Leserbriefe zur Rezension

Auf dem Exerzierfeld

Die Edition der Notizbücher Bertolt Brechts hat begonnen

Von Walter Delabar


Jan Knopf ABB am KIT schrieb uns am 26.06.2012
Thema: Walter Delabar: Auf dem Exerzierfeld

Lieber Walter,

[...]

Kurz zu Deiner Rezension:
1. Die Edition der Notizbücher begann schon 2010 mit der Nr. 7.
2. Ich habe den Band 7, der im SPIEGEL bejubelt wurde, verrissen, weil die Herausgeber in Sachen BB nicht ausgewiesen sind - und ausgerechnet eine historisch-kritische Edition der Werke Brechts mit Texten beginnen, die am wenigstens gesichert sind, wie überhaupt die Texte bei Brecht die unsichersten Kandidaten sind.
3. Den Beweis konnte ich u.a. dadurch führen, dass die Herausgeber Texte BB zugeschrieben haben, die gar nicht von ihm stammen, z.B. die u.a. durch die Comedian Harmonists Ende der 20er Jahre verbreiteten Verse: "Nun trinken wir noch eins" (vom SPIEGEL als "Beleg" für Brechts Lebenslust ausgegeben!).
4. Die Herausgeber haben lauthals verkündet, wir hätten in der GBA die Notizbücher bis zu 3/4 unterschlagen. Es stellte sich jedoch heraus, dass diese unsere Kommentare nicht kannten, in denen alle für die Werke Brechts relevanten Texte gedruckt sind (vorwiegend als Vorstufen etc., oder auch als Prosatexte, weil ein Teil in den vorangehenden Ausgaben versehentlich den Gedichten zugeordnet waren oder als Belege für die Entstehung und ihre Zusammenhänge).
5. Bei meiner weiteren Überprüfung der Notizbücher - jetzt im Rahmen meiner neuen Brecht-Biografie (erscheint im September bei Hanser) - habe ich mich nochmals vergewissert, wie viele Texte in den Notizbüchern überhaupt von Brecht stammen - die wenigsten (natürlich abgesehen von den Vorstufen oder Notizen zu nachweisbaren BB-Werken). Die Notizbücher hatten vor allem den Sinn, alles aufzuschreiben, was Brecht in die Ohren oder vors Auge oder in den Sinn kam; Brecht beteuerte immer wieder, zu wenig Sitzleder für ausgiebige Buchstudien zu haben und deshalb sich lieber mündlich bei den Experten kundig machte und deren Mitteilungen aufzeichnete. Wenn er allein war, langweilte er sich fürchterlich - ein Leben lang! So ist z.B. der angebliche "Philosoph Brecht" eine Fiktion der Notizbücher, die in denen der GBA vorausgehenden Ausgaben - von Werner Hecht - so zusammengestellt waren, dass sie wie "philosophische Schriften" aussahen. In Wirklichkeit sind es Exzerpte oder auch z.T. wörtliche Notizen von "Aufgeschnapptem": so konnte auch der Mythos Korsch entstehen, zu dem BB - trotz der Tatsache, dass er ihn seinen Lehrer genannt hat - immer auf Distanz war und ihn sogar eindeutig den "Tuis" zuordnete. Wer Brecht nur ein wenig kennt, kann ihn nicht der "geistigen Aktion" (ein Popanz) von Korsch zuordnen!
6. Die "Zerreißung" der Texte in der GBA hat zum Vorwurf (Wolfgang Fritz Haug) geführt, wir hätten die von ihm geschätzten philosophischen Texte Brechts (die weitgehend gar nicht von ihm stammen) "versteckt"; obwohl sie alle über die Register zu finden wären. Deshalb wird weiter fleißig nach den alten Ausgaben zitiert! Texte, die schon am Fundort keinen Zusammenhang haben, können nicht zerrissen werden!
7. Vielen Dank für Deinen Hinweis auf meinen Aufsatz zur "Erinnerung an die Marie A." Mein Nachweis, dass ein französischer Schlager Vorbild war und dass sogar Textteile in die Verse Brechts eingegangen sind, kann nicht widerlegt werden, weil er zu den philologischen Positivitäten zählt. Dass Villwock meinen Aufsatz ignoriert, hat einen ganz einfachen Grund: Er ist mir böse, weil ich es gewagt habe, sein "Großunternehmen" zu kritisieren. Das Unternehmen "Notizbüchern" zählt also zu den "wissenschaftlichen" Werken, die sich des in der Literaturwissenschaft verbreiteten Missachtungsyndroms schuldig machen. So viel zum Stand der Brecht-Forschung 2012.

Ganz herzlich
Jan


Martin Kölbel, Peter Villwock schrieb uns am 02.08.2012 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Walter Delabar: Auf dem Exerzierfeld

Zum Leserbrief von Jan Knopf:
www.literaturkritik.de/public/mails/rezbriefe.php?rid=16776#2199

Jan Knopfs Liste ist nur in Punkt 1 korrekt bzw. auf die Notizbuch-Ausgabe (NBA) beziehbar. Wo es sich nicht um neue Unwahrheiten handelt (wie die Behauptung, die wenigsten Notizbuch-Eintragungen stammten von Brecht), reproduziert er die alten (wie „Den Beweis konnte ich u.a. dadurch führen, dass die Herausgeber Texte BB zugeschrieben haben, die gar nicht von ihm stammen“). Sie sind seit Jahren widerlegt:

www.textkritik.de/brecht/index2.htm

Hingewiesen sei allerdings auf die „philologische Positivität“ des Schlagers „Verlor’nes Glück“ von Charles Malo (Punkt 7). Der Nachweis dieser Quelle Brechts stammt keineswegs von Jan Knopf, wie er behauptet, sondern ist seit 1952(!) durch Hans Reimann bekannt. In der NBA ist der Text zitiert, diskutiert und neben anderen möglichen Vorlagen und Anregungen eingeordnet:

www.suhrkamp.de/download/Sonstiges/brecht_notizbuecher/Brecht_Notizbuecher_EE_F_NB_03.pdf (zu 32r.1-32v.10)

Knopf hat bereits vor Jahren versucht und versucht es nun erneut hier und bei „Jetzt trinken wir noch eins ...“ (Punkt 3; nicht, wie Knopf schreibt: „Nun trinken wir noch eins ...“!), seine Fehler uns in die Schuhe zu schieben; vgl. dazu NBA 7, S.500 und ergänzend:

www.suhrkamp.de/download/Sonstiges/Brecht_Notizbuecher/Brecht_Notizbuecher_EE_F_NB_25.pdf (zu 78r)

Dabei wird ein Muster erkennbar, das eine Auseinandersetzung unmöglich macht.

Zur NBA insgesamt sei noch auf die Elektronische Edition verwiesen, die keineswegs, wie Walter Delabar meint, mit dem e-book identisch ist, vielmehr die Druck-Edition um wesentliche Teile (Einführung, Dokumente, wissenschaftliche Diskussion, Gesamtregister etc.) ergänzt. Sie ist frei zugänglich:

www.suhrkamp.de/bertolt-brecht-notizbuecher/elektronische-edition/einfuehrung_559.html

Martin Kölbel
Peter Villwock