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1968 – Bilanz eines Aufbruchs

Von Marianne Brentzel (Hg.)


Christoph Ludszuweit schrieb uns am 01.06.2018
Thema: Marianne Brentzel (Hg.): 1968 – Bilanz eines Aufbruchs

"Das wahre Problem unserer Zeit, das Problem meiner Generation, ist nicht, dass es uns nicht gutginge oder dass es uns in Zukunft schlechter gehen könnte. Nein, das wahre Problem ist, dass wir uns nichts Besseres vorstellen können."

Die Herausgeberin Marianne Brentzel stellt dieses Zitat des jungen Historikers und Bestsellerautors aus den Niederlanden namens Rutger Bregmann leitmotivisch voran und betont: "Ich kann nicht glauben, dass die Generation unserer Kinder und Enkel genau das nicht verändern wird."
Aus der seit Jahresbeginn zu verzeichnenden, schier unüberschaubaren Flut von Publikationen zu 1968 ragt der von Marianne Brentzel herausgegebene Band angenehm heraus. In ihrem Roman 'Rote Fahnen Rote Lippen' hatte sie bereits von ihrem Engagement in der Berliner Studentenbewegung und ihrer aktiven Zeit in einer K-Gruppe berichtet, die sie als Irrweg bezeichnete. Nun legt sie einen Sammelband mit Beiträgen von Zeitzeugen vor, die sich an die Zeit um das Jahr 1968 erinnern und berichten, welche Bedeutung dieses für sie einschneidenden Jahres für ihr weiteres Leben hatte. Bei ihrer Auswahl ging es nicht um Prominenz – als einzige Autorin, die man als prominent bezeichnen könnte, ist Gretchen Dutschke, Jahrgang 1942, mit einem Beitrag vertreten: "’68 ist Aufruf auch für heutige Veränderungen“.
Es ist die 68er Bilanz einer spannenden, aufregenden Zeit:
Ein halbes Jahrhundert ist seit diesem für viele der zwischen 1940 und 1950 Geborenen sehr bedeutsamen Jahr vergangen, doch eine Art kollektiver Erinnerung scheint geblieben zu sein.
Wenn die mehr als 30 Zeitzeugen über ihre individuellen Erinnerungen und persönlichen Werdegang berichten, wird deutlich: Wenngleich alle beteiligten Autoren durchaus unterschiedliche Kindheits- und Jugendjahre verbracht haben, sind doch allen die Erfahrungen aus den Jahren der Nachkriegszeit gemeinsam.
Auch noch zwei Jahrzehnte nach dem Ende der NS - Ära wurden Verbrechen unter den Teppich gekehrt, ehemalige Nazi-Richter waren nach wie vor in Amt und Würden. Das Verschweigen all dieser ungesühnten Straftaten provozierte einen Teil der damals aufbegehrenden Jugendlichen – Lehrlinge und Studenten. Andere rebellierten gegen die Engstirnigkeit in der autoritären Erziehung im Elternhaus oder versuchten, etwa den weit verbreitetenAmtsmissbrauch der katholischen und protestantischen Kirchen offenzulegen.
Es entstand ein tiefes Misstrauen gegenüber der Glaubwürdigkeit von Parteimitgliedern und Ordnungsmächten. Die Legitimation von Politikern wurde angezweifelt, auch in bestimmten Presseorganen, vor allem bei der einflussreichen Springerpresse, wurden Falschmeldungen und Verdrehungen von Tatsachen aufgedeckt.
Viele Eltern der interviewten Zeitzeugen versuchten, die erlebten Kriegserlebnisse zu vergessen und zu verdrängen. Auch in den Schulen wurde die Nazizeit weitgehend ausgeblendet, die Themen waren tabu. Die Erziehung in den damaligen Zeiten bestand vor allem aus Anweisungen und Verboten. Kinderfragen waren nicht beldoch noch nicht!“.
Bei solch einer Art von Pädagogik entstand häufig eine emotionale Kälte. Ein Protagonist berichtete: "Ich buckelte vor der väterlichen Macht.“
Der 2. Weltkrieg forderte seinen Tribut. Einige Eltern der Autoren mussten fliehen, um in den Westgebieten eine neue Heimat zu finden, und von den Zugezogenen wurde eine hohe integrative Anpassung erwartet. Manche fühlten sich gar als Bittsteller, die nicht gelernt hatten, das zu fordern, was ihnen zustand. Die soziale Kontrolle landesweit war stark. "Nur nicht auffallen!“ – lautete die damalige Devise. Die verklemmten Elternhäuser mussten ihre Kinder entlassen, die deutlich andere, alternative Lebensentwürfe hatten als sie selbst. Also hieß es für viele mit schelmischem Lächeln: "Raus aus der Enge, rein in das Chaos!"
Es erwuchs ein Spaß an der Provokation gegen die bürgerliche Zufriedenheit und die Kultur wurde zum verbindenden Element, ob nun in Form hämmernder Beats oder wachrüttelnder Liedermachertexte von Degenhard, Wader und Wecker. Die Musik gab ebenso wie die Literatur von Außenseitern neue Impulse. Viele waren auf der Suche nach der politischen Wahrheit und machten es sich zur Aufgabe, auch andere zu Kritikfähigkeit und produktiver Unruhe aufzurufen.
Die Studentenproteste begannen bereits 1961 und breiteten sich bis zur 68er -  Bewegung europaweit aus - es wurde agitiert, protestiert und demonstriert. Die theoretische Arbeit war intensiv, aber auch die auf anderen Alltagsebenen zutage tretende 'Power', eine Wucht der Gefühle, die gemeinsame Stärke, die geteilte Empörung verbanden einen Großteil der Jugend, so unterschiedlich die konkreten Erwartungen auch sein mochten.
Rudi Dutschkes Idee eines ‚'Langen Marsches', eines Geduld erfordernden weiten Weges durch die Institutionen fand nicht bei allen Gehör. Aber auch in den diversen dogmatischen Gruppierungen, den Trotzkisten, Marxisten, Leninisten oder Maoisten fühlten sich nicht alle aufgehoben.
Durch das Attentat auf Rudi Dutschke radikalisierte sich dann allerdings die Szene. Rüchblickend lässt es sich leicht sagen, dass die RAF durch ihre Radikalität und die Straftaten im Grunde der gesamten Bewegung schadete, denn übergriffige Polizeieinsätze und der Abbau demokratischer Rechte waren die Folge.
Die 'große APO-Politik' und die Weltrevolution in all den theoretischen Ausprägungen kam eindeutig zunächst eher männlich daher. So mussten sich die Frauen auch von den eigenen Partei- und Politikgenossen der 68er Bewegung befreien. Selbst Gretchen Dutschke urteilt kritisch über die Verhaltensweisen ihres Mannes und seiner Parteifreunde, sie konstatiert "eine menschliche Härte, eine Intoleranz und Überheblichkeit in der Bewegung, die sich ...negativ auswirkte. Das zeigte sich besonders in Bezug auf die Frauen, die als gleichwertige Beteiligte von vielen Männern nicht akzeptiert waren."(ebd. S. 124)
Frauen mussten sich ihre Rechte für ein besseres Leben selber erkämpfen. Der Paragraf 218, der Kuppelparagraf, die Stigmatisierung alleinerziehender Mütter, die Einrichtungen von Frauenhäusern und Notrufzentralen waren konkrete soziale Projekte, die bis heute Bestand haben. Doch was ist aus den Polit-Maximen geworden?
Verschwundene sozialistische Länder, prekäre Arbeitsverhältnisse und eine fortschreitende Militarisierung zeichneten zunächst ein düsteres Bild - war also alles umsonst?
Die AKW-, die Friedensbewegung oder die Ostermärsche, die Zeit des Aufbruchs und des Umdenkens hat zweifellos auch nachhaltig so einiges bewirkt und die politische Auseinandersetzung hat Spuren hinterlassen.
Nahezu übereinstimmend berichten die Autoren, dass ihr politisches Bewusstsein auch noch heute - rund 50 Jahre danach - ihr Leben bestimmt. Konkrete Arbeitszusammenhänge, ob bei der Stadtteilarbeit, beim Mieterkampf, als Flüchtlingshelfer, im Hospiz oder beim Überarbeiten pädagogischer Konzepte - für nahezu alle angesprochenen Autoren gehört die gesellschaftliche Arbeit integral zu ihrem  Selbstverständnis dazu. Die Aufbruchstimmung hat Spuren hinterlassen, und für viele scheint - wenn man den Autoren Glauben schenken darf - die sog. Sinnsuche nun wohl tatsächlich geglückt zu sein.

Christoph Ludszuweit

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