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Den Himmel zum Sprechen bringen

Elemente der Theopoesie

Von Peter Sloterdijk


Günther M. Doliwa schrieb uns am 24.11.2020
Thema: Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen

Von der Dichtungsnatur der Religion
Neu: Peter Sloterdijk, Den Himmel zum Sprechen bringen Berlin 2020
Besprechung von Günther M. Doliwa, Dipl. Theologe und Autor, 20. November 2020

Von wo aus vom Himmel reden? (Hermeneutik)
Peter Sloterdijk ist ein philosophisches Original. Als radikaler kritischer Denker leistet er grundstürzende Begriffsarbeit. Ich bewundere seine Sprachkraft, seit ich mich seit 40 Jahren in seine Bücher vertiefe, um mir die Augen mit frischem Wasser zu kühlen. Sloterdijk führt in seinem neuen Buch die „These von der Dichtungsnatur der Religionen“ (276) aus. Kein Wort kann bei den Versuchen, die Botschaft des Stifters zu markieren, als gesichert gelten. Die 72 Bücher der Bibel tragen allesamt den Charakter der Dichtung. Wir zitieren munter weiter, als würde das etwas beweisen. Im Begriff „Religion“ steckt mehr Poesie als deren Begriffsnutzer wissen und wahrhaben wollen. Sie merken oft gar nicht, dass sie sich auf einem bestellten Feld tummeln, das hermeneutisch zu erschließen wäre. Theologen nennt er fast liebevoll „Theo-Poeten“. Verfasste Religion, zumal Kirche mit ihrem ganz eigenen frommen Redestil, benutzt Texte, die ja ausdrücklich der Interpretation bedürfen. Um Texte auf reflektierte Weise verstehen und auslegen zu können, braucht es methodisch-praktische Verfahren. Nur der naive Leser kann und darf sie so nehmen, wie sie dastehen. Dann kommt aber auch nur noch Kurioses heraus wie eine 6-Tage-Schöpfung der Welt. Text ist immer auch Kontext und trägt Zeitsignatur. Mensch redet immer von der Erde aus vom Himmel.

Religion und Einbildungskraft (Theopoesie = Gottesdichtung)
Unterstellt man tätige Kräfte in der Welt, tritt das analoge Verstehen auf und beschreibt Ähnlichkeiten „als ein Panoptikum aus Wie-Verhältnissen“ (Sloterdijk, a.a.O.70). Wer den ambivalenten Himmel anruft, sagt Sloterdijk, „das Woher der günstigen Umstände und der schlimmen Unterbrechungen“, hütet eine anrufbare geheime Adresse zum Wieder-ganz-werden… „bis der Geist der Selbsthilfe und des Aufbruchs in selbstgesuchte Abenteuer ihn entlastet oder aus dem Spiel nimmt.“ (71)
Personifikation bildet die Grundfigur der Rede von Gott; „sie modelliert Kräfte, denen eine Intention eingepflanzt ist. Je personaler der Gott, desto dichterischer seine Beschreibung.“ (119) Siegesjubel vereinigt sich mit Demut vor dem Ungewissen und mit Dankbarkeit für Erfolge, die in kultischer Sprache „Segen“ heißen. Die Empfänger empfinden sich als Bevorzugte einer Kraft mit Machtmitteln. Ein Tun braucht wie ein Satz immer ein Subjekt. „Dieser Glaube ist es, der uns zwingt, zu einem Ereignis den Täter hinzuzudenken, zu einem Zeichen einen Absender, zu einem Werk einen Autor, zu einem Universum einen Schöpfer.“ (121) Sloterdijk zeigt, wie Theologie gern in Zirkeln läuft. Beispiel: die Behauptung von Karl Barth, Religionen seien nur Machenschaften, nur christliche Offenbarung habe als Wahrheit zu gelten, ohne anzugeben, woher er das wisse. Zum griechischen Theatergott Deus ex machina gesellt sich der christliche Dogmatik-Gott Deus ex Cathedra.
Im Laufe der Entfaltung seiner „These von der Dichtungsnatur der Religionen“ (276) differenziert er zwischen Erstdichtungen und Zweitdichtungen älterer Götterreden. Im kanonischen Dokument des Christentums sieht er „ethisierende Dichtung“, „die nach dem ganzen Leben greift.“ (84) Bibeldichtung war „altabendländische Passion.“ (87) „Die Gattung Evangelium, ein Amalgam aus Vita (bios) und Spruchsammlung (ta logia), war ihrerseits aus der Matrix der Mythen hervorgegangen, die von Boten, Gesandten und Helfern aus dem Jenseits berichteten.“ Die Sprachfunktion ist evokativ (Hymnen, Gebete, Anrufung, Lied), bestimmt für die Rezitation im gemeindlichen Kultvollzug. Religiöse Rede ist „Poesie in Versen und Prosa“ (89), hervorgegangen aus Fabeln und Symbolen. Schließlich soll im Subjekt ja Universum leuchten! Schriftbasierte Religionen machten sich – so der Vorwurf - die Voraussetzungen ihrer Reden nicht bewusst, um ihren Kult nicht zu gefährden. Aufklärung beginnt im 14. Jahrhundert mit Nominalismus, Antiklerikalismus und Feminismus Boccaccio deckt im Dekameron verheimlichte Abspaltungen auf. Die fromme Lüge muss sich in der Novelle der Wahrheit stellen. Fazit der Aufklärung durch Novellen: „Religion ist die Sache, die nur in einer anderen Sprache verstanden werden kann als der, in der sie sich selbst erläutert.“ (92) Denn „ohne Heuchleikritik ist Religionskritik nicht zu haben.“ (93)

Lehramtliche Panzerung in „Wohlgläubigkeit“ (159)
Ein Kapitel für Feinschmecker katholischer Absurditäten ist Sloterdijks Streifzug durch den keltischen Zauber- „Garten der Unfehlbarkeit: Denzingers Welt“ (127-137). Der Urheber des Theologenlateins, Tertullian aus Karthago, fände darin den gehäuften Gebrauch der Verfluchungsformel für Irrlehren, wo man das Zureden aufgibt und zum Ausmerzen umschwenkt, um das Zusammengehören der Rechtgläubigen sicherzustellen. In Heiliger Schrift sei fundiert, von der Tradition verkündet, was niemals unter „Fiktionsverdacht“ (134) stehen dürfe. Der „Denzinger“, 1854 herausgegeben, 1991 erweitert, ein Kompendium von fünftausend Dokumenten, dieses „Buch der Unglaublichkeiten“ mit unendlichen Selbstzitaten versammelt einen „katholischen Surrealismus“ (135), so maßlos monoton wie unheimlich, so klug wie seltsam. „Der kuriale Satzbau ist von ausgeruhter Mittelmäßigkeit, wie es einer Majestätsrede entspricht“ (135), ohne Pointen. „Wer für Gott spricht, hat keine Einfälle.“ (136) Theologischer Leerlauf, ratlos, ohne Erkenntnisgewinn, der „vom Herkunftsraum der Dichtung… nicht hoch genug denkt.“ (137) „Ratlosigkeit charakterisiert Zeiten, in denen die Traditionen als leerlaufende Selbstbezüglichkeiten ohne Anschluss an die Nöte und Überschüsse der Gegenwart empfunden werden.“ (325)

Religion als Gebilde und Kultstiftung
„Den Herrn hatte man erwartet, was kam, war die Bischofskirche; an deren Rändern flackerte die Naherwartung hin und wieder auf.“ (236) Und mit ihr „die Besessenheit der Weltflüchter“ (235), deren Lebensinhalt die Überwindung der Laster ist, allen voran dem Hochmut (superbia). Die Parusie-Verzögerung macht die Kirche zum Provisorium. Für die Mehrheit musste die Kirche einfachere Verfahren garantieren. „So investierte sie den wesentlichen Teil ihrer ritual-strategischen Energie in die Aufrichtung des Sakraments der Eucharistie.“ (237) Sloterdijk erkennt darin ein fragwürdiges „Schema des Subjektwechsels“. „Wer die Oblate in sich aufnimmt, wird von ihr aufgenommen“ (Ebd.). Der Terminus sacramentum, bei den Römern der Fahneneid der Soldaten (oder Beamteneid), werde in einer Höchstleistung christlicher Theopoesie „in das um Abendmahl und Taufe organisierte System der heilswirkenden Sakramente“ (237) umgedichtet, deren Zahl auf sieben festgelegt wurde beim Konzil von Trient (1545-1563). „In der Taufe wurden die Christen dem Heerführer Christus zum Friedensdienst angelobt.“ (238) Die Verquickung von Friedensdienst und Tötungsbereitschaft trage Früchte in der beliebten Gestalt des heiligen Martin von Tours (+397), „des barmherzigen Soldaten“ (Ebd.). Diese Sakrament- „Umdichtung“ ((237/240) nennt Sloterdijk „die liturgisch bedeutungsvollste Operation christlicher Theopoesie“, eine der folgenreichsten Figuren „der spirituellen Umwertung“ im Dienst „des christlich gesteigerten Sündenbegriffs“ (240). Weltentsagung gilt als Sündenmedizin, als wäre In-der Welt-sein ein Makel. Das Getrenntsein von Gott wird dem Getrennten als eigene Tat/Tatfolge zugerechnet, mit der schalen Pointe der ewigen Wiederholung der Erbsünde in der Eigensünde. Existenz „ist somit per se Sünde und Sündenfolge, als Akt und als Zustand.“ Wir sind in den Tod geworfen. „Der katholische Taufpriester ist in der Sache ein Rettungssanitäter“ (241). Notfalls hilft die Eucharistie weiter.
Tod und Leben werden umgekehrt zur „Hauptstütze der Konstruktion, die sich seit Paulus die ekklesia nennt – die Gemeindeversammlung, die eine Anti-Polis, das heißt einen von Gott als Hausherrn regierten oikos, bildet.“ (241) Auferstehung wandelt seinen Sinn: der Tod wird vordatiert in die Taufe, der Lebensbegriff aufgespalten in wahres und scheinhaftes Leben. Wer das Heil sucht, muss sich verwerfen, sich verabscheuen, sich in Askese üben, wenigstens so tun als ob. „Leben-Tod-Umkehrung“ (256) radikalisiert den inneren Menschen zum „Fünfkampf des Mönchs“ (245) gegen überflüssiges Sehen, neugieriges Hören, hohles Reden, unreines Begehren, heimliches Ressentiment gegen den Gehorsam; gesteigert zur selbstquälerischen Extrem-Askese mit Strafschmerz; abgeschwächt in der Version des einfachen Gläubigen, der da weiß: „Wir sind nur Gast auf Erden…“ „Strategien der Selbstzermürbung im Dienst spiritueller Verwandlung“, mit absurden Schmerzgipfeln, sind für den Philosophen zweifelhaft, da sie „Varianten der Zustimmung zum Abschied vom Eigensinn“ (257) darstellen.

Verschriftlichung als poetischer Prozess
Fast alle religiösen Sätze, Regungen und Gefühle gründen auf einem „Habitusfundament.“ Vorbewusste Prägungen sind fähig später zu leitenden Überzeugungen zu werden. Konkrete Religionsstiftung ist immer ein Weglassen, Zurechthören, Hinzudichten, Umformulieren. Wer dem Teufel das Feld überlässt, betreibt Manichäismus. Modern gesprochen dagegen „müsste die Vermischung von Gut und Böse als Grundzug der Realität begriffen und ihre stets problematische Entmischung als Rätsel der Praxis gelehrt“ werden (265).  Wenn Neuerer (wie Jesus) auftreten, dauert es bis zur Verschriftlichung ihrer Lehren. Als sicher kann gelten, dass Jesus keine Zeile geschrieben hat, was nicht heißt, dass er keine Spuren hinterlassen hätte. „Wer was warum und gegen wen geschrieben oder getilgt hat, ist nachträglich authentisch nicht mehr zu ermitteln“ (267). Das gilt für die um 360 u.Z. kanonisierten Dokumente des Neuen Bundes ebenso wie für den Koran, dessen Kodifizierung mindestens ein Jahrhundert lang auf sich warten ließ.
Vor allem im Islam pflegt man die „Offenbarungslegende des Koran“ (103) an den leseunkundigen Propheten. Von den „zahlreichen, wohl mehr als zwanzig Aufschreibern der Suren“ (104) und aus „zahlreichen Nachschriften der mündlichen Mitteilungen durch Hörer der ersten Stunde“ soll das hoch-ästhetische „Buch Allahs“ entstanden sein. Die Frage, woher Offenbarung überhaupt stammt, bleibt unberührt und ungeklärt. „Es gibt religiöse Gebilde, die, trotz ihrer evidenten poetischen Faktur, von Grund auf leugnen, Gedichte, Fiktionen, Mythen, Projektionen oder sonst wie Werke der Einbildungskraft zu sein.“ (95) Das ist der harte Kern der monotheistisch codierten Religionen. Sie halten die Bindung an den Ritus aufrecht, dämmen Impulse zum Umschreiben der heiligen Schriften ein. Die maßgeblichen Religionen „sind de facto theopoetische Gebilde, deren starkes Merkmal darin besteht, alles zu unternehmen, um ihre Vergleichung mit Mythen, Kulten und Fiktionen anderer Kulturen aus dem Weg zu gehen.“ (95) Berufsmäßige Bekenner werden kategorisch abstreiten, dass Religionen Dichtungen sind. „Sie neigen zur rasenden Empfindlichkeit gegen Fremdurteile in Bezug auf die eigenen doktrinalen Bestände.“ Nicht selten zu Festungsbau – „apologetisch, wehleidig, den gottlosen Zeitgeist beklagend“ (98). Für Praktizierende aber müssen Wort und Handlung korrekt und konkret sein und sich dicht entsprechen. Theologie vermag nicht aus kirchlicher Innenperspektive herauszutreten, solange sie Rom noch immer eine Gans (Reverenz) schuldig ist (wie Sokrates dem Asklepios einen Hahn). Heute suchen „die Vertreter der vertretbaren Religionen“ mit Nachhilfe von Agenturen den ökumenischen Dialog, legen Wert auf die Sichtbarkeit der Marke, verstärken die Kundenbindung, um Spenden zu mobilisieren, verzichten aber auf Missionierung im Revier der Konkurrenz.

Woher Offenbarung?
Gedichte wie Gesetze leben vom Zitieren, Aufsagen, Auslegen und Weitergeben. Ihre Hinnahme erfolgt nach den Bedingungen des Hinnehmenden, der sich für das absurdeste Wunderbare verfügbar macht. „Mohammeds Auditionen fangen unvermittelt mit dem Wunderbaren an“ (103); am Ende ist nicht mehr auszumachen, „in welchem Maß die spätere Offenbarung durch Akte der Redaktion und des Editierens geprägt ist.“ (103) Mohammed beteuert, nicht lesen zu können. Der Engel Gabriel zitiert ohne Scheu Psalmen und Drohreden Jesu. Wer mit Mythen und Ritualen versorgte Völker aufsprengen, in ihre Beseeltheiten und Sinn-Provinzen einbrechen will, muss einen eifersüchtigen Gott aufbringen. Er muss den Durchbruch eines revolutionären Gottes mit dem Zug zur Aufdeckung aller Dinge in Stellung bringen. Bei Nichtannahmebereitschaft der Gabe droht im Ernstfall Verdammnis. „Der Gott, der Paradiese in Aussicht stellt, legt vorsorglich breite Zufahrten zum ewigen Feuer an.“ (107) Wer ein Entweder-Oder in die Welt setzt, öffnet das Tor zur Hölle. Sloterdijk geißelt „die katholische Poesie des Schwelgens im Höllischen“ (Anm. 98, S.234) Wie erscheint Gott dramaturgisch? Er darf sich nicht vertreten lassen durch Schauspieler und Rhapsoden. Wunder machten ihn zum populistischen „Überredungskünstler“ (109). Menschwerdung in Form von Mitbewohner-werden (durch mythische Jungfrauengeburt in Bethlehem samt Kometen) koppelte orientalische Erlösungsphantasien an den Ernst westlichen Denkens. Was künftig von Lehrstühlen und an Hochfesten von Kanzeln verkündet werden wird, redet von einem Wahrheitsbesitz, dessen Herkunft im Nebel der Jahrtausende liegt.

Götterdämmerung (Überweltverblassen)
Sterben Fiktionen, zerfallen Plausibilitätsstrukturen, kommt die Denkfigur der „Götterdämmerung“ ins Spiel. Man denkt an Wagners „Ring der Nibelungen“. Götterwelten lassen sich ohne Neigung zum Verfall nicht vorstellen. Die Übergabe von Kirchengütern vereinfacht den Begriff der „Säkularisierung“. Auch der Begriff „Verweltlichung“ versimpelt den Vorgang der Modernisierung.  Epochenübergreifende Umstellungen aller Lebensformen zu modernen Gesellschaften, die sich selbst im Sinn haben, eröffneten „ein Zeitalter der Selbsternennungen, der spontanen Wortergreifungen, der Zeugenschaften, der Projektionen und Agitationen von unten, innen und außen.“ (178) Suggestive Erklärungen von oben kommen abhanden. „Der zum Sprechen gebrachte Himmel hat die Kioske erreicht.“ (179) Wer etwas zu wissen meint, „spricht per se vom Pult der Realität aus“ (Ebd.). Presse und Literatur lassen die Gesellschaft vor sich selbst erscheinen. Stammtische, nervöse Talkrunden, endlose Parlamentsdebatten plaudern über Weltdinge, nicht über Gott. Die Offenbarung des Wesentlichen geht nicht mehr von oben aus (Theophanie), sondern Weltkinder erklären sich die Welt. Sloterdijk spricht von „Soziophanie“ (Selbsterklärung des Sozialen). Publizistik hält Lagebesprechung, bei Selbstbeunruhigung durch Störungen (Terror) Krisenberatung. Man spricht nicht mehr theologisch über „die wenig aussichtreiche Lage vor Gott“ (181), sondern mit kultivierter Melancholie oder forcierter Appellrhetorik von Klima-, Besitz-, Produktionsverhältnissen. Soziale Medien blubbern Sprechblasen, man nimmt dabei Entfremdungen und Enthemmung des Primitiven in Kauf. Nuancen haben im Sprechgewitter kaum Chancen. Nicht nur Soziologie und Politik nutzen zur Zustandserläuterung Zahlensprache. Statistik hilf nicht weiter. Was ist gesagt, wenn von 7,7 Milliarden Menschen auf dem Papier 2,3 Milliarden Christen gezählt werden, (in 30.000 Kirchentümer aufgesplittert), 1,75 Milliarden Muslime, 1 Milliarde Hinduisten und 0,5 Milliarden Buddhisten bei nur 14 Millionen Juden!? Daneben 1,2 Milliarden Atheisten und Gleichgültige.

Windstille in kirchlichen Institutionen – Nachfrage vor Angebot
Beim Synodalen Weg meinte man, den Schwerpunkt weg von Reformen hin zur Verkündigung (Evangelisierung) legen zu müssen. Man täusche sich nicht über die Schwerpunktverlagerung: „Mit der Wende zum Willen wird der Rezeption der Vorrang vor der Verkündigung eingeräumt, in ökonomischer Sprache: der Nachfrage vor dem Angebot.“ (309) Dabei ist Glaube ein Willensakt. Wie ist „die momentane Windstille des Willens bei der Rezeption ästhetischer Fiktionen“ (309) zu erklären? Wer einfach hineingeboren ist, religiös vorvereinnahmt und sozialisiert, irreversibel imprägniert mit Glaubensinhalten, und nachträglich beiläufig zustimmt (Firmung), diesem Glaubenstypus, sagt Sloterdijk, „fehlt der Mut zum Unglauben.“ (309) Ungläubigkeit werde willentlich außerkraftgesetzt. Wechselgläubige, Sektenaffine wie amerikanisch-evangelikale Freikirchen (die einen Trump wählten), wären „auf dem Weg ins Formlose.“ (311) Wer außerstande ist, seine „lebensleitenden Motive klar genug zu empfinden“, um sein „Leben an ihnen zu orientieren“ (312) wird auch keinem Weg folgen, zu dem er nicht animiert ist. Gleich einem Depressiven, bei dem das Überzeugungssystem ausfällt. Der Trend, auf kirchliche Dienstleistungen dankend zu verzichten, hält unvermindert an.  Da mag man den Windstoß des Geistes beschwören wie man will… Die Kirchen leeren sich. Mitgliederschwund: rund 270.000 (2019).

Auf dem Markt der Meinungen
Wenn sich Religionen auf dem heutigen Meinungsmarkt betätigen, dürfen sie nicht mit Bestätigung rechnen. Sie konkurrieren mit Moden, ringen um Nachahmung, ob des Zeitgenössischen oder des Althergebrachten. Aufbruchsgeist trifft auf Nostalgie, Reformschwung auf Retrokatholizismus.
Der überlieferte Kult kleidet sich traditionell. Parodie strengstens verboten. (260) Die Frage, was fortsetzungswürdig ist, glaubt die Tradition für erledigt. Dabei weiß sie nicht zu sagen, wie wir heute „Christus anziehen“ (Römer 13,14) sollen. Was lange unwidersprochen nachgeahmt wurde, hält sich für ewig. Imitatio Christi (Thomas a Kempis, 1418), die 300 Jahre lang erbaulich alles existenzielle Leid als Analogie der Kreuzigung sehen wollte, prägte eine Version von opferbereitem Christentum.  
Im Überangebot der Meinungen davon auszugehen, dass andere schon irgendwie evangelisiert werden möchten, ist zeitfremd und vermessen. Sprache ist Macht und Ohnmacht zugleich. Als Befehlsmacht, die sich auf seine Ausführung verlassen kann, ist sie weltweit gefürchtet. Als Appell ist sie in der Rolle eines Bittstellers, der auf Fähigkeit (den Willen) zur Einsicht setzt. Bleibt noch die Wort-Macht subtiler Verführung. Machtsprache verrät sich durch herrschaftliche Redensarten, gestützt auf Hierarchie und Nicht-Aufklärung. Da gilt Nietzsches Notwehr-Satz: „Kritik … ist eine letzte Machtäußerung der Einflußlosen…“ (Anmerkung 133, S.126) Viel Kampfenergie verpufft im Echoraum katholischer Medienmilieus in Reiz-Reaktions-Debatten.

Zwischen Verkündigung (Evangelisierung) und Nachahmungspflicht
Die Botschaft weitertragen heißt kirchlich „Verkündigung“ (Kerygma). Ob schlafende Jünger oder törichte Jungfrauen – das Trägheitsgesetz dämpft den Elan der Sendung („Mission“). Desinteressierte schalten einfach um auf Information, Sport und Unterhaltung bei Netflix. Religionsbereitschaft sei jedenfalls nicht angeboren. Ohne Zorn Gottes entfällt auch die Angstpredigt, mit der jetzt Verschwörungstheoretiker und rechtslastige Querdenker aufrüsten. Die apokalyptische Wiederkehr musste historisch ständig umgedichtet und umdatiert werden. Die buchstabenallertreuesten Zeugen sind überzeugt „vom Endzeitcharakter jeder Gegenwart.“ (269) Regierung, Presse, Medien, selbst in robusten Demokratien, würden schwindeln und manipulieren mit Hinter- und Weltmachtgedanken. Ein typischer Sloterdijk dazu: „Skepsis gegen den Weltschwindel bildet die Matrix der Verschwörungstheorien.“ (271) Überhaupt von einem Universalismus zu reden, überschätzt die Fähigkeiten der kleinen Minderheit der Erwählten. Ekklesia bedeutete einst die Volksversammlung der griechischen Polis und wurde auf das Haus Gottes übertragen. Als Kirche meint sie die aus der Welt Herausgerufenen und zum Zeugnis Jesu Christi Versammelten und Berufenen (zu Liturgie, Martyrium, Diakonie). Verfechter der „Hauskirche“ ahnen selten, wie sehr sie Religion privatisieren.
Nachahmungspflicht unterschlägt, dass „das Abenteuer des Zitierens der Fixierung einer heiligen Schrift vorangeht.“ (276) Vor dem Richterstuhl der kritischen Prüfung (Philologie) „kann kein einziges Wort des Neuen Testaments wie des Korans als absolut gesichert gelten, soweit es die Aussagen Jesu oder die Vorträge Mohammeds betrifft. Mehr als eine hinnehmbare Wahrscheinlichkeit ist nicht erreichbar.“ (276) „Die Kopier- und Kompilationswege waren in beiden Fällen zu lang, zu fehleranfällig, zu wehrlos gegen Auslassungen und Zusätze.“ Wie soll da gelingen, Jesu Ur-Worte herauszudestillieren!? Den Vermittlern müsse man, so Sloterdijk, „ko-poetische Tätigkeit“ und Fähigkeit bescheinigen. Das nehme Jesus nichts von seiner Exzellenz als „überragenden Gleichnisdichter“ (276).
Der Koran sei „ein klingendes Großgedicht in Reimprosa“ (276).  Eine „Verzerrung des Jenseits zu einer Freudenhausattrappe für sexuell angestaute Jungmänner“ (277) sei ebenso sinnwidrig wie das mutwillige Missverstehen des Gürtels (Sure 24) als verbotenes Kopftuch. „Wo auch immer man die heiligen Bücher aufschlägt, findet man sich inmitten von Paraphrasen“ und befindet sich in der „Sphäre eines erregten Zitierens.“ (277) Aus „akuter Nachahmungspflicht“ entsprang ein missionarisch-imperialistisches „Expansionsgebot“ (272). Eine theokratische Artikulation der expansiven Botschaft versieht die Sprache mit Imperativen und Appellen. Politisch abzulesen in der Propaganda von „Diktatoren-Feldherren“ (273) In Propaganda-Angelegenheiten sind Staaten wie China längst auf der Überholspur.

Varianten von Poesie
Wo der Philosoph nicht überall Poesie (Dichtung) am Werk sieht! Poesie der Kraft, des Lobs (der Herrlichkeit), der Geduld, der Bestürzung (239), der Übertreibung, der Suche. Poesie setzt mit Phantasie alle Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache ein, um Welterfahrung Gestalt werden zu lassen. Sie kann eine Quelle des Glücks sein. Suchen offenbart sich als poetische Variante von Ratlosigkeit. „
Sehen wir kurz die Poesie der Geduld bei der Gestalt des Hiob an. Ich bin elektrisiert durch das 16. Kapitel in Sloterdijks Buch über Hiob, weil ich mich im letzten Halbjahr intensiv mit der Figur beschäftigt habe. („Hiob. Gottesrebell.“ entstand 2020 daraus.) Sloterdijk wäre nicht Sloterdijk, wenn er nicht eine Vorlage für Hiob ausgegraben hätte, von der ich noch nie etwas gehört habe. Um 1300 v.u.Z. entstand als Auftragswerk eines babylonischen Beamten das sechshundertzeilige mesopotamische Gedicht Ludlul Bél Némeqi: Lass mich den Herrn der Weisheit preisen. Darin geht es um die Herkunft des Übels.
Die Parallelen im Hiob-Buch sind frappierend und können kein Zufall sein. Der Himmel schuldet keine Erklärungen. Da ergeht von ganz oben ein undurchdringlicher Befehl. Der von seinen guten Geistern Verlassene sinkt ins Elend; seine Rivalen triumphieren und berauben ihn; „seine Familie schämt sich für ihn… er stolpert…irrt…seine Wangen brennen von Tränen.“ (205) Für die Verfasser beider Gedichte gilt: Dulden reicht tiefer als Verstehen: „was nicht zu begreifen ist, soll man ertragen.“ (206) Es kommt darauf an, der Vernichtung zu entgehen.
Die Auskunft von göttlicher Seite offenbart eine Zwiespältigkeit: „Der Herr ist die pure Ambivalenz in persona, im Übermaß zornig, strafend, unerbittlich – und zugleich gnädig, milde, zugänglich und zärtlich zugewandt...“ Wer Gott begreifen will, „läuft gegen eine Wand aus unanalysierbarer Zweideutigkeit.“ Unerforschlichkeit heißt: Gott wird gedacht, bestehend „aus Mutwillen, Alleskönnen und Allesdürfen“ (207). Plausibler als Allmacht-Attribute für den zum Sprechen gebrachten Himmel „erschiene heute ein Attribut wie Allzerbrechlichkeit“ (304). Der Gottes-Begriff Allzerbrechlichkeit bedeutet, „daß er, wie an Hiob demonstriert, imstande ist, scheinbar gerade Wege zu unterbrechen.“ (304) Ein Gott mit einem „Reichtum an Hintergedanken“ (210), deren „Kalküle begreifen zu wollen, vermessen wäre“. Der Herr vollzieht sein Prüfungsrecht. „Dulden ist alles. Für den Leidenden gibt es fast wie für einen Toten, kein Projekt, außer der hoffnungslosen Hoffnung, das zu Erduldende möge vorübergehen. Dazu gehört, daß der Dulder die Zumutung bewältigt, am Leben zu bleiben, ohne in eigenmächtige Verzweiflung…auszuweichen.“ (217) Die Frage lautet: „Gibt es ein Leben nach dem Unglück?“ Die Wiederherstellung des Status quo trägt einen Zug von Belohnung der Geduld. Erholung vom Unglück. „Wie könnte man menschlich leben ohne auf irgendeine Weise Glück zu haben oder es zu erwarten?“

Philosophie als Besonnenheit und Vorbehalt gegen Weltuntergänge
„Unter hohen Himmeln“ überschreibt Sloterdijk den zweiten Teil. Wie lernen wir die Kunst des Zusammenlebens und Zusammengehörens, ohne Abweichende und Gleichgültige anzuklagen? Meinungstapferkeit allein reicht nicht. Apokalypse-Angst lähmt. Selbst Plato misstraute einst der Hohlheit der Demokratie, die Zustände falsch benennt und dem Krieg den Namen „Frieden“ umhängt. Resignation der Philosophie, Verzicht auf Begründbarkeit und Orientierung an Wahrheit, kommt nicht in Frage. „Ungleichheit ist das erste Merkmal hierarchisch geschichteter und funktional differenzierter sozialer Ensembles.“ (156) Ungleichheit, „beginnend mit den Differenzen der Geschlechter und der Altersgruppen über die Zugänge zu politischer Teilhabe...bis hin zur Ausbildung des Nachwuchses.“
Aufklärung heißt für Peter Sloterdijk: „Emanzipation des hellenischen Erbes von der christlichen Bevormundung“ (110). Nicht „Fortsetzung des Christentums mit säkularen Mitteln.“ (271) Sloterdijk stört die „Zudringlichkeit“ der religiös Fitten, die mit wüster Apokalyptik drohen, falls man ihre Heils-Angebote ausschlägt. Universalismus gelte strukturell stets nur für eine Elite von Auserwählten. Während die einen ins gelobte Land einziehen würden, bliebe den Verweigerern, Neinsagern und Nicht-Interessierten nur der Weg ins Höllisch-Finstere. „Hölle heißt immerwährende Ausgangssperre.“ (234) Erwählung zerklüftet die Menschheit. Zwei De-Solidarisierungen trennen erst Lebende und Schein-Lebendige, dann Rettbare und rettungslos Verdammte/Verlorene. Drohpolemik mit Apokalypsen verwirft der Philosoph, der sich immer wieder auf Nietzsche bezieht, dem Entlarvungskünstler des unterschwelligen Ressentiments.
Die Umdichtung der jesuanischen Botschaft, indem Väterlichkeit und Tradition wiederhergestellt werde, ist für Kircheninsider leicht nachvollziehbar, wenn man das ständige Aufbieten der Barmherzigkeit von Papst Franziskus gegen die Gesetzes- und Buchstabentreuen in der vatikanischen Hierarchie heranzieht. „Umdeutung christlicher Streitbarkeit“ (283) zu einem staatstreuen Normalitätsmuster banalisiert Jesu Unabhängigkeit vom Staat. Tradition sei beileibe nicht wichtiger als Mode. Gäbe es je ein Amt in der Kirche ohne Neu-Einkleidung!? Vernunft reagiert allergisch gegen Offensivreligionen. Ganz oben auf der Rankingliste der Unglaubwürdigkeit stehen Begriffe wie: Erbsünde; unbefleckte Empfängnis; Himmelfahrt… (306) Aufklärung stellt die orientalische Apokalyptik richtig, indem sich der antike Humanismus revanchiert und ein pragmatisches Zeit-, Geschichts- und Prozessbewusstsein präsentiert. Wer sich zur Moderne bekennt, ruft die Frommen nicht „zum Feldzug gegen den unbekehrten Rest“ (280) (auch im eigenen Herzen) auf. Wenn sich militante Gläubige „der Entschlüsselung der Projektionen von Ressentiments und Eifersuchtsnachahmungen“ (281) entzögen und sich vom Himmel her Legitimation zur Vernichtung sogenannter „Ungläubiger“ verschafften, ist der „Selbstwiderspruch des mit Erwählung gekreuzten Universalismus“ (288) offenkundig. Kirche als antiliberale, antipluralistische, antimodernistische Gemeinschaft der Heiligen hat keine Sonderrechte auf dem globalen Fischfang. Gnadenlose Gnadenlehre geistlicher Globalisierungsagenten – „anfangs vor allem Absolventen der jesuitischen Willensschule“ (297) – eröffneten, „das Zeitalter der Zudringlichkeit“ mit dem vermeintlichen „Recht auf Inbesitznahme der Welt“ (298).

Begriff von Religion - Ein Raum der Nutzlosigkeit
Religionen sind vielfach definierbar:
- „als Systeme von Skrupeln oder …
- als Gebilde funktionierender Absurdität oder
- existentialistisch als Revolte gegen den Skandal der Sinnlosigkeit oder…
- als Ausdehnung der Empathie auf unsichtbare Agenturen oder
- gabenökonomisch als Systeme zur Mobilisierung von Geschenken oder
- ideologiekritisch als feierliche Ergänzung der falschen Welt, sprich als Opium des Volks“ (308).
Gleich ob man „Religion“ therapeutisch, mythisch oder psychologisch bestimmt „oder ganz einfach als Schuldgefühle mit verschiedenen Feiertagen“ (329), im Grunde bleibt Modernen „nur eine Aussage übrig: Sie ist der Rest dessen, was von archaischen und hochkulturellen Weltbildern nach Abzug der pragmatisch und säkular ersetzten Lebensäußerungen übrigbleibt.“ (330) Religion manifestiert Freiheit. „Hätte sie eine unbedingt eigene, unvertretbare, unübersetzbare, unaufgebbare Funktion, so bestünde sie darin, dem Dasein eine Bedeutung, eine Wirkung, eine Strebung, eine Beziehung auf die ‚Wahrheit‘ anzusinnen, die ohne die Daseinsspannung als solche, das Ausgesetztsein in eine überraschungsoffene Ereignisströmung, nicht erschienen sein könnte.“
Konsequenzen nach Peter Sloterdijk
1. Religion ist in der Gegenwart schlechthin frei geworden, entlassen „aus allen sozialen Funktionen“ (331), v.a. aus dem Legitimationszwang für nationale Zusammengehörigkeit. Als Rechtsgut sichert Religionsfreiheit „die Unerzwingbarkeit von Konfession und Kultteilnahme“, und „sie besagt vor allem, daß es eine Staatsreligion auf keinen Fall geben soll, auch keinen Staatsatheismus“ (332). Denn der Staat glaubt an nichts, und darf sich nie für einen Gott halten. Religion ist in die soziale Nutzlosigkeit entlassen. Die großen Kirchen profitieren „von einer Freiheit, zu deren Verhinderung sie bis vor kurzem taten, was immer in ihrer Macht stand. Seit sie machtlos zu sein scheinen, werben sie um die Sympathie der Nicht-mehr-sehr-Gläubigen.“ (333) Dabei nicht frei „von augenfälligen Tendenzen zu defensiver Besitzstandswahrung und identitärer Verschließung“.
2. Das zweite Novum der freigesetzten Religion ist die „Reduktion des Religiösen zu einem Rest“ (333), zu einem Luxus besonderer Art, der Teile des Erlebens an sich zieht. Ihre Rivalen in der Auslegung der Existenz und „Glücksbedürftigkeit“ sind die Künste und die Philosophie, die in ihrem eigenen Namen spricht, „nachdem sie ihre Anstellung als Magd der Theologie gekündigt hatte.“ (335) Beide sind „bei der Eroberung des Nutzlosen – und bei der Freisetzung ihres Eigensinns – der Religion um einen Epochenschritt voraus“, weil Religion erst entstaatlicht sein musste. „Das sichere Zeichen der jungen Freiheit für die Religion ist ihre überraschende, erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit; sie ist überflüssig wie Musik; doch ‚Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.‘ Sie teilt ihren Luxuscharakter mit den beiden anderen, schon früher in die Eigenständigkeit durchgebrochenen Kulturen der Existenzauslegung.“ (335) Alle übrigen, vormals bedeutsamen religionsförmigen Funktionen offizieller Art erweisen sich als ersetzbar, „als sekundäre Leistungen“: Personenkult, Staatsüberhöhung, Festkalenderpflege, Armee-Segen, Eheschließung, Jugenderziehung, Gebäudeweihe, Erntefeier, Eidbesicherung, Seelsorge, Sexualitätslenkung, Krankenpflege, Armenbetreuung, Psychagogik, Beratung in letzten Dingen und Verwaltung der rites de passage. „Den zahllosen Manifestationen zeitgenössischer Massenkultur in volkstümlichen Festivals, Sportereignissen und Popkonzerten verdankt sich der Beweis, dass der Moderne auch die Säkularisierung der gemeinsamen Hochgefühle gelungen ist.“ (336) Religion markiert das Unverfügbare, domestiziert das Unheimliche.
Was ist also die Kernaufgabe der Religion? „Die Auslegung der Existenz … bildet die nicht weiter reduzierbare nukleare Funktion religiöser und spiritueller Besinnung und ihre Manifestation.“ (336)
„Was von den historischen Religionen bleibt, sind Schriften, Gesten, Klangwelten, die noch den einzelnen unserer Tage gelegentlich helfen, sich mit aufgehobenen Formeln auf die Verlegenheit ihres einzigartigen Daseins zu beziehen. Das übrige ist Anhänglichkeit, begleitet vom Verlangen nach Teilhabe.“ (336) Klar muss ein, „daß es beim Glauben… an erster Stelle um eine Eigenleistung des erwachsenen Gläubigen geht, zumal bei den Gebildeten.“ Oder anders: „ohne Willen keine Wahl, ohne Wahl kein Glaube.“ (311) Gnade liefe ins Leere, wäre da nicht „Bereitschaft zur Annahme der Gnadengabe“. (309) Nicht geduldige Leidensbereitschaft sei „die Kerntugend der Frömmigkeit“ (210), sondern „Unwille zur Geduld“ (221). Reifer Eigensinn und Ungeduld sind für Sloterdijk unverzichtbar.

Religionsfreiheit für Luxuswesen
Über Religionsfreiheit ist wohl noch nie so gesprochen worden. Alle Zeichen und Wunder der Welt richten nichts mehr aus. Seit dem Konzil blättert man gern in den „Zeichen der Zeit“, als könnten sie, recht gelesen, richtungweisend sein. Glaubensaxiome, Kulthandlungen reizen immer weniger. Sie sind wie „Religiosität aus zweiter Hand“ (325). Freiheit ist notwendig konfus, unbestimmt, ungebunden, ausgeliefert-sein, „ein Schweben, das dem Empfinden entspringt, man sei ins Dasein ausgesetzt worden, ohne über das Wesentliche informiert zu sein.“ (326) Hieraus darf nicht geschlossen werden, so Sloterdijk, der Mensch sei eben ein „Mängelwesen“, hochgradig sündig und erlösungsbedürftig, also religionsbereit.
„Von Anfang ist der Mensch ein Luxuswesen“, privilegiert weltoffen, das zwar verlegen ist, aber fundamental profitiert von der Zugriffsfreiheit seiner Hände und vor allem durch „die grenzenlose Zunahme seiner Sprachbegabung.“ (327) „Aus Versuchen, Unbestimmtheit aufzulösen, Verwirrung zu beseitigen und Erstaunen zu reduzieren, entstanden im Laufe kultureller Evolutionen alle Disziplinen und Instanzen rationaler Praxis: die Orakel, die priesterlichen Zeichenlesekünste, die medizinische Symptomenlehre, die Debattenkultur, das Gerichtswesen, die Weisheitsliteratur…“ (327) Allen gemeinsam ist, dass sie zwar in religiöse, mythische, kulturelle Muster eingewoben auftraten, aber sich als auflösbar und ersetzbar erwiesen; fähig, „sich aus der Symbiose mit den Sphären von Göttermythos, Ritus und Opferhandlung zu emanzipieren.“ (Ebd.)
Religion war „seit je ein joint venture aus Jenseits- und Diesseitspraktiken“ (328) Durch die Autonomieausweitung der Disziplinen wurden aus den jenseitsbezogenen Prozeduren „folgenarme symbolische Gesten“. Pragmatismus errang die Macht. Die Konsequenz der Verselbständigungen der Diesseitspraktiken zwingt „die eingerichtete Religion, die sich einst für alle Lebensbereiche zuständig erklärte, zu erfahren, „daß sie bei fast allem stört.“ (329) Kirchliche „Hyperkompetenz für sämtliche Bereiche“ (329) ist nur noch simuliert. „Bricht eine Pandemie aus, werden Kirchen, Synagogen und Moscheen geschlossen; Gesundheitsminister und Virologen interpretieren die Lage.“ (329)

Fazit
„Es war möglich, wenn nicht den Himmel, so doch die Sprache, als tönende Rede mit Höhequalität, zum Sprechen zu bringen.“ (330) Das Buch ist Stoff für Grundsatzdiskussionen, nicht im Geringsten Anlass für theologische Arroganz. Religion wird bestimmt als eine kultivierte Freiheit von allen Zwecken. Religion ist nutzlos, aber nicht sinnlos. Zur Existenzerkundung haben sich Künste und Philosophie als ernsthafte Rivalen erwiesen. Inwieweit es Kirchen gelingt, der Kreativität von Künsten (siehe Gerhard Richters Fenster im Kölner Dom!) und gar der Vernunft Zugang zu ihrem nutzfreien Raum zu erlauben, wird über ihre künftige gesellschaftliche Relevanz entscheiden. Nur frei von allem Kalkül haben Himmels-Exegeten und Theo-Poeten Zukunft. Dagegen, sich vereinnahmen zu lassen für fremde Zwecke, haben sich bereits - wenig erfolgreich - die alten Propheten (einschließlich Jesus) gesträubt. In diese Freiheit müssen Kirchen erst treten. Ihre Nutzlosigkeit entlässt sie ins Freie.

© Günther M. Doliwa, 20.11.2020 (www.doliwa-online.de)

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