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Gottfrieds Ironie

Sieben Kapitel über figurenpsychologischen Realismus im „Tristan“. Mit einem Nachspruch zum „Rosenkavalier“.

Von Florian Kragl


Gertraud Pippow schrieb uns am 11.07.2022
Thema: Florian Kragl: Gottfrieds Ironie

Wie fremd ist uns das Mittelalter?

Ist es wirklich so, dass uns Werke wie Gottfrieds „Tristan“ „trotz aller Bemühungen im Grunde doch immer fremd bleiben werden?“ (Kragl., S. 318)

Statt einer Rezension im eigentlichen Sinn habe ich vor dem Hintergrund meiner eigenen Studien zu Gottfrieds „Tristan“ einen Kommentar verfasst zu Florian Kragl: „Gottfrieds Ironie. Sieben Kapitel über figurenspezifischen Realismus im Tristan mit einem Nachspruch zum Rosenkavalier“; Berlin 2019.
Da Kragl selbst seine „Studie“ bezeichnet als „Produkt einer Lektüre des 21. Jahrhundert“ (Kragl, S. 284), habe ich meinem Kommentar  den Titel gegeben:  „Sieben Thesen zu einer  Studie zum „Tristan“ des Gottfried von Straßburg aus der Sicht einer Leserin des 20. Jahrhunderts gegenüber gestellt einer Studie eines Lesers aus dem 21. Jahrhundert.“
Sofern Kragls Werk verstanden wird als moderne methodische Grundlagenforschung, eingeschlossen ein alternatives Methodenverständnis der Textanalyse und dabei zugleich als eine Provokation gegenüber traditionellen Interpretationsansätzen der Germanistik zu Gottfrieds „Tristan“ darstellt, verstehe ich meine sieben Thesen als Herausforderung, am Beispiel eines mittelalterlichen Textes aufzuzeigen, was und wie Sinn und Sinnverstehen unter dem Blickwinkel von Intentionalität erzeugt wird und rezipiert werden kann. Darin kommt ein alternativer Denkansatz zum quasi technisch-deduktiven Verfahren Kragls zum Ausdruck, der zu einem evolutionären Verständnis von (mittelalterlicher) Literatur in Richtung auf Generierung der Selbstwerdung des Menschen führen kann.
Vor dem Hintergrund der von Kragl indirekt berührten Frage: „Wie fremd ist und das Mittelalter?“ (Kragl, S. 318) ist auch unser kulturelles und geistiges Selbstverständnis angesprochen, eine Frage, die sich gerade dort stellt, wo sie erledigt erscheint.

1.These: Der „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg ist kein „Text“

Wir beginnen mit einer kritischen Sicht auf ein in der Arbeit Kragls einerseits von ihm kritisiertes, andererseits aber letztlich ihr selbst zugrundeliegendes Methodenideal in der modernen Germanistik, nämlich die sich als „exakte“ Wissenschaft verstehende strukturalistische Narratologie. Kragl kritisiert deren „vermeintliche Objektivität“ und „Kleinmaschigkeit des terminologischen Rasters, mit dem man der Texte Herr werden will“ und beobachtet, dass „die streng narratologische Beschreibung poetischer Texte“ in „Stillstand verfällt“ (Kragl, S. 1-5).
Im Widerspruch dazu stellt er seine eigene Arbeit seinerseits auf eine von ihm selbst nicht weiter hinterfragte Prämisse: „Dieses Buch gründet in der Überzeugung, dass der ´Tristan `Gottfrieds von Straßburg ein guter Text ist“ (Vorwort, S. IX), d.h. er geht grundsätzlich davon aus, dass das Werk Gottfrieds ein „“Text“ im Sinne eines bewertbaren Objekts ist und insofern ebenfalls der einseitigen Subjekt-Objekt-Beziehung des modernen Wissenschaftlers zu seinem Gegenstand unterliegt. Eine Perspektive auf eine andere Erzählabsicht des Dichters, z.B. die Einbeziehung des Lesers in eine durch das Werk zu gründende Kultgemeinde, wird nicht in Betracht gezogen,[1] obwohl Kragl selbst an anderer Stelle die Beobachtung macht, dass zum Ende des Werkes hin „die Liebenden und ihre Hörer oder Leser … zusehends ununterscheidbar werden“ (S. 280), d.h. dass die Subjekt-Objekt-Struktur zwischen Lesern und handelnden Figuren sich reduziert.
„Die Motivation von Erzähltexten“ genau zu untersuchen sei die zentrale Aufgabe der Analyse literarischer Texte und daher ein Ziel des figurenspezifischen Realismus. Das Desiderat der strukturellen Narratologie sei vor allem die Ausblendung „motivationslogisch labiler Stellen“ (Kragl, S. 3).
Aber da Kragl bei aller figurenpsychologischen Genauigkeit letztlich immer auf der - vordergründigen -  Handlungsebene bleibt, stößt er selbst dabei auf Grenzen und kommt zu dem resignativ erscheinenden Schluss, „dass uns der Tristan wie auch das Gesamt der mittelalterlichen Literatur – im Grunde doch immer fremd bleiben wird.“  (Kragl, S. 318). Das würde bedeuten, dass wir uns durch diese – ihrerseits methodologisch reduktionistische – Betrachtungsweise selbst von den Quellen unserer kulturgeschichtlichen Herkunft abschneiden und in die Richtung der eigenen Selbstentfremdung bewegen. Die Untersuchung paralleler Stellen zu meiner eigenen Arbeit zeigt, dass überall dort, wo Kragls Analyse an Grenzen stößt, z.B. bei der Deutung des gesamten zweiten Handlungsteils (vgl. Vorwort, S. XII: „den zweiten Handlungsteil meide ich auch gerade wegen seiner statuierten Grenzziehung, weil mit Beginn der ehebrecherischen Liebe der Habitus des Textes sich entscheidend ändert …“), gleichwohl und gerade deshalb sinnvolle Strukturzusammenhänge aufgezeigt werden können und müssen.
Kragls Absicht, „eine Grundlagenarbeit für eine methodisch kontrollierte historische Erzählforschung“ zu leisten, hätte bei dem Eingeständnis der „Fremdheit“ der mittelalterlichen Literatur, und das heißt partiell auch: des Nichtverstehens, einen Widerspruch erkennen und die „methodische Kontrolle“ auf ihre Tragfähigkeit hinterfragen müssen.  
Als Leser des 21. Jahrhunderts muss man sich dann einlassen auf Tiefenschichten des vordigitalen Zeitalters oder über diese hinaus gehen und auch unsere geistige (kulturelle)  Evolution als Resultat eines komplexen natürlichen Prozesses  betrachten, in dem Begriffe wie „modern“ und „veraltet“ als wissenschaftliche Werturteile bedeutungslos werden.

2. These: Die „rihte“ ist die innere Logik des Geschehens und nicht die stoffliche Richtigkeit

Wenn Gottfried im Prolog als Zielorientierung seiner Erzählung ihre „richte“ und ihre „wârheit“ nach dem Vorbild des  Thômas von Britanje bezeichnet, so ist damit nicht, wie es vorschnell dem modernen Leser erscheinen mag, die stoffliche Richtigkeit der Handlungen und Motive gemeint, sondern die Darstellung und Entwicklung der inneren Logik des Geschehens, die umso „wahrer“ wird, je schlüssiger und konsequenter sie ihrem immanenten Sinn entsprechend verändert und ausgeweitet wird.
Die sinnenfälligste Neuerung des Thomas gegenüber seinen Vorgängern ist das in der Geschichte vom „Bildersaal“ angelegte Pygmalion-Motiv und das darin enthaltene Verhältnis des Künstlers zu seinem Werk.
Gottfried übernimmt dieses Motiv, transponiert es aber in einer dem Leser nicht unmittelbar erkennbaren[2] Form in das Medium der Musik: Dem Bildersaal entspricht der „edele leich Tristanden“, den Tristan nach seiner endgültigen Trennung von Isolde für sich selber „gerne“ spielt. Und „seine“ Isolde formt er nicht aus Lehm, sondern erzieht sie im Medium der Musik zu seiner ihm adäquaten Partnerin.[3]
Durch die Musik als „reine Bewegung der Innerlichkeit“ (Hegel) kann die in dem Pygmalionmotiv enthaltene Verinnerlichung der Beziehung von Künstler und Werk konsequent weitergeführt werden, denn da das Objekt seiner Kunst die Liebe, d.h. auch seine eigene sich im Liebesvollzug entäußernde Subjektivität betrifft, verlangt diese Struktur, dass auch diese Subjektivität in das Kunstwerk einbezogen wird. In letzter Konsequenz bedeutet dies die physische Selbstzurücknahme des Künstlers und seine spirituelle, dem sin entsprechende Lebendigkeit („Auferstehung“) in seinem „Werk“, nämlich in der durch die Rezeption der Dichtung vermittelten Liebesgemeinschaft der edelen herzen.
In der reflektorischen Praxis des Kults wiederholt sich daher das Speisewunder in der Minnegrotte, aber objektiviert (als brôt) zum eucharistischen Liebeskult.
Die von Florian Kragl aufgezeigten Stilmittel des Figurenrealismus, der mehr oder weniger differenzierten Handlungsmotivation und schließlich besonders die Ironie tangieren diesen Aspekt zunächst nicht und sind gegenüber der in dem Verhältnis von Künstler und Werk angestrebten Zielorientierung zunächst nachrangig, wobei aber die Frage offen bleibt, was Tristan zuletzt mit dem „Rosenkavalier“ verbindet.

3.These: Tristan ist und entwickelt sich als der Künstler seiner selbst und seiner Geschichte.

Tatsächlich erscheint Tristan als Künstler seiner selbst, und zwar am deutlichsten angesichts seiner durchaus nicht „absurden Schwertleite“ (Kragl, S. 31), deren Darstellung der Dichter nicht leisten zu können glaubt („sô kleine als ich gesinnet bin“ (4921), weil ihm zunge und sin als die beiden Organe des Dichters dazu nicht ausreichen. Nach einer eingeschobenen sich steigernd aufgebauten Dichterschau und einer darüberhinausgehenden Anrufung zum Helikon, dem Thron des Dichtergottes Apoll, ist es am Ende einer langen Klimax schließlich Tristan selbst, der diese Aufgabe löst, indem er seine Rüstung, seine bereitschaft anlegt und sie dadurch auf sich als sein Äußeres bezieht. Seinem edelen muot eignet die durchliuchtec machende Kraft, die ein Inneres zu veräußern vermag, wirkt wie der Tropfen aus der kristallîn klaren Dichterquelle. Tristan selbst tritt dadurch in die Funktion des um Hilfe angeflehten apollinischen Künstlers ein, wird Künstler seiner selbst.
Grundstruktur dieser Kunst ist sozusagen ein umgekehrtes Verhältnis von Innen und Außen: die Aufgabe, ein Inneres in einem Äußeren zum Ausdruck zu bringen, es zu „veräußern“, leistet das Innere, indem es die Bedeutung des Äußeren durch sein Handeln und  Denken schafft: der man gezam dem rocke baz/ …/ vil mere danne der roc den man“ (6574 f.)[4].
Die Funktion Tristans als Künstler seiner selbst wird schon bei seiner Zeugung und Geburt vorgezeichnet: Gezeugt „âne sinne“, d.h. in der Ohnmacht des im Plural anonymisierten ästhetischen Vermögens der Mutter wird er geboren aus deren Sterben heraus, das seinerseits im Bild einer Umkehr und Zurücknahme der Vermögen des Dichters dargestellt wird: „ir zunge, ir munt, ir herze, ir sin / daz was alles dô dâ hin“. Sozusagen von außen nach innen nimmt sich die dichterische Verlautbarung in sich zurück, die Mutter verstummt, und die „seneklage“ bleibt verschlossen in ihrem versteinerten Herzen. An ihrer Stelle gebiert ihr Leib das Kind: „das genas, und lac sî tôt“ (1748), so dass es gewissermaßen als deren Entäußerung auf die Welt kommt. Dabei bekommen die ästhetischen Vermögen des Dichters, zunge und sin in jeweiliger Verkehrung des Verhältnisses von „außen und „innen“ vorausweisende Funktion auf Tristans Bestimmung, der Künstler des senemaere zu werden, an dessen Stelle er geboren wurde.  
Diese Zusammenhänge überhaupt zu sehen, ist offenbar dem auf technische Zweckrationalität hin ausgerichteten Leser des 21. Jahrhunderts schwer zugänglich, denn aus dieser Sicht erscheint Tristans Schwertleite als „absurdes“ Unterfangen, dem kein analytisches Interesse gebührt, und nicht als der Angelpunkt der Romanhandlung, an dem der Dichter Gottfried hinter seine Figur zurücktritt und sie loslässt zum Subjekt einer anderen Handlungs- und Sinnebene.

4. These: Der Minnetrank ist das negative Korrelat zum Dichtertrank

Wenn die Liebe zwischen Tristan und Isolde sich nach dem Schema künstlerischen Produzierens in die Gestalt eines Kunstproduktes hervorbringt, dann muss der Minnetrank als Moment dieses Prozesses künstlerischer Selbstproduktion deutbar werden.
Sofern das Kunstprodukt die Gestaltung der Liebesbeziehung des Künstlers selbst, seine Innerlichkeit betrifft, d.h. seine Subjektivität in den Prozess des Kunstschaffens einbezogen werden muss, kann dies nur durch eine Kraft geschehen, die von außen einzuwirken scheint und den freien Willen im Sinne der vis a tergo befällt und in ihren Bann zieht. Wie die  gelîmete Minne wird der Minnetrank als Zwang von außen empfunden und erfahren, wirkt aber als Gegenkraft  und Fortsetzung von Tristans eigenem Schaffen aus der Anonymität und Dunkelheit des Bewusstseins heraus, dem sein eigenes Geschaffensein nicht fassbar ist, sondern sich im mythischen Dunkel verliert und ihm selbst als seinem eigenen Schöpfer als Blendwerk begegnet. Darin liegt das Dämonische, das „Teuflische“, das ihn zum Gegenpol des die kristalline Klarheit des Dichterwortes hervorbringenden Dichtertrankes macht. Wenn Brangaene den Trank später in die wilde, tobende See befördert, obwohl die See bisher nicht als unruhig beschrieben wurde und man sich im Hafen befindet (vgl. Kragl, S. 246), geht es dabei weder um „Symbolik“ noch um „Handlungslogik, sondern um die dem Trank selbst eigene Diabolik bzw. die von außen als solche empfundene Kraft.[5]
Die weise Mutter Isolde, die mit ihren tougenlîchten listen den verborgenen Künsten der Nacht, der Traumvision und der Ahnung zugeordnet ist, betihtet den Minnetrank mit kleinen sinnen, während Tristan sich für die Rückfahrt bereite und berihte.
Während der Dichter sich bei Tristans Schwertleite zu kleine gesinnet fühlte, um Tristans bereitschaft zu beschreiben und Tristan deshalb an dieser Stelle selbst für den Erzähler einspringen musste, wird jetzt der Minnetrank mit demselben, aber in der Pluralform anonymisierten Organ „gedichtet“.  
Florian Kragl ist die Verbalisation bei der Zubereitung des Minnetranks ebenfalls aufgefallen (Kragl, S. 251):

„Vielleicht ist es kein lexematischer Zufall, dass Isolde Mutter, während man die Abfahrt aus Irland vorbereitet, den Minnetrank auf eine nachgerade poetische Weise fabriziert“.

Aber obwohl Kragl die „poetische“ Verbalisation bei der Zubereitung des Minnetrankes bemerkt hat und er weitere Textstellen zitiert, in denen „betihten“ im Kontext von Kunstfertigkeiten das Minnegeschehen betreffend auftritt, schlussfolgert er daraus nicht die grundsätzlich künstlerische Struktur des Minnegeschehens zwischen Tristan und Isolde, die sich spätestens seit der „Erziehung“ Isoldes durch „morâliteit“ über der Handlungsebene generiert und entfaltet.
Ein weiteres Beziehungsfeld in diesem Kontext erschließt sich im Rückblick auf  Tristans Taufe: Bei der Suche nach einem passenden (gevallesamen) Namen für das Kind kommt nach langem, ratlosem Schweigen sein Ziehvater bei der Betrachtung von des kindes dinc von ende her“(1985) zu dem Entschuss: „sô nenne wir in Tristan“;  „und von der Âventiure sô wart daz kint Tristan genant“ (1996 ff). Mit dem Namen ist seine Bestimmung, sein dinc von ende her angesprochen, aber noch nicht begriffen, die Erfüllung der Bedeutung des Namens leistet Tristan später indirekt selbst, indem er als „Tantris“ die weise Mutter Isolde täuscht, die den Minnetrank poetisch „fabriziert“ und damit das Prozessgeschehen in seiner Innen-Außen Dialektik in Gang setzt, so dass vermittelt über Tristans Verwechslung des Trankes mit dem (eschatologischen) Wein das Geschehen in der Weise eines „bloß“ faktischen Ereignisses seinen Gang nimmt und das Schicksal sich erfüllt bzw. „fügt“ wie in der griechischen Tragödie.
Auf eine entsprechende Struktur hätte Kragl auch kommen können bei seiner sehr detaillierten Analyse der Entwicklung der Minne-Beziehung nach dem Minnetrank: „Die Frage kann nicht sein: Verlieben sich Tristan und Isolde, noch ehe sie gemeinsam den Minnetrank trinken? Die Frage, die die Forschung immer wieder umtreiben wollte, wäre so naiv wie aussichtslos: Der Text weist eine solche ‚präpotionale‘ Liebe vehement zurück und tut nichts dazu, sie gleichsam gegenständlich greifbar zu machen.“ (Kragl, S. 239). Indem Kragl mit dieser umfangreichen und genauen Analyse bestätigt, dass die Suche nach einer Verortung des Liebesbeginns auf der Handlungsebene nicht möglich ist, nähert er sich sozusagen der Schlussfolgerung an, dass hier eine andere Sinnebene wirksam ist, d.h. dass mein Deutungsansatz sich bestätigen lässt.
Entsprechendes gilt auch für die Beobachtung, dass Tristans „Frauenpreis“ nach der Rückkehr aus Irland erstmalig das „Bild“ von Isolde als „die neue Sonne“ schafft, das „in der Handlung davor keinen Grund“ hat (Kragl, S. 241), aber in seiner Rückwirkung auf Tristan der Liebesbeziehung seines Vaters gleicht, d.h. der Künstler schafft sich in der Reaktion auf sein eigenes Kunstprodukt den Bezugsrahmen seiner Minne selbst. (Vgl. These 4)

5. These: Wenn Frau âventiure, das Geschehen bestimmt, gelten Gleichzeitigkeit und Vielzeitigkeit statt Monokausalität

Kragl untersucht unter verschiedenen Aspekten die motivationslogischen Handlungsverknüpfungen im „Tristan“ und stößt dabei immer wieder auf Widersprüche und „Wirrnisse“ (vgl. S. 173), die sich einer zweckrationalen Erklärung entziehen.
Kausallogik, Zufall oder „Unbewusstes“ greifen nicht, wenn Frau Âventiure dem inneren Gesetz der fuoge folgt. Ein Geschehen „von âventiure“ ist dem Handelnden nicht verfügbar, sofern er sich darin hineingeworfen vorfindet. Das Bewusstsein der Subjektivität, der die Negativität ihres Anfangs, ihre eigene Setzung nicht verfügbar ist, gleicht dem des Spielers im Spiel, der dem Regelmechanismus des Spiels folgt, ohne ihn zu reflektieren, weil dies die Aufhebung des Spiels bedeuten würde.[6]
Am eklatantesten tritt die Widersprüchlichkeit, sozusagen das Loch in der Handlungskausalität und der Motivationsstruktur bei der Brautwerbung hervor, der Kragl ein ganzes Kapitel widmet („Werbung für die Brautwerbung“, Kap. I,3, S. 13-28).
Die Frage, warum Tristan um die für ihn bestimmte und von ihm selbst dazu gebildete Frau nicht für sich selbst, sondern für seinen Onkel Marke wirbt, der eigentlich kinderlos bleiben will, um Tristan als seinen Erben einsetzen zu können, bleibt handlungs- und motivationslogisch unbeantwortbar: “Es gibt schlechterdings keinen vernünftigen Grund, weshalb man um Isolde als Braut für Marke werben sollte; gerade deshalb tut man es.“ (S. 27).  Kragl betrachtet diese Frage, wie man den „einzigen harten Bruch im Erzählgefüge des Tristan-Stoffes überbrücken“ kann (S.14), als erzähltechnisches Problem allein auf der vordergründigen Handlungs- und Motivationsebene: „Wie motiviert man die Idee einer Brautwerbung, die, woher man sie auch anschaut, absurde Konturen aufweist“ (Kragl, S.15), statt nach einem Zusammenhang auf der Sinnebene zu suchen.  
Nicht beachtet wird in der Regel (nicht nur bei Kragl), dass die sozusagen in der Rezeptur des Minnetrankes enthaltene Wirkungsabsicht, nämlich die Schaffung einer Lebensgemeinschaft im Sinne der „edelen herzen“ (zu der essenziell die Dialektik von Liebe und Leid an der Grenze von Leben und Tod gehört) weit über das für eine harmonische Ehe eines Königspaares inhaltlich Notwendige hinaus geht und nur möglich ist durch die Ungereimtheiten und „Fehler“ auf der Handlungsebene, d.h.  die Geschichte selbst braucht diese Brüche, um ihre eigene und stofflich nicht vorgegebene Welt der edelen herzen“ im Bewusstsein ihrer Leser zu erreichen. (Vgl. dazu meine Ausführungen zum Prolog.)  
Interessant ist, dass Kragl in dem „motivationslogischen Karussell“ (Kragl, S. 27) einen zentralen Ausgangspunk erkennt: „Tristans irisierendes Isolde-Lob“, das sich auf herze“ und den muot“ (Kragl, S. 26) aller schlägt, auch und besonders Tristans selbst und ihn verwandelt in einen niubornen man, genauso wie einst die Minnne zu Blanschefluor seinen Vater Riwalîn verwandelt hat – aber mit einem entscheidenden Unterschied: die verwandelnde Kraft geht jetzt nicht  von der lebenden Gestalt aus, sondern von der „neuen Sonne“, die Tristan selbst in seinem an ein Minnelied erinnernden Frauenpreis erfindet und darstellt, sie ist das Werk seiner Kunst genauso wie Isolde kurz zuvor vom Erzähler als das „wunder … von schoene und von höfscheid“ als das Werk von Tristans Lehre gepriesen wurde und mit einer Sirene verglichen wird.  
Wenn die Rede konsequent als Minnelied gedeutet wird, d.h. als Kunstwerk mit einer spezifischen gesellschaftlichen Funktion im Kontext des sich auf der Bildebene entfaltenden Minnegeschehens, generiert sich über oder neben der Handlungsebene eine Bildebene, in der sich die Beziehung zwischen Tristan und Isolde als etwas wesentlich Künstlerisches gestaltet, das aber auf der Handlungsebene noch nicht eingeholt ist, im Gegenteil: die Handlungsebene führt durch Tristans Tun zunächst davon weg, um am Ende den von der âventiure intendierten Zweck zu erreichen.
Die Suche nach einer „psychologischen Figurenmotivation“ (Kragl, S. 27) im Sinne neuzeitlicher Zweckrationalität bleibt obsolet, weil sie die für den mittelalterlichen Menschen gegebene Mehrschichtigkeit von Sinnebenen nicht berücksichtigt. Diese mag so etwas wie „Ironie“ erzeugen, die aber nicht zentrales Anliegen sprachlicher Gestaltung sein kann.
Das Handlungsmotiv der Figuren ist gesteuert vom Zweck des Ganzen, und dieses Ganze ist seinerseits bestimmt von seiner Wirkungsabsicht in einem letztlich eschatologischen und nicht sprachlich stilistischen Sinn.

6.These: Das Spiel von List und Gegenlist am Hof als „teidinc“ und nicht als iterative Folge von Schwankerzählungen

Nach ihrer Landung in Kurneval verlassen die Liebenden den freien Spielraum ihrer Minne, das „innere Paradies“, in dem sie einander „durchlûter alse ein spiegelglas“ (11729 f.) sind, und sind gezwungen, ihr Geheimnis mit List und Betrug gegen eine Außenwelt zu verbergen, die sich korrelativ gegen ihre Innenwelt konstituiert hat und deren Höchstwert, die Ehre, einer anderen Gesetzlichkeit folgt.
Kragl sieht an dieser Stelle die Notwendigkeit einer „tektonischen Neuprogrammierung des Romans“ gegeben, weil sich nun alles auf das „Motivationsmuster“ von List und Gegenlist konzentriere, wodurch die „Eigendynamik des Listenerzählens“ zu einer „einsinnigen Handlungstektonik“ führe mit der Folge einer „Verflachung des Romans“ in das iterative Schema des Schwanks. (S. 316/6)
Die betrügerischen Wechselspiele von List und Gegenlist bei Hofe mögen zwar ursprünglich auf schwankhafte Erzählungen zurückzuführen sein, aber Gottfried ordnet sie in einen anderen Kontext ein, indem er sie alle dem Leitmotiv des „teidinc“, der Gerichtsverhandlung, unterstellt, durch die eine Schuld offenbart bzw. verdeckt, im „haelinc“ verheimlicht werden soll. Bildlich manifestiert sich dieses dialektische Wechselspiel von Schein und Wahrheit in dem ambivalenten Spiel von Licht und Dunkelheit, und zwar von der Brautnachtszene bis zum sog. Gottesurteil nicht einfach iterierend, sondern mit Spiegelverkehrungen und steigender Schwierigkeit für die beiden Akteure sowie zunehmender Öffentlichkeit, wodurch das Risiko des Verlustes der aufs Spiel gesetzten Ehre ebenfalls steigt.
Den letzten und abschließenden Zug dieses „Spiels“, das nach dem Verlassen des Schiffes das Leben der Geliebten bei Hofe bestimmt, stellt das Gottesurteil als höchste und explizite Form des Teidinc dar, vor dem höchsten Richter und vor aller Öffentlichkeit.
Kragl zeigt die „Defektheit“ des Gottesurteils differenziert auf, in die das logische Dilemma der Verschränkung von Lüge mit Unschuld und Wahrheit mit Schuld führt. Genau diesen „Defekt“ will das Gottesurteil offenbaren: die Scheinhaftigkeit der höfischen Ehre als die einer Welt, die wähnt, sie könne sich Gott im Erweis ihrer Ehre verfügbar machen und die sich dabei selbst auf die Seite einer gottfernen Welt setzt. Im Gegensatz dazu die gottgewollte Welt der „edelen herzen“, die in der Innerlichkeit ihres Herzens ihre eigene höfische Welt mit ihrer eigenen Sonne der Ehre findet.
Die „Windschaffenheit“ Gottes, der sich auf die Seite der Liebenden stellt, bezieht sich bezeichnenderweise auf Christus, den Gott der Liebe und der Versöhnung, dessen „Tugendhaftigkeit“ die einer anderen Welt ist.
Die nach Kragl (S. 135) „kreuzweis miteinander verschränkten“ moralischen Gegensätze: Lüge mit Unschuld / Wahrheit mit Schuld lösen sich auf bei einer Trennung der Hinsichten gemäß den beiden einander entgegengesetzten „Welten“ bzw. Gesellschaften.
Das Gottesurteil erweist sich als der abschließende Zug in dem beim Verlassen des Schiffes eröffneten Spiel von List und Gegenlist, abschließend deshalb, weil hier die êre, um deretwillen das Spiel von Schein und Wahrheit begonnen hatte, als reiner Schein offenbar wird.
Das Gottesurteil schließt die Reihe der „teidincs“ ab und stellt insofern einen Knotenpunkt im Gewebe zweier Sinnebenen dar. Auch „hier geht es“, wie Kragl sagt, „nicht um das Recht oder Unrecht, … sondern um einen parteiischen Gott, der nicht das Recht als Prinzip, sondern Tristan und die Seinen bevorzugt“ (S. 124f.). Kragl beschreibt und bewertet die Ordalien-Episoden, die sich „einfügen in die ironischen Motivationsmuster des Romans“, im Stil und nach Kriterien modernen Konsumverhaltens: „Die Motivationswirrnis, der ironische Widersinn, der passim an Gottfrieds Figuren zu beobachten ist, macht auch vor Gott und seinem Sohn nicht halt.“ (S. 140) Tristan wird beschrieben als der, „der nicht nur sein Gottesgericht installiert, sondern sich auch noch den Gott erfindet, den er dazu braucht, damit er … seinem eigenen Recht zur Geltung verhilft“ und Kragl bezeichnet im Zusammenhang mit dem Moroldkampf „Tristans Gerede vom göttlichen Recht“ als „Propaganda“ und „Konfektionsware der mittelhochdeutschen Versfabrik“, die „trieft vor religiösen Floskeln“, (S. 124 f.).
Was bei dieser Bewertung aus der Perspektive einer Gesellschaft, die schon als bürgerliche zu bezeichnen wäre, übersehen wird, ist der Umstand, dass der Moroldkampf eigentlich gar kein Gottesurteil, sondern eher ein Gottesbeweis ist oder ein Gottesurteil mit vertauschten Rollen, denn nicht Gott entscheidet über Recht und Unrecht, sondern Tristans Sieg oder Niederlage entscheiden über die Gültigkeit der göttlichen Weltordnung, die ihrerseits an die Ehre  der höfischen Welt gebunden und durch die Feigheit ihrer Vertreter „verkehrt“ worden ist. Indem Tristan siegt, ist die Ehre der höfischen Welt wieder hergestellt, so wie umgekehrt bei Isoldes „gelüppeten“ Eid der Schein der Ehre der Geliebten gewahrt wird, aber auch die Ehre der höfischen Welt nur Schein bleibt.
Die „Windschaffenheit“ Gottes manifestiert sich dann darin, dass er jeweils eine andere Stellung bezieht, aber aus seiner eigenen Perspektive einer tieferen Wahrheit. Das ist in der Tat ironisch, aber nicht im Sinne einer punktuellen stilistischen Figur, sondern als grundlegende Perspektive des Dichters, dass es angesichts der Unentscheidbarkeit des göttlichen Urteils, seiner Ambivalenz und aufgrund der paradoxen Grundstruktur  unserer Existenz im Gesellschaftsuniversum des Vertrauens auf die innere Stimme des eigenen edelen Herzens bedarf ; das wäre tatsächlich „unerhört modern“ (Kragl, S. 139, aber nicht im Sinne eines von Tristan eigenmächtig und beliebig „installierten Gottesgerichts“ (Kragl,.S. 139) zwecks Erzeugung publikumswirksamer Spracheffekte, sondern als Emanzipation vom Aberglauben an ein Gottesurteil, die selbst den modernen Leser des 21. Jahrhunderts in die schwer ertragbare eigene Verantwortlichkeit zwingt.  

7. These: Der Weg in die Innerlichkeit als Prozess der Entmaterialisierung der raum-zeitlichen Existenz von Künstler und Werk

Um den durch den gelüppeten eit beim Gottesurteil „erlisteten“ Schein der Ehre (êre âne êre,16336) zu wahren, müssen die Geliebten den Verzicht auf die state in den gemeinsamen freien Willen aufnehmen, was den ersten Schritt zur Verinnerlichung und damit zur Entwirklichung des Spielraums der Minne bedeutet, sofern „Wirklichkeit“ als Wirken nach außen verstanden wird. Als „espenstiger gelange“ beginnt Minne sich gegen sich selbst zu entfremden. Die auf den Schein der Ehre gegründete Harmonie wird zerstört durch den unmüzigen arcwân, der die Liebenden des Hofes verweist und in die Wildnis vertreibt. Auf der Sinnebene ist der Weg nach draußen in die Wildnis in Wahrheit der Weg nach innen in das herze als das Zentrum des Minnegeschehens.  
Dafür spricht auch ein weiteres „Rätsel“, das Gottfried dem Leser aufgibt:  

Ich hân die fossiure erkant
Sît mînen eilif jâren ie
Und enkom ze Kurnewâle nie. (17140 – 17142)

Die scheinbare Paradoxie, „Ich war dort, aber ich war nie da“ (Kragl, S. 255), löst sich auch hier auf, wenn man den Text so nach Hinsichten liest, wie Gottfried ihn formuliert: „Ich kenne die Grotte, aber war nie in Kurnevenal, d.h. die Grotte kann überall sein, eben weil sie in uns ist, einen Zustand des Inneren allegorisch umschreibt.
Das Innere des Grottenbaues erscheint so als der raumlose Bezugs“raum“ der reinen Innerlichkeit, als der innere Spielraum der Minne selbst. Dieses Innere, die Minne als Vollzug, entzieht sich der direkten bildlichen oder sprachlichen Darstellung, sondern äußert sich in gemeinsamen zweckfreien und d.h. spielerischen Tätigkeiten und vor allem im Musizieren: der Spielraum der Minne wird identisch mit dem Klangraum der Musik, Minne vollzieht sich im musikalischen Spiel, sie ist präsent – und nur präsent – in der Musik als ihrem reinen Ausdrucksmedium.  
Bei diesem reinen spil der Minne in ihrem eigenen Bereich, der Innerlichkeit des Herzens, hat die Minne ihre eigene êre in Harmonie mit der höfischen Gesellschaft, die nicht von außen der Minne entgegensteht, sondern ein Moment ihrer selbst und insofern Erfüllungsgestalt von Gesellschaft überhaupt ist. Aber als „rein“ ist sie auch „bloß“ innerlich, d.h. nicht wirklich.  
Die Utopie des Wunschlebens in der Grotte ist kein individualpsychologisches Geschehen, sondern in der „consonantia“ des gemeinsamen Musizierens ereignet sich eine die Individualität transzendierende Harmonie, die wie ein Analogon zur kosmischen Struktur des göttlichen ordo erscheint.
Durch den Einbruch der wirklichen Außenwelt vermittelt über eine Jagdgesellschaft wird die Utopie des inneren Paradieses aufgelöst, die Liebenden werden geweckt, erschrecken und verlassen wie Adam und Eva das innere Paradies ihres Herzens.
Es beginnt ein Prozess der Selbstauflösung der eigenen Existenz: Isolde als das Werk des Minnekünstlers ganz im Minnebezug aufgehend und daher als von ihm Geschaffene in ihrem Sein vollendet, erfährt bereits im Augenblick der Trennung die Negation ihrer raum-zeitlichen Existenz und überantwortet ihrem Schöpfer das gemeinsame Minneschicksal: „unser beider leben, daz leitet ir“.  
Dem sich entfernenden Gliebten ruft Isolde nach: Tristandes zunge und mîn sin, die varnt dort mit ein ander hin“ (18531). Sie selbst kennzeichnet ihr Verhältnis zu dem sich entfernenden Geliebten mit dem Signum dichterischer Potenz und bleibt selbst entmaterialisiert und ihrer selbst entfremdet zurück.  
Tristan als Schöpfer des Minnebezuges muss das, was Isolde bereits ist, auf seine Weise, d.h. als Künstler, einholen. Als raum-zeitliches Wesen durchlebt er den Vorgang der Entfremdung quasi als dessen materielles Substrat, das sich selbst durch die Hölle des Selbstverlustes hindurch steuern muss.
Dieser Prozess, der hinführt bis zur Entmaterialisierung der Liebesbeziehung in den Klang der Namen Tristan-Isolde, wird von Gottfried in allen Konsequenzen und begrifflichen Details durchgespielt und in meiner Arbeit in den letzten Kapiteln analysiert, so dass hier auf eine Wiederholung verzichtet werden kann.

Schlussfolgerung aus These 7: Der edele leich Tristanden und der Prolog als das Ende des unvollendeten Werkes

Wie bereits in These 1. dargestellt, geht diese Analyse davon aus, dass Gottfried mit dem edelen leich Tristanden das im Bildersaal enthaltene zentrale Pygmalionmotiv seines Vorgängers Thomas, auf den er sich im Prolog beruft, in das Medium der Musik transponiert und damit die dessen Werk innewohnende  rihte als Thômas von Britanje giht herausarbeitet. Statt sich in die selbst gestaltete Statue der Geliebten zu verlieben, singt Gottfrieds Tristan das Lied seiner eigenen Liebe, die „versiegelt“ ist in dem Namen, der das immer wiederkehrende und darum bestimmende Klangelement des Liedes darstellt. Anders als die Plastik, deren Rückbezug auf den Künstler sich direkt nicht darstellen lässt, kann die Musik als „reine Bewegung der Innerlichkeit“ die innere Emotion selbst zum Klingen bringen. Minnebezug als Kunstvollzug war bereits das reine spil in der Minnegrotte gewesen, wobei die Musik unmittelbar zum Ausdrucksmedium des Minnevollzuges wurde, innerer Spielraum der Minne und Klangraum der Musik wurden identisch. Das, was in der Minnegrotte unmittelbarer Ausdruck eines subjektiven Vollzuges war, wird jetzt vom Minnekünstler objektiviert, gestaltet in einem Lied und dadurch unabhängig vom subjektiven Vollzug, Raum und Zeit enthoben. Insofern als Tristan dieses Lied für sich singt, wird diese Objektivation ihrerseits in einen subjektiven Bezug zum Gestalter zurückgeholt, d.h. der Rückbezug auf Tristan als raum-zeitliches Wesen, die physische Existenz des Künstlers steht der vollständigen Entmaterialisierung der Minne in den reinen Kunstvollzug noch im Wege. Erst die Reduktion der Geschichte auf den süezen Namen der Geliebten, d.h. auf das reine klangliche Konzentrat macht sie zeitlos lebendig als senemaere, das edelen herzen zur lîpnar wird.
Als notwendiges Moment des Übergangs des Minnebezuges in die Richtung seiner Entmaterialisierung und Musikalisierung fungiert das irisierende Verwirrspiel zwischen dem raum-und zeitlosen Klang des Namens und der konkreten raum-zeitlichen Wirklichkeit der Person in der Isolde-Weißhand-Geschichte.
Der Prolog beginnt mit dem Akt, der idealiter Resultat und Ausdruck der Wirkung des Werkes ist, zu dem er den Leser hinführt: mit dem „Gedenken“, d.h. mit der Reflexion des in der Dichtung Dargestellten, die sich als dessen Fortsetzung ergibt und dessen Sein ermöglicht (sô waere ez allez alse niht.)
Gottfrieds Dichtung setzt ein mit der Fortsetzung des in ihr Dargestellten in der Überschreitung seiner eigenen Grenze auf ihre Reflexion hin, die ihrerseits die Rezipienten des senemaere miteinander vereint in der Gemeinschaft derer, deren Wesensverfassung es entspricht: der der edelen herzen. Ihnen ist das senemaere „süeze alse brôt“, d.h. in ihrer Gemeinschaft wiederholt sich das Speisewunder in der Minnegrotte, aber nicht in der Immanenz des Minnebezuges, im gegenseitigen Anschauen, sondern vermittelt über die künstlerische Gestaltung und darum objektiviert zum eucharistischen Brot: die aus der Reflexion in der Mimesis des Dargestellten sich generierende Kultgemeinde verwirklicht in der Praxis des Kults die ideale Gesellschaft, in der Minne und Ehre miteinander versöhnt sind.
Das von Kragl so bezeichnete „Eucharistiephantasma“ (S. 280) lässt sich darin erkennen und auch die so dargestellte „Verschränkung zwischen den Liebenden, ihrem Erzähler und seinen Rezipienten“ (S. 279) erklären, wodurch die „Liebenden und ihre Hörer oder Leser … zunehmend ununterscheidbar“ werden, aber mit Wahrung einer „subtilen Differenz“ (S. 280): Diese kennzeichnet aber nicht, wie Kragl beobachtet, eine typische stilistische Eigenart des Erzählers, sondern manifestiert die drei Hinsichten des Geschehens in Bezug auf seine zu versöhnenden Identitäten.
Die darin erkennbare christologische Struktur muss nicht als unbelegbares „Phantasma“ gewissermaßen exaltierter Ideologen bewertet werden, denn das gesamte Werk Gottfrieds lässt, unabhängig von einer bestimmten Deutungsabsicht, in allen Teilen eine Fülle christologischer Bilder und Symbole erkennen, die, wie ich in meiner Tristan-Analyse gezeigt habe, einer intentionalen Struktur folgen und daher einen sinnvollen Deutungszusammenhang erschließen lassen.  
Gottfried schreibt die Geschichte, wie eingangs in These 1. festgestellt, in ihrer rihte. Dem entspricht einerseits die Beobachtung von Kragl: „Er löscht die Erzählmuster, die er mit seinem Stoff vorfand, in keinem Fall.“ (S.247). Aber diese rihte gilt es andererseits auszurichten in ihrer Eigengesetzlichkeit gemäß den kulturhistorischen Bedingungen und Aussageabsichten des Dichters – und die entspricht nicht unbedingt den narratologischen Analyserastern der modernen Germanistik.
Der Versuch, einen mittelalterlichen Text unter diesen Aspekten zu analysieren, mag eine interessante Herausforderung sein, aber ist diese Analyse tauglich, den kulturhistorischen Aussagekern zu erfassen oder bleibt sie in ihrer wissenschaftlichen Objektivität steril und schneidet uns ab von unseren kulturgeschichtlichen Quellen, so dass wir diese nur noch als „grundsätzlich fremd“ erleben können: „Bei aller Bemühung kann nichts darüber hinwegtäuschen, dass uns der >Tristan< - wie das Gesamt der mittelalterlichen Literatur – im Grunde doch immer fremd bleiben wird“  (Kragl, S. 318).

Ein „Nachspruch“ zum Rosenkavalier - Am Scheideweg

Gewissermaßen die „Stellschraube“, mit der Gottfried die ihm von Thomas überlieferte Âventiure gemäß der ihr eigenen wârheit bearbeitet hat, ist die Transponierung des Pygmalion- Motivs und damit der Tristan-Isolde-Minne selbst in das Medium der Musik, sofern dadurch die im Pygmalion-Motiv angezeigte Verinnerlichung des Geschehens erst vollständig entwickelt werden kann. Aber schon die ersten Worte Kragls über Gottfrieds Bezug zur Musik zeigen, dass hier mit dem Begriff etwas völlig anderes gemeint ist: „dass …Gottfrieds Tristan … zwar ein hochmusikalischer Text sein mag, einer, dem auch die Musik wichtig ist, der aber doch kaum selbst Musik im engeren Sinne, also gesungen war;…und dass das andere – Hofmannsthals und Straussens Rosenkavalier – ein Musiktext in Vollendung ist, dem die  Musik als Sprache so natürlich ist, dass es sie anders gar nicht gibt“. Während im Mittelalter Musik Ausdruck des göttlichen Ordo, ja das Heilsgeschehen selbst ist, beschreibt Kragl die „musikalische Figurencharakterisierung“ im „Rosenkavalier“ als musikalische Untermalung von Stimmungen der Charaktere  im Sinne dessen, was allgemein als „Programmmusik“ verstanden wird, wobei der Wechsel zwischen realistischer Charakterisierung der Figuren und deren "Konterkarierung“ das Burleske ausmacht (Vgl. Kragl, S. 354).
So wie zwei Wege, die sich kreuzen, je weiter man auf ihnen geht, sich immer mehr voneinander entfernen, so kommt auch Kragl, indem er von der These ausgeht, es im „Tristan“ mit schalkhaften Brautwerbungstexten und amourösen Wirrnissen zu tun zu haben (vgl.S.349), folgerichtig zum Vergleich mit der modernen Komödie:
Beide Werke widersetzen sich der Forderung des „figurenspezifischen Realismus“ nach „Realitätshaltigkeit“ (S. 353). Aber während der Rosenkavalier sozusagen eine Komödie mit Tiefgang ist, über die man „mit nicht ganz freiem Halse lacht“ (Kragl, S. 353), bewirkt im „Tristan“ die „paradoxe Spreizung aus Tiefsinn und Ironie“ (S. 354) die Verfremdung hinsichtlich eines „realistischen“ Kontextes. Die Forderung nach einer individualpsychologisch rational begründeten Darstellung führt in der modernen Komödie, sofern sich diese als Sittengemälde der zeitgenössischen Gesellschaft versteht, an die Grenze zwischen Kitsch und Dramatik im Sinne von Kragls Schlusswort: „Die Komödie des Lebens erzählt der Ernst der Komödie“ (S. 360), den aufzufangen oder zu verstärken die Musik imstande ist.“
Im „Tristan" dagegen führt die Suche nach einem „realistischen“ Verknüpfungspunkt der Handlung in den sinnlosen Zirkel der Frage nach dem Beginn der Liebe zwischen Tristan und Isolde, weil diese eben tatsächlich kein individualpsychologisches Geschehen darstellt, sondern die Selbstproduktion des Menschen auf dem Wege der Kunst als Vollzug, d.h. der Musik als eine die Individualität transzendierende Harmonie des Kosmos.
Hier haftet dem „Kunstwerk“ noch die Spur seiner Herkunft aus dem Mythos an, dessen Überwindung die Aufgabe einer sich mit sich selber versöhnenden Gesellschaft ist.
Im „Rosenkavalier“ ist diese Aufgabe nicht mehr virulent und wird deswegen auch nicht mehr reflektiert.
Im „Tristan“ dagegen wäre diese Selbstreflexion noch möglich, aber nur dann, wenn er nicht als bloßer „Text“ verstanden wird, sondern als an den Mythos anknüpfende Kulthandlung, die in ihrem Verhältnis zum Leser einen der Liturgie entsprechenden Charakter hat.  
Resultat: Zwei Jahrhunderte am Scheideweg – und damit auch das Bild, das sie uns von uns selbst vermitteln und für die Zukunft entwerfen: Wer oder was wollen, können und werden wir sein?
Die Selbstsicherheit des homo technicus, mit der dieser seine Überlegenheit gegenüber veralteten Analysemthoden betont („Diese Studie bleibt, was sie ist: Produkt einer Lektüre des 21. Jahrhunderts“. Kragl. S. 284) müsste zumindest ins Wanken geraten angesichts der  plötzlich über unsere „Wertewelt“ hereingebrochenen archaischen Verhaltensmuster, die den überwunden geglaubten Mythos lebendiger und fratzenhafter als je zuvor erscheinen lassen.
Die auf einmal aus der Tiefe eines durch die „Aufklärung“ gezähmt gedachten Unterbewusstseins ans Licht steigenden Triebkräfte menschlichen Handelns lassen die Frage zu: „Wie fremd sind wir eigentlich uns selbst geblieben bzw. geworden?“

Anmerkungen

[1] Gemeint ist nicht das stereotype „was will der Text  / das Werk uns sagen?“, sondern eine religiös fundierte Erziehung des Menschen zu sich selbst, z.B. Merseburger Zaubersprüche, Otfrieds Evangelienharmonie, Hildegard von Bingens „wisse die Wege“ bis zu Schillers Schaubühne als moralische Anstalt zusammen mit der ästhetischen Erziehung des Menschen.
[2] Auf den Zusammenhang zwischen Bildersaal bei Thomas und edelen Leich bei Gottfried als „Verewigung gelebten Lebens“ verweist 1963 bereits Bodo Mergell in „Tristan und Isolde. Ursprung und Entwicklung der Tristansage im Mittelalter“, S. 148, von mir zitiert in meiner Tristanarbeit, S. 124, Anm. 211. Aber die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Verhältnis des Künstlers zu seinem Werk und deren Belege am Text werden nicht ausgeführt.
[3] Dass Gottfried dieses inhaltlich wichtige Motiv kommentarlos weggelassen haben sollte, erscheint unwahrscheinlich, die Transponierung in das Medium der Musik dagegen seinem stilistischen Verfahren entsprechend und schlüssig.
[4] Genaueres in meiner Arbeit, Kap. 5, S. 37: Indem Marke seinem Neffen den Minnehelm aufsetzt und ihm den Eberschild überreicht (ohne deren mythische Urheber Vulkan, Cassandra, usw.  noch einmal zu nennen), entsteht ein leitmotivischer Verweis, durch den die dem Mythos eigene schicksalsmächtige Verweisfunktion über das Wissen und Wollen des Subjekts hinaus wirksam bleibt. Indem dabei der konkrete mythische Ursprung in der Anonymität versinkt, vollzieht sich im Vorgang der Bewaffnung Tristans für die Praxis des Kampfes erneut die ihn kennzeichnende Handlungsstruktur:  Sich die Rüstung anlegend, bezieht er sie selbst auf sich als sein Äußeres, realisiert er die in ihr enthaltene Bedeutung und schafft sie neu …. Tristan nimmt das insbesondere in Minnehelm und Eberschild schaubare Minneschicksal auf sich (zieht es sich über) und macht sich so zum Subjekt dessen, was ihn bestimmt.
Tristans Initiation in die höfische Gesellschaft als ein das Sagbare überschreitender Akt ist in der Praxis des Kampfes von ihm selbst zu leisten, und zwar als innerer Vorgang, der sich in der äußeren Handlung nur insoweit spiegelt, als diese auf ihr Inneres hin reflektiert wird.
[5] Symbol und Ironie bezeichnen auf jeweils andere Weise eine von einem festen Standort her auf ein Objekt oder einen Sachverhalt bezogene Perspektive. Hier aber geht es um eine andere Sinnebene, die sich autonom generiert. Die besondere Bedeutung des Tranks in dem hier gegebenen Kontext ist eine poetisch-dramatische, deutbar im Sinne der Aristotelischen Poetik, wonach die „Wahrheit“ eines Geschehens in seiner Darstellung nicht als historische erscheint, sondern als die sich nach innerer Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit ergebende; d.h. das Geschehen ist geleitet von einem ihm selber vom Ursprung her schon immanentes Ziel. Der scheinbar absurde Rückgriff auf den Minnetrank ließe sich dann rekonstruieren als Ausdruck und Beleg für die grundsätzlich entelechische  Struktur des Minnegeschehens, und das entgegen aller „äußeren“, erwartbaren Wahrscheinlichkeit in der Verhältnismäßigkeit einer Ereigniskette. Auf der Ebene dieser Rezeption gäbe es die Ironie der Geschichte als evolutives Geschehen, das sich gegen planendes oder erwartbares Handeln / Geschehen, und das heißt auch gegen alle nur erdenklichen Gegenkräfte durchsetzt.
[6] Als z.B. eines Tages von âventiure ein norwegisches Handelsschiff in Parmenien vor Anker geht und Tristan dort von âventiure ein kunstvoll geschnitztes Schachspiel entdeckt, mit dem spielend er Staunen und Fremdheit erzeugt und deswegen in die Fremde entführt wird, entstehen zwei perspektivisch aufeinander bezogene Handlungsebenen, die sich wechselseitig spiegeln und Bedeutung geben: Das im Vordergrund dargestellte Spiel spiegelt das Geschehen, das sich im Hintergrund wirklich an Tristan vollzieht (seine Entführung in die Fremde) und umgekehrt ist diese Fremde das, was er selbst in der nur ihm eigenen Welt des meisterlich beherrschten Spiels selber schafft. Es entsteht ein Zirkel von Spiel und Widerspiel, in dem sich kein Anfang ausmachen lässt, es hat immer schon begonnen, bevor das Bewusstsein der Spieler sich seiner bemächtigt.

Überarbeitungen folgen demnächst.

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