Leserbriefe zur Rezension

Was alle übersehen haben: Der Mord war real

Die anthropologische Theorie René Girards geht über die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt weit hinaus

Von Laslo Scholtze


Wolfram Heinrich schrieb uns am 15.03.2011
Thema: Laslo Scholtze: Was alle übersehen haben: Der Mord war real

"Beispiel „Ödipus“: Er tötet den Vater, freit die Mutter und verursacht durch diese Schandtaten die Pest in Theben, die erst durch seine Verstoßung wieder verschwindet. Zwar schildert ihn Sophokles als tragischen Helden, aber dennoch als denjenigen, der durch Blutschande die Katastrophe unbewusst verschuldet. Für Girard ist Ödipus ein klassischer Sündenbock."

Das Bemerkenswerte an der Ödipus-Geschichte scheint mir zu sein, daß von der Antike bis heute fast ausschließlich die Rolle von Ödipus an diesem Schlamassel thematisiert wird, während Laios und Iokaste nur als Nebenfiguren, genauer: als Opfer vorkommen. Dabei sind sie es, welche die Geschichte initiieren und weiter vorantreiben.
Laios hat - und das viele Jahre bevor die Story von Sophokles anläuft - durch die Geschichte mit dem entführten Knaben den Zorn der Götter geweckt und ihren Fluch auf sich und seine Familie geladen. Laios und Iokaste versuchen nach der Geburt von Ödipus ihren Sohn zu ermorden. Daß der Anschlag mißlingt, ist nicht ihre Schuld.
Später, beim Streit um die Vorfahrt im Gebirge, ist es Laios, der den Streit provoziert. Er will Ödipus töten, bzw. durch sein Gefolge töten lassen. Es ist lediglich der Fitneß von Ödipus zu verdanken, daß er überlebt und statt seiner Laios stirbt.
Das in die deutsche Sprache eingegangene jiddische Wort Chuzpe läßt sich mit „Frechheit, Dreistigkeit“ so einigermaßen übersetzen, wobei allerdings selbst das Wort Dreistigkeit noch viel zu schwach ist. Was Chuzpe wirklich ist, erklären Anekdotenerzähler gerne durch die Geschichte von dem jugendlichen Elternmörder, der in seinem Schlußwort vor Gericht um mildernde Umstände bittet, unter Hinweis auf seinen Status als Vollwaise. Den Kindermörder Laios als Mordopfer zu bedauern, wie es die abendländische Geistesgeschichte seit der Antike macht - das macht der Chuzpe des Elternmörders ernsthafte Konkurrenz.
Als Ödipus dann Iokaste heiratet... Wir wollen genau sein: Ödipus bekommt Iokaste (und mit ihr den Königstitel) als Belohnung dafür, daß er die Stadt Theben von der Sphinx befreit hat. Was dabei fast immer (bis heute) unerwähnt bleibt, ist der ins Auge springende Umstand, daß auch Iokaste (genauso unwissend wie Ödipus) die blutschänderische Beziehung aktiv eingeht. Sophokles - und mit ihm fast die gesamte abendländische Geistesgeschichte - stellt sie dagegen als passive Dulderin hin: "In wildem Jammer stürzte sie herein/.../Und rief zum längst verstorbnen Laios,/Wie ihn der alten Ehe Sproß erschlug/Und wie er sie dem Sohne hinterließ/Als greuelvoller Brut Gebärerin,/" (Sophokles: "König Ödipus", Schlußszene, V. 1241, V. 1245-1248)

Viele Grüße
Wolfram Heinrich