Leserbriefe zur Rezension

„Heimliche Drehbücher“

So eine Überraschung: Jüdische Texte und Filme, welche die Geschichte der Shoah aus einer anderen Perspektive als der Bernhard Schlinks wahrnehmen, haben in Deutschland einen schlechten Ruf

Von Jan Süselbeck


Klaus Kreimeier schrieb uns am 16.03.2011
Thema: Jan Süselbeck: „Heimliche Drehbücher“

Sehr geehrter Herr Süselbeck –

Erlauben Sie mir, Ihnen auf Ihren Text „Heimliche Drehbücher“ zu antworten, der sehr unterschiedliche Texte und Positionen auf eine gemeinsame Argumentationslinie, um nicht zu sagen: in eine gemeinsame Schusslinie zu bringen sucht. So sehr ich mich Ihrer Kritik an Bernhard Schlink anschließen kann, so entschieden verwahre ich mich gegen Ihren Versuch, meinen Aufsatz „Sensomotorik. Das unbegriffene Erbe der Propagandakompanien“ einer geschichtsblinden Strömung zuzuschlagen, die Täter wie Opfer in eine allumfassende Leidensperspektive rückt und die Verbrechen der Nationalsozialisten aus einer Haltung des „unbewussten Antisemitismus“ prolongiert. Ich habe diese und ähnliche Strömungen als Publizist und Wissenschaftler stets bekämpft.

Ich könnte von einem grotesken Missverständnis sprechen, wäre in Ihrer „Argumentation“ nicht eine sehr anfechtbare Methode erkennbar. Mein Thema ist, wie der Titel besagt, „Sensomotorik“, ein von der nationalsozialistischen Kriegspropaganda ausgearbeitetes und auf die Spitze getriebenes ideologisches Konzept, das darauf zielt, „seelische Geschlossenheit“ zwischen der Repräsentation einer Kampfzone, den Kämpfern und ihrer Waffe sowie dem Rezipienten herzustellen. Dieses Konzept hat wahrnehmungspsychologische und, in einem hochtechnisierten Medienensemble, ästhetische Konsequenzen, die an Bildern ablesbar sind – es ist das „heimliche Drehbuch“ hinter ganz bestimmten Kameraeinstellungen. Ich zitiere aus meinem Text, um klarzustellen, um welche Thematik es mir bei seiner Abfassung ging:

„Geht man von den biomechanischen Zwangsvorstellungen der Nationalsozialisten aus, wird hier nicht nur der Regelkreis zwischen Front und Heimat geschlossen – die »Lebensäußerungen« der Deutschen in den Kinos sollten vielmehr visuell, sensomotorisch ins Geschehen an der Front einbezogen, die Menschen gewissermaßen zu Wahrnehmungskomplizen der Kriegsmaschine gedrillt werden (…) In diesem Sinne ist von einem »heimlichen Drehbuch« hinter den Bildern der Propagandakompanien zu sprechen: von einem Konzept, in dem der Körper des Kriegers, das Zusammenspiel von Körper und Kriegsmaschinerie, die Kamera (im Idealfall seine eigene) und die Sinne des Zuschauers zu einer Symbiose, einer politischen Funktionseinheit zusammenschießen. Die Nationalsozialisten nannten diese Funktionseinheit »seelische Geschlossenheit«. Es geht um Wahrnehmungspsychologie im Dienst einer konkreten Wahrnehmungspolitik. Das Konzept ist nicht immer dem Material abzulesen, aber in der Struktur, in der Komposition der Bilder hat es sich vielfach materialisiert.“
  
Vom „unbegriffenen Erbe“ der Propapagandakompanien spreche ich, weil dieses „Drehbuch“ in den Jahrzehnten nach dem Krieg weitergewandert ist und als Emotionalisierungsstrategie die Medien- und Unterhaltungsindustrie infiltriert hat, bis zu den Körper-Maschine-Relationen heutiger Computerspiele – ohne dass sein ideologischer Kern und sein historischer Kontext reflektiert werden würden. Ein besonders markantes Beispiel sind bestimmte Sequenzen in vielen Kriegsfilmen, auch in solchen, die sich als „pazifistisch“ verstehen oder für „gerechte“ Kriege Partei ergreifen. Exemplarisch analysiere ich dann eine Sequenz aus dem Spielberg-Film „Saving Private Ryan“, in der ein Scharfschütze gezeigt wird, der mit Hilfe eines Zielfernrohrs auf deutsche Soldaten schießt. Mit anderen Worten: in einem amerikanischen Kriegsfilm, der im Sinne des „gerechten Krieges“ Gut und Böse moralisch einwandfrei, nämlich antifaschistisch positioniert, lebt das „unbegriffene Erbe“ der Propagandakompanien fort. Ich zitiere noch einmal aus meinem Text: „Ein symbiotischer Regelkreis wird geschlossen: das Auge des Schützen, seine todbringende Waffe, seine Blickrichtung, die mit dem Kamerablick durch das Zielfernrohr zu unserer Blickrichtung wird, bilden gleichsam eine politische Einheit.“

Diese Thesen hätten Sie angreifen, kritisieren und widerlegen können – vorausgesetzt, Sie hätten sich überhaupt auf dieses Erkenntnisfeld (der politischen Wahrnehmungspsychologie) begeben. Sie machen aber etwas ganz anderes, Sie interessieren sich gar nicht für meinen Erkenntnisgang. Das ist natürlich Ihr gutes Recht. Ihr Vorgehen ist jedoch zweifelhaft: Sie bauen ein Konstrukt auf, behaupten indirekt, es sei meines – und rügen mich dann moralisch für Aussagen, Haltungen oder Positionen, die nicht in meinem Artikel zu finden sind und die ich weder einnehme noch jemals eingenommen habe. Ihr Konstrukt besteht aus relativ simplen Versatzstücken. Sie sagen: Spielberg ist ein jüdischer Regisseur (was zutrifft). Sie behaupten, der Scharfschütze Private Daniel Jackson sei eine irgendwie (durch „alttestamentarische Verse“) jüdisch konnotierte Figur (was aus dem Film keineswegs hervorgeht). Sie gehen noch einen Schritt weiter und interpretieren Jackson als Repräsentationfigur des aktiven jüdischen Widerstands gegen den nationalsozialistischen Holocaust – und deuten den Film „Saving Private Ryan“ als Ganzes zu einer Geschichte über die Shoah um.

Das wäre eine (wenn auch überaus waghalsige, weil durch den Film nicht belegte) Interpretation unter vielen anderen, mit denen man sich kritisch auseinandersetzen könnte. Sie aber nutzen Ihr Konstrukt ausschließlich für eine Polemik gegen mich: mein Text sei „revisionistisch – um nicht zu sagen obszön“, weil ich eine NS-Tradition auf Spielbergs Film „projiziere“ (was nicht den Tatsachen entspricht: ich finde eine filmische Strategie der Propagandakompanien als „unbegriffenes Erbe“ in einigen Kameraeinstellungen Spielbergs wieder). Jackson werde von mir als „religiöser Fanatiker“ vorgestellt (das Gegenteil ist der Fall, Sie zitieren mich falsch. Ich schreibe: „Oberflächlich gesehen, wird er als religiöser Fanatiker eingeführt. Betrachtet man Spielbergs »große Erzählung« in ihrem Zusammenhang, ist diese Konnotation jedoch nicht haltbar: Jacksons Religiosität steht für das religiöse Empfinden der amerikanischen Nation…“). Sie unterstellen mir, ich wolle „dem aus der Leidensgeschichte der Shoah hervorgegangenen Staat Israel samt den Nachkommen der wenigen Überlebenden des deutschen Vernichtungskriegs nunmehr mit gutem Gewissen und erhobenem Zeigefinger vorschreiben, wie man dort mit seinen aktuellen Feinden umzugehen habe.“ Schließlich werfen Sie mir vor, „die historische Ursache und Wirkung der Shoah komplett (zu) verdrehen und die deutschen Veteranen des NS-Vernichtungskriegs ohne Weiteres mit denjenigen Opfern“ gleichzusetzen, „die einst gegen sie Widerstand leisteten.“

Wo in meinem Text findet denn all das statt, was Sie in ihm gefunden zu haben glauben? Wenn Sie meinen Aufsatz (und seine Thematik) noch einmal unvoreingenommen zur Hand nehmen würden, müsste Ihnen die Absurdität Ihrer Polemik aufgehen. Ich befasse mich mit einer einzigen Sequenz aus Spielbergs Film, mit einem wahrnehmungspsychologischen Topos, der meiner Meinung nach eine Analyse verdient. Israel und seine heutigen Feinde, die Leidensgeschichte der Shoah, der jüdische Widerstand, die Nachkommen und Überlebenden des Holocaust, der deutsche Vernichtungskrieg, die Opfer und die Veteranen auf der Seite der Täter werden von mir mit keinem Wort erwähnt. Ich habe mich mit all diesen Aspekten in vielen Arbeiten befasst – in diesem Aufsatz jedoch nicht, hier habe ich mir ein anderes Thema gestellt.

Ihr Artikel ist ein intellektuelles Ärgernis, weil er nicht nur mit einem anderen Text zutiefst voreingenommen und sinnentstellend umgeht, sondern vor allem den Lesern nahelegt, im Vertrauen auf den Verfasser Süselbeck die Schlussfolgerung zu ziehen, ich hätte mich mit den von Ihnen konstruierten Inhalten befasst –  und mich schließlich als „unbewusster Antisemit“ entpuppt. Ihre Vorgehensweise widerspricht der gebotenen Fairness im wissenschaftlichen und publizistischen Meinungsstreit.

Klaus Kreimeier
Berlin, 16. März 2011


Jan Süselbeck schrieb uns am 16.03.2011 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Jan Süselbeck: „Heimliche Drehbücher“

Sehr geehrter Herr Kreimeier,

ich werfe Ihnen keineswegs explizit Antisemitismus vor, sondern weise Sie in meiner Antwort auf Ihren Beitrag nur darauf hin, wie Ihre Kontextualisierung des Spielberg-Films "wirken" kann, wie sie hierzulande aufgefasst werden könnte bzw. in welchen machtvollen Diskurs sie in Deutschland derzeit 'hineinruft'.

So wie Sie Spielberg im Kontext eines "unbegriffenen Erbes" der NS-Propaganda-Kompanien analysieren, erlaube ich mir also lediglich, Ihren Beitrag im Gegenzug im Kontext typischer geschichtspolitischer Diskurse der Berliner Republik zu lesen. Selbst wenn man "Saving Private Ryan" nicht als "jüdischen Film" liest, wie ich es in meiner hier vorgetragenen Analyse zu plausibilisieren versuche, befremdet Ihre Assoziierung der Emotionalisierungsstrategie Spielbergs mit der NS-Propaganda im Sinne einer sich durch alle medialen Kriegs-Dispositive hindurch ziehenden Evokation von "Sensomotorik" immer noch: Lässt sich diese Linie hier wirklich so gerade durchziehen? Ich habe mir lediglich erlaubt, auf die mögliche Problematik einer solchen historischen Herleitung hinzuweisen.

Um dazu nur ein Beispiel zu nennen: Gerade eben lese ich in Herfried Münklers Standardwerk über "Die neuen Kriege" (2002) den Satz: "Die buchstäbliche Entfesselung der Gewalt in den neuen Kriegen ist nicht zuletzt die Folge einer Kombination von Kalaschnikow und Hollywood, einfachster russischer Waffentechnik und exzessiver Gewaltdarstellung in amerikanischen Spielfilmen."

Warum, frage ich mich, kommen eigentlich angesehene deutsche Denker immer wieder und zu allererst auf das Beispiel Hollywoods, wenn es darum geht, prototypische Formen übelster Kriegspropaganda dingfest zu machen?

Gewiss: Ich weiß um die Problematik der tendenziellen Affirmation kriegerischer Handlungen auch durch sogenannte "Anti-Kriegsfilme", schreibe ich doch selbst seit Jahren an einer kurz vor dem Abschluss stehenden Habilitation zum Thema emotionaler Effekte von Kriegsdarstellungen (auch in der Literatur). Auch habe ich sogar bereits selbst erst kürzlich einen Beitrag über Kriegs-Computerspiele und ihre Vorbilder publiziert, in dem ich 'zufällig' ebenfalls auf die von Ihnen hier interpretierte Sniper-Szene aus "Saving Private Ryan" eingehe, die ja durchaus etwas von einer "Ego-Shooter"-Perspektive hat. Ironisiert und zynisch gespiegelt wurde sie zuletzt von Quentin Tarantino in seinem Film "Inglourious Basterds", was u.a. auch Georg Seeßlen schon klug kommentiert hat: Bei Tarantino ist es ja gemeinerweise tatsächlich ein Nazi-"Filmstar", der aus dem Kirchturm heraus reihenweise böse US-Soldaten abknallt: "Das wirst Du büßen, feiges Amerikanerschwein!"

Kurz und gut: Es geht mir also überhaupt nicht darum, Ihre kenntnisreichen Hinweise in ihrer Gänze in Frage zu stellen. Vielleicht reden wir sogar aneinander vorbei: Auslöser meiner Kritik war ganz einfach mein Befremden darüber, dass Sie zur Erhellung Ihrer klugen Erörterungen über die von den Nationalsozialisten angestrebte Evokation einer "seelischen Geschlossenheit" einer kämpferischen Volksgemeinschaft von Kriegern ausgerechnet einen Film eines jüdischen Regisseurs ausgewählt haben.

Ich habe deshalb ganz einfach einmal die Perspektive verändert und Hinweise dazu gegeben, wie man den Film aus einer Sicht derjenigen wahrnehmen könnte, die von den Nationalsozialisten komplett vernichtet werden sollten. Denn Spielbergs 'Sniper' kämpft ja als Einzelner gegen diese Übermacht, und er stirbt am Ende dieser Szene durch den Beschuss deutscher Panzer. Sie nehmen das als "Opfertod" wahr: "Das Auge des Schützen, seine todbringende Waffe, seine Blickrichtung, die mit dem Kamerablick durch das Zielfernrohr zu unserer Blickrichtung wird, bilden gleichsam eine politische Einheit. Die Mensch-Maschine-Relation, die uns Spielberg zeigt, lenkt uns in eine Falle, der wir im Kino nicht entkommen können, wir werden an sie angeschlossen."

Das mag so sein. Aber ich glaube, Spielbergs Film arbeitet gleichzeitig auch mit virtuosen Relativierungen dieses "Nazi-Blicks". Man müsste diese Komponente in einer Interpretation seiner Inszenierung also wohl genauer kontextualisieren als Sie es tun – und vielleicht sogar auch die Thesen, die ich geäußert habe, zumindest einmal mit in Betracht ziehen.

Mit bestem Dank für Ihren Diskussionsbeitrag und
mit freundlichen Grüßen:
Jan Süselbeck