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Das Ereignis

Von Annie Ernaux


Jan Stumper schrieb uns am 19.12.2022
Thema: Annie Ernaux: Das Ereignis

Eine Erzählung über die Abtreibung einer jungen Frau, die festentschlossen ist, in ihrer aktuellen Lebenslage kein Kind haben zu wollen, legt Annie Ernaux hier dar.
Ihr Erzählstil ist unaufgeregt und klar; Die Erzählerin – nicht direkt Ernaux selbst, aber eine Figur, die biografisch wohl starke Parallelen aufweist – macht sich insbesondere selbst keine Vorwürfe. Die Frage der Moral stellt sich hier nicht.
Ernaux positioniert sich nicht in der Debatte für oder wider des Rechts auf Abtreibung. Für sie besteht dieses Recht natürlich, auch wenn Abtreibung in den sechziger Jahren in Frankreich positiv verboten war. Das Buch ist daher vielmehr eine Anklage an diesen Zustand. Klar erkenntlich wird dabei, wer nach Ernaux Auffassung die Schuld daran trägt und vor allem, warum Abtreibung verboten war.
Die Frage der Abtreibung ist aus dieser Sichtweise eine der Macht und des Patriarchats. Die herrschenden Herrschaften könnten nicht akzeptieren, dass Frauen seitens der Natur die Möglichkeit (und somit auch das Recht?) zukäme, über ungeborene Existenz zu entscheiden. Dies erkläre, so die finale These der Erzählung, auch, warum die Debatte um Abtreibung so aufgeheizt und streckenweise verbohrt geführt werde: Denn der Mann träume, sich selbst die „Macht der Frauen über Leben und Tod aneign(en) und diese reglementier(en)“ zu können (S.98). Diese Machtfrage werde zur Klassenfrage, wenn die Möglichkeiten zumindest auf illegalem Wege eine Abtreibung durchzuführen nur jenen Klassen vorbehalten sei, die auf eine gewisse Schicklichkeit (wahrscheinlich die des Mannes) zu achten hätten und es sich darüber hinaus natürlich finanziell leisten können. Konkret auf die Abtreibung bezogen bedeute dies, die Ärzte seien die Herrschenden und die Frauen und Arbeiter – die, die Abtreiben müssen, weil ihre finanziellen und gesellschaftlichen Möglichkeiten ein Kind nicht tragen können – seien die Beherrschten. Jene hätten somit die Macht über die Abtreibungsfrage auch die sozialen Verhältnisse zu manifestieren, damit ja niemand aus der unteren Klasse sich in höheren Kreisen etablieren könne (vgl. S.88).
Diese Verbindung des Rechts der Frau auf Abtreibung zum Patriarchat und damit zum sozialen Status einer Frau in der Gesellschaft, ist die Kernbotschaft Ernaux Erzählung. Daran kann kritisiert werden, dass andere Aspekte hier keine Rolle spielen. In der Abtreibungsdebatte hochtragende Argumente wie die generelle Frage nach dem Beginn des Lebens, kommen nicht vor. Sieht man „Das Ereignis“ als einen Debattenbeitrag, so wäre dies aber auch nicht nötig – von allen anderen Seiten wird dies nämlich kontrovers diskutiert. Ernaux schafft mit ihrer individuellen Geschichte aber eine neue – und möglicherweise vernachlässigte Sicht – die die Verhältnisse der Abtreibenden in den Mittelpunkt rückt, ohne die moralische Frage zu erörtern. Vielmehr wird sie hier – aus Sicht der Erzählerin – als geklärt vorausgesetzt. Ein Gewicht kommt diesem Buch daher jedenfalls zu. Die Perspektive der Betroffenen werden in den Mittelpunkt gerückt – ohne zu moralisieren oder belehren zu wollen. Vielmehr sagt Ernaux dem Leser: Siehe und urteile selbst, auch wenn die Position Ernaux und der Erzählerin eindeutig sind.
Dass die Abtreibungsfrage eine Problematik ist, die nur durch gesellschaftlichen Wandel gelöst werden könne, zeigt sich zudem daran, dass die Ernaux durchaus nicht verkennt, dass Ärzte auch durch die Gesetzeslage in Form des Verbots und der folgenden Bestrafung von Abtreibungshandlungen, gehindert sind den Frauen zu helfen. Gleichwohl wird dadurch eine individuelle Haltung von ihr nicht entschuldigt, denn wer sich als Mann in gesicherten Verhältnissen bewege, der habe es eben auch nicht nötig etwas am Missstand der Frauen zu ändern, den er insgeheim sogar zu seinen Gunsten – so ja Ernaux These – ausnutzen kann.

Der literarische Wert des Buches liegt in der klaren, eindrücklichen Sprache. Die Verzweiflung und Übermacht des Systems gegenüber einer in ihrer Existenz bedrohten Studentin wird deutlich und unverhüllt erzählt. Ernaux braucht nichts zu dramatisieren, denn die Dramatik wohnt der objektiven Situation der Protagonistin inne. Wie sie es selbst sagt, liegt die einzige Aufgabe darin, aus dem individuellen Schicksaal eine nachwirkende Botschaft zu schreiben. Diese Ziel hat Ernaux erreicht, obgleich auch damit nur eine Seite der Problematik beleuchtet ist.

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