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Fräulein Nettes kurzer Sommer

Roman

Von Karen Duve

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Wolfgang Braun schrieb uns am 24.09.2020
Thema: Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer

Annette von Droste-Hülshoff war als junge Frau Opfer einer Liebesintrige geworden, die sie schwer und nachhaltig gekränkt hat. In ihrem neuesten Roman „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ macht Karin Duve diese Lebenskatastrophe zum Thema.
Wer ihren später auch verfilmten Roman „Taxi“ gelesen hat, weiß, dass Karen Duve Meisterin eines ganz speziellen Humors ist, der das Bizarre und Skurrile von Situationen genüsslich ausmalt. Diese Kunst kommt in der Schilderung einiger Jahre der 1797 geborenen und 1848 gestorbenen Schriftstellerin („Die Judenbuche“) und Komponistin nicht zu kurz. Die in dem Roman auftretenden Personen erscheinen nicht selten ein bisschen als Karikaturen ihrer selbst. Die Hauptperson schildert die Autorin als glupschäugig, kurzsichtig, nicht selten frech, laut und vorlaut, die häufig bewusst gegen die weiblichen Rollenerwartungen ihre Zeit und ihres Standes verstößt. Das und vor allem, dass sie sich ambitioniert schriftstellerisch betätigt, erregt das Missfallen ihrer Umgebung.
Schauplatz ist der Bökerhof bei Brakel. Hier residieren die von Haxthausens, der Zweig des alten westfälischen Adelsgeschlechtes, aus dem die Mutter von Annette von Droste Hülshoff stammt. Schauplätze sind aber auch die Abbenburg und die Hinnenburg bei Brakel und Schloss Wehrden bei Beverungen, wo weitere Verwandte wohnen. Eine weitere Hauptperson ist ihr Onkel August von Haxthausen, der sich später als Agrarexperte einen Namen gemacht hatte. Er konnte namhafte Autoren seiner Zeit zu seinem Freundeskreis zählen, darunter die Brüder Grimm, Hoffmann von Fallersleben oder Clemens von Brentano, sodass man in der Literaturgeschichte von dem Bökerhofer Romantikerkreis sprechen kann.
Karen Duve nutzt diesen Freundeskreis – dessen Namen sich wie ein „WHO-IS-WHO“ der Geistesgrößen im beginnenden 19. Jahrhundert liest – um meist mehr oder weniger skurrile Situationen zu inszenieren und wie einer Perlenschnur aufgereiht aneinander zu knüpfen. Sie taucht dabei in das Göttinger Studentenleben Anfang des 19. Jahrhunderts ebenso ein wie in das Kassel von Jakob und Wilhelm Grimm.
Einer der Göttinger Freunde ist der arme und hässliche Dichter Heinrich Straube, den August von Haxthausen aushält, weil er in ihm den neuen Goethe sieht. Während ihrer vielen Aufenthalte im Bökerhof in diesen Jahren verliebt sich Annette in das junge Genie. Er ist der einzige, der ihr mit Respekt, Verständnis und Zuneigung begegnet und sie als Schriftstellerin hochschätzt. Für ihre eigentliche Umgebung ist diese Beziehung zu einem Bürgerlichen ein Unding. Alle wissen aber von den Absichten eines weiteren Haxthausen-Freundes, August von Arnswaldt, sich ihr zu nähern, angeblich um ihre Treue zu Struve zu testen. Er drängt sie zu (aus unserer Sicht) harmlosen Intimitäten und erzählt davon Struve, der darauf mit Annette bricht. Tief gekränkt bleibt Annette dem Bökerhof in den nächsten 17 Jahren fern. Die seelische Verwundung ist so folgenschwer, dass sie danach auch jahrelang nichts mehr schreibt.
Karen Duve gelingt es in diesem gut recherchierten Buch – „eine Mischung aus Sachbuch und Liebesroman“, wie sie selbst sagt – mit sehr viel trotz aller Ironisierungen großen psychologischen Einfühlung in ihre Personen einen spannenden Zeitroman zu schaffen, der uns in die beengte Welt des Biedermeier führt und in der eine starke Frau wie Annette von Droste Hülshoff nicht glücklich werden kann.

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Bories vom Berg schrieb uns am 22.02.2022
Thema: Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer

Frauenfeindliche Spätromantik

Mit dem Katastrophenjahr der Anette von Droste-Hülshoff hat die äußerst vielseitige Schriftstellerin Karen Duve einen faszinierenden Stoff gefunden, mit dem sie der berühmten Dichterin in ihrem Roman «Fräulein Nettes kurzer Sommer» ein weiteres Denkmal gesetzt hat. Die fiktional angereicherte Geschichte spielt im kleinadeligen Milieu ihrer weitverzweigten, im Münsterschen angesiedelten Familie, ergänzt um viele Geistesgrößen der Zeit, die als gerngesehene Gäste dort verkehren. Mit «kurzer Sommer» im Titel wird auf eine Zäsur im Leben des im Familienkreis nur «Nette» genannten, aufmüpfigen Freifräuleins angespielt, die sich nicht nur prägend auf das weitere Leben der Dichterin, sondern auch auf ihr späteres Werk ausgewirkt hat.

«Was tatsächlich im Sommer 1820 auf dem Böckerhof vorgefallen ist, liegt im Dunkeln», heißt es im ersten Satz des dickleibigen Romans. Heinrich Straube, ewiger Student in Göttingen, von seinem Studienfreund August von Haxthausen, dem Onkel von Nette, alimentiert und als neuer Goethe hoffungslos überschätzt, ist 1819 Gast der Familie. Er wird von August überschwänglich als «Phänomen an scharfem Verstande» vorgestellt, «… von dem schon jetzt das Licht des zukünftigen Ruhmes ausstrahlt», «… und ein Geruch wie von einem nassen Hund», ergänzt Nette vorlaut. Trotz dieses peinlichen Fauxpas verliebt Straube sich in die wenig attraktive, aber geistig brillante Nichte seines Freundes und stellt ihr nach. Als sich das Freifräulein in einem schwachen Moment von dem eher hässlichen jungen Mann küssen lässt, wähnt der sich am Ziel seiner Wünsche, «Sein Glück war gemacht», heißt es dazu im Roman. Eine grandiose Fehleinschätzung, denn sowohl der Standesunterschied als auch die konträren Konfessionen der Beiden lässt eine Ehe absolut undenkbar erscheinen.

Nach dieser Einleitung und einem kurzen Hinweis auf den verheerenden Ausbruch des Vulkans Sumbava östlich von Java, der das Wetter weltweit auf Jahre hin verändert hat und durch monatelangen Dauerregen auch in Westfalen Missernten und Hungersnöte zu Folge hatte, erzählt Karen Duve im Rückblick vom ereignislosen Leben ihrer Protagonistin im Kreise der adeligen Großfamilie auf ihren verschiedenen Landgütern, ein im Ritual erstarrtes Dasein. Sie berichtet zudem vom lustigen Studentenleben in Göttingen, von langweiligen Kuraufenthalten und beschwerlichen Reisen. Neben anderen Bewerbern bemüht sich der charismatische Jurastudent August von Arnswaldt um Nette, insgeheim und vorgeblich, um ihre Treue zu testen, was dem Schönling denn auch gelingt, - die ach so sittsame Nette lässt sich von ihm küssen. Als Fräulein Nette ihn nach diesem Ausrutscher strikt zurückweist und ihre unverbrüchliche Liebe zu Straube beteuert, berichtet Arnswaldt Straube von diesem Vorfall. Beide wenden sich von ihr ab und sehen sie nie wieder, und auch die Familie hat sie nun gegen sich, alle hacken auf ihr herum, - ein Katastrophenjahr für sie!

Mit fleißig recherchierter Detailfülle, von der ein zwölfseitiges Literaturverzeichnis zeugt, erzählt Karen Duve in ihrem spätromantischen Gesellschaftsroman kenntnisreich vom Leben auf den westfälischen Landgütern und von den vielen interessanten Gästen und Freunden. Zu denen gehören die eifrig Märchen sammelnden Gebrüder Grimm ebenso wie Hoffmann von Fallersleben. Und sogar Heinrich Heine taucht darin auf und widerspricht Straube, der ihn im Gespräch den letzten Romantiker nennt: «Ich bin die Überwindung der Romantik!» Die eher lakonisch erzählte Geschichte ist unterhaltsam und bereichernd zugleich, sie vermittelt ein authentisch wirkendes Bild dieser frauenfeindlichen Epoche. Leider bleibt ausgerechnet die berühmte Protagonistin in ihren literarischen Aspekten ziemlich blass in diesem ansonsten in epischer Breite erzählten Roman, der mir speziell beim ritualisierten, immer gleichen Familienleben denn doch zu ereignislos erscheint. Trotzdem ist er eine den Horizont des Lesers erweiternde, angenehme Lektüre.

Fazit: erfreulich
Meine Website: http://ortaia.de

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