Leserbriefe zur Rezension

Damit die jungen Leute schnellstmöglich in der Wirtschaft aushelfen können - Ulrich Kittsteins Büchlein über "Bertolt Brecht" in der Reihe "Profile"


Ulrich Kittstein schrieb uns am 20.04.2009
Thema: Jan Süselbeck: Damit die jungen Leute schnellstmöglich in der Wirtschaft aushelfen können - Ulrich Kittsteins Büchlein über "Bertolt Brecht" in der Reihe "Profile"

J.S. und der U.d.A.

Dies vorweg: Der Untergang des Abendlandes (kurz U.d.A.), der sich augenblicklich wieder einmal vollzieht (Stichwort: Bologna-Prozeß), stimmt auch mich etwas melancholisch. Gleichwohl rate ich zur Gelassenheit. Das Abendland geht, wenn man den führenden Philosophen und Literaten aller Epochen glauben darf, seit mindestens 2500 Jahren unablässig unter und befindet sich immer noch ganz wohl dabei – dieser Umstand scheint mir die Tragik des ganzen Vorgangs mindestens zu relativieren.
Auch für den Dauerfrust der Akademiker in den geisteswissenschaftlichen Fächern habe ich volles Verständnis. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, ginge es mir wahrscheinlich nicht besser, und in Anbetracht ihrer traurigen Lage muß man sogar sagen, daß sie sich insgesamt noch recht tapfer halten. Den guten J.S. hat’s freilich übel erwischt. Offenbar hat er einen Blick auf mein Büchlein über Bertolt Brecht geworfen – warum, wird nicht ganz deutlich – und dabei immerhin die Register im Anhang sowie den ersten Satz zur Kenntnis genommen, bevor ihn der Gram wegen des U.d.A. übermannte und eine tiefe Schwermut seinen Blick umflorte, die ihn überdies daran hinderte, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Daher fällt die von ihm erzeugte Wortfolge ziemlich verschwurbelt aus. Schon der „spannende Einstieg in den vorliegenden Hinweis entfällt“, so lesen wir betroffen (schade, ich hätte ihn gerne vernommen). Mein Einleitungssatz wird dann zitiert und für „sicher richtig“ befunden; mir deswegen einen „Vorwurf“ (?) zu machen, unterläßt J.S. – das ist recht lieb von ihm. Daß das Buch nach dem ersten Satz noch weitergeht, hat J.S. offensichtlich nicht mehr registriert (Grund: siehe oben), jedenfalls fehlen weitere Äußerungen über seinen Inhalt. Eine Ausnahme stellt lediglich die Bemerkung „das steht bei Kittstein tatsächlich alles drin“ dar – was „das alles“ sein soll, erhellt aus dem Zusammenhang indes nicht. Man kann diese Unklarheit nicht J.S. anlasten. Angesichts seiner seelischen Krämpfe wegen des U.d.A. war mehr Präzision wohl nicht drin.
Im nächsten Absatz kehrt dann etwas Ruhe ein, die akute Krisis scheint überwunden. J.S. plaudert ein wenig über sein Abitur an seiner alten Schule, wo es offenbar an Lernmaterialien fehlte, so daß er nichts über Brecht lernen konnte (?) (auch dieser Passus ist etwas unklar; ich nehme an, daß J.S. in Kriegszeiten Abitur gemacht hat). Dann wird anscheinend über die jüngste Wirtschaftskrise räsoniert, zu deren Bewältigung man sich „das alles schließlich ausgedacht“ habe – was „das alles“ sein soll, versteht man leider wieder nicht so recht, aber wir wollen nicht kleinlich sein. Am Ende kommt J.S. dann noch auf Daniel Kehlmann zu sprechen, den er offenbar nicht mag (?). Was aber Kehlmann hier zu suchen und was er mit Brecht oder meinem Büchlein oder dem Abitur von J.S. oder der jüngsten Wirtschaftskrise oder dem U.d.A. zu tun hat, mögen die Götter wissen; ich weiß es nicht. Ach ja, vorher interessiert sich J.S. noch dafür, was Brecht „zu alledem gesagt hätte“. Zu „alledem“? Also beispielsweise zum Abitur von J.S.?!? Tja, da bin ich überfragt. Sicher bin ich mir aber, daß Brecht an J.S. außerordentlich interessiert gewesen wäre, denn er hat seinerzeit viel Mühe darauf verwendet, solche Leute zu untersuchen (er pflegte sie „Tui“ zu nennen; es ist erstaunlich, wie zäh sich dieser Typus in Deutschland hält). Wenn er Gelegenheit bekäme, würde er J.S., den noblen Verächter der Wirtschaft und Kreuzritter des reinen Geistes, gewiß fragen, wo eigentlich das Geld herkommt, das er monatlich als Gehalt ausbezahlt kriegt. Und ich glaube, dann wäre die akute Krisis unseres J.S. im Handumdrehen wieder da.
Wenden wir uns noch kurz der Gattung der Einführungsdarstellungen in der Literaturwissenschaft zu. Die sprießen neuerdings wie Pilze aus dem Boden (im Mittelteil seiner Wortfolge scheint J.S. auf dieses Phänomen anzuspielen, so gut es ihm eben möglich ist). Das hat zweifellos auch mit den neuen Studiengängen zu tun, aber nicht nur – die enorme Differenzierung und die unüberschaubare Fülle der speziellen Forschungsliteratur machen zusammenfassende Überblicksbände zu wichtigen Themenbereichen eines Faches immer unentbehrlicher, nicht nur für Studenten, sondern auch für den Akademiker, ja selbst für den Wissenschaftler (für Leser, die das jeweilige Thema eh schon in- und auswendig kennen, weil sie sich ihr Leben lang damit befaßt haben, sind diese Bücher nicht gemacht). So wäre grundsätzlich gegen die Konjunktur der relativ knapp gefaßten Einführungsdarstellungen nichts einzuwenden – wenn sie gut wären und tatsächlich den Zweck erfüllten, als sachkundiger Einstieg in ein bestimmtes Themenfeld zu dienen. Solch nachrangigen Detailfragen schenkt J.S. keine Beachtung, zumal sie dem pathetischen Schwung seiner U.d.A.-Wehklage nicht gut getan hätten. Und doch liegt genau hier natürlich der entscheidende Punkt, denn nicht wenige dieser Büchlein erweisen sich leider bei näherer Betrachtung als erbärmliche, hingeschluderte Machwerke, was um so fataler ist, als sie wahrscheinlich weit größere Chancen haben, wirklich gelesen zu werden, als alle anderen wissenschaftlichen oder akademischen Publikationen. Statt aber nun einfach loszuheulen und wegen des U.d.A. in Weltschmerz zu versinken, hätte man im Einzelfall sorgsam zu prüfen und kritisch zu diskutieren, ob der Verfasser die anspruchsvolle Aufgabe gemeistert hat, auf begrenztem Raum ein umfangreiches und komplexes Stoffgebiet in deutscher Sprache (statt im akademischen Deppen-Jargon) vorzustellen, ohne dabei unzulässig zu vereinfachen. Das könnte zum Beispiel in literaturkritik.de geschehen – aber dafür müßte man denken, und das ist halt ein schwieriges Ge-schäft, wenn man’s nicht gewohnt ist.
Können wir aus dem Mißgeschick des wackeren J.S. wenigstens ein paar allgemeine Richtlinien für bildungswillige Akademiker ableiten? Vielleicht diese: Verzichte darauf, die Auseinandersetzung mit einem Buch bloß zum Vorwand für eine affektierte, pseudo-elitäre und dabei meist noch erbärmlich ungeschickte Selbstinszenierung zu nehmen. Und auch diese: Rege dich nicht allzu laut über Schmalspur-Studiengänge und ihr klägliches Niveau auf, solange du selber nicht einmal imstande bist, einem Text von rund 25 Zeilen Umfang wenigstens eine gewisse inhaltliche Substanz und einen rudimentären gedanklichen Zusammenhang zu verleihen. Und zuletzt diese: Wenn du nichts Vernünftiges zu sagen hast, dann halt den Mund (hoffen wir mal, daß die konsequente Befolgung dieses letzten Ratschlags die deutsche Universitätslandschaft nicht rasch in ein einziges Trappistenkloster verwandelt).
Und das Brecht-Büchlein? Das ist eigentlich ganz harmlos: Es soll Leuten, die sich für diesen Autor interessieren, einen einleitenden Überblick über sein Leben und die verschiedenen Bereiche seines Werkes geben und damit eine erste Orientierung ermöglichen. Nicht mehr. Auch nicht weniger. Ich hoffe, es wird diesen Zweck einigermaßen erfüllen und vielleicht manchen Leser zu ausgebreiteter und intensiver Brecht-Lektüre anregen. Ich weise jedoch nachdrücklich darauf hin, daß das kleine Buch in verständlicher Sprache abgefaßt wurde, zusammenhängende, sinnvolle Ausführungen bietet und daher für wahre und echte Akademiker ungeeignet, möglicherweise sogar gefährlich ist. Für eventuelle Folgeschäden bei unsachgemäßem Gebrauch kann der Verfasser nicht haftbar gemacht werden. Das Schicksal des J.S. möge allen Vorwitzigen zur Warnung gereichen!

Mit vergnügten Grüßen

Ulrich Kittstein


Jan Süselbeck schrieb uns am 20.04.2009 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Jan Süselbeck: Damit die jungen Leute schnellstmöglich in der Wirtschaft aushelfen können - Ulrich Kittsteins Büchlein über "Bertolt Brecht" in der Reihe "Profile"

Sehr geehrter Herr Kittstein,

dass ich Sie mit meinen wenigen, ungehobelten und noch dazu so ungeschickt fomulierten Sätzen zu dieser streitbaren Selbstrezension veranlassen konnte, hat mir diesen frühen Montagmorgen gerettet!

Umso beherzter fasse ich nun doch Mut, mich in meine heutigen, ersten Lehrveranstaltungen des Semesters zu begeben, ganz ohne weinerlichen Kulturpessimismus! Sie boten mir Trost in einer schwachen Stunde. Ich weiß jetzt auch wieder, woher mein Geld kommt und wofür ich arbeite - danke vielmals!

Übrigens habe ich ihr Bändchen am Osterwochende tatsächlich von der ersten bis zur letzten Zeile durchgelesen, ich habe mehrere Zeugen dafür, und da das zugegebenermaßen aus meinem wortkargen Hinweis nicht hervorgeht, möchte ich hiermit noch einmal beschwören: Es ist tatsächlich ein Buch, das den von Ihnen hier nachträglich umrissenen Zielsetzungen voll und ganz gerecht wird! Die große Schwermut, die mich bei seiner Lektüre ergriff, hatte mit der Qualität ihres knappen Textes genau genommen wenig zu tun. Und von daher ist Ihre hurmorvoll vorgetragene Empörung vollkommen berechtigt und Ihr Brief genau das, was wir hier noch gebraucht haben - herzlichen Dank auch!

Nun fragt sich bloß noch, ob es sich bei meinem journalistischen Null-"Einstiegssatz" tatsächlich um eine Stilblüte handelt - oder nicht. Wahrscheinlich schon. Ganz schön 'verstiegen'. Vielleicht hat ja sonst noch wer eine Meinung dazu...

Beschwingte Grüße aus Marburg,
J.S.