollüstige Tränen vergießen, ein schmerzliches Vergnügen zu haben, sind typisch  für Werther und die Empfindsamen (52). Ihre Tränen sind vor allem Ausdruck von Leiden-schaft, in zweiter Linie von Trauer.


"Heult nicht, um die alten Säcke ist es nicht schade!"

Frieder meint es witzig. Er spricht von den Zwiebelsäcken. Aber wie jeder Witz besteht er aus zwei Seiten. Die Auflösung der Auerhaus-WG ist schon im Gange. Der Abschied ist vor allem für Frieder zum Heulen. "Das ist seine schönste Zeit gewesen. Das hat er in das Buch geschrieben." (52a)

Es kam, wie es der Herausgeber des WERTHER ankündete:

Ihr könnt seinem Schicksal eure Thränen nicht versagen.

Vera und Harry hatten langgeheulte Gesichter, müde und traurig.


Vor dem Essen sagte Frieder: "Lasset uns beten!" "Wir riefen: Der Hunger treibt`s rein, der Geiz behält`s drin!" Frieder sagte: "Amen"

Kein Pietismus ohne Frömmigkeit. Der gemeinsame Beginn der Mahlzeit, das kurze Inne-halten, die Andacht, dass jede Mahlzeit etwas Besonderes, nicht Selbstverständliches ist, hat gute Gründe. Selbst im Auerhaus, dessen gedeckter Tisch sich zu einem Gutteil der Missachtung des 7. Gebotes (nicht Stehlen!) verdankt.

(Fortsetzung Fußnote 51a) Werther vielleicht zu retten gewesen wäre, siehe auch Leo Kreutzer, Mein Gott Goethe, Hamburg 1980, S.22 ff.
(52) Oliver Ruf a.a.O. S. 220  

(52a) Ein Roman ohne Tagebuch ist in der Epoche der Empfindsamkeit undenkbar. Ein Tagebuch führt (und vernach-lässigt) Werther; ein Tagebuch findet Frieders Vater unter der Hinterlassenschaft seines Sohnes.
Der Glaube die Gotteskindschaft hat gelitten; beten geht eigentlich nicht mehr.  Aber bei
allem Spott bleibt der Wunsch nach dem vormals christlichen Ritual bestehen. Werther be-fand sich da noch in einer Zwischenposition. Wie gerne hätte er gebetet, den Vater im Himmel zu Hilfe gebeten. Aber zu welchem Zweck, wohl nicht zur Übertretung des 6. Ge-botes (nicht Ehebrechen!)?

Ich kann nicht bethen: Laß mir sie! und doch kommt sie mir oft als die Meine vor; Ich kann nicht bethen: Gib mir sie.


Die Seele hat sich aus einer theologischen zu einer menschlichen Angelegenheit gewan-delt. Die gute Seele - Lotte - schmückt Offen- und Treuherzigkeit.

Das Gespräch fiel auf das Vergnügen am Tanze. Wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist, sagte Lotte, so gesteh ich ihnen gern, ich weis nichts über`s Tanzen.

Zumindest weiß sie nicht alles. Frieder und Lotte hätten sich einiges zu erzählen.

"Tanzen und Knutschen, das hat der Teufel gemacht... Der einzige Grund, warum ich hingehe." (53)


Die Seele wohnt nicht länger im Himmel, sondern im Herzen.

Irgendwer hatte mit dem Finger ein Herz auf das Fenster gemalt.

Das Herz wurde zum wertvollsten Organ des Menschen, weil Sitz empfindsamster Gefüh-le. Die Hierarchie war niemals unumstritten. Die Vernunft sollte auf keinen Fall ins Hinter-treffen kommen, hielt man dagegen. Um das Gewicht, besser das Gleichgewicht, der obe-ren und unteren Seelenkräfte wurde hart gerungen:

"Ich hab mir das Hirn erfroren bei meinen Eltern." ... "Ich das Herz."

Niemand sollte dem AUERHAUS unterstellen, es behalte diese Dinge nicht im Auge. Werther verteidigte seine eigene Hierarchie und Sichtweise; sehr zur Entrüstung der Aufklärer.

Ach was ich weis, kann jeder wissen. - Mein Herz hab ich allein.


Himmlisch, paradiesisch, seelig, heilig, göttlich oder auch ein Engel oder Samariter lösten sich im 18. Jahrhundert vom sakralen Sprachgebrauch, können sei

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