Leserbriefe zur Rezension

Neue Nacktheit der Moderne

Über einige Paradoxien in Christian Krachts Roman „Imperium“ und in der Ästhetik des frühen 20. Jahrhunderts

Von Thomas Anz


Franz Siepe schrieb uns am 23.07.2012
Thema: Thomas Anz: Neue Nacktheit der Moderne

Eine Anmerkung zu Thomas Anz' Formulierung, derzufolge „sich nach altreligiösen Vorstellungen“ ein „neues Leben … erst im Jenseits voll entfaltet“: Soweit ich sehe, besteht in der christlichen Theologie bezüglich des eschatologischen Status des „neuen Menschen“ nicht unbedingt klare Einmütigkeit: Futurische und präsentische Deutungen koexistieren oder konkurrieren. Ein präsentisches Verständnis legt wohl beispielsweise der Epheserbrief (2,13-17) nahe: „Jetzt aber seid ihr, die ihr einst in der Ferne wart, durch Christus Jesus, nämlich durch sein  Blut, in die Nähe gekommen. Denn er ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile (Juden und Heiden) und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder. Er hob das Gesetz samt seinen Geboten und Forderungen auf, um die zwei in seiner Person zu dem einen neuen Menschen zu machen. Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib. Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet. Er kam und verkündete den Frieden: euch, den Fernen, und uns, den Nahen.“

Der Philosoph Robert Spaemann pflegt eine traditional-katholische Sicht auf den „neuen Menschen“ / „neuen Adam“: „Die jungfräuliche Geburt dieses Menschen ist das Realsymbol dafür, dass mit seinem Eintritt in die Welt etwas ganz und gar Neues beginnt, eine neue Schöpfung. Er ist der neue Adam, schreibt Paulus. Was heißt das? Adam sollte Vater einer Menschheitsfamilie unter Gott werden. Diese Familie kam nicht zustande. Dieses Nichtzustandekommen nennen wir Erbsünde. Wir werden nicht in eine solche heilige Familie hineingeboren. Aber wir werden hinein getauft in die neue Familie Gottes, die durch den neuen Adam gestiftet wurde, den Vater des neuen Menschengeschlechts. […] Liebe Freunde, die Wissenschaft hat es mit dem Alten zu tun. Wissenschaftliche Erklärungen sind Rückführung von Unbekanntem auf Bekanntes, vom Neuen auf Altes. Darum gibt es keine wissenschaftliche Erklärung des Auftretens von Neuem, vom Leben, vom Empfinden, von Bewusstsein. All diese Phänomene sind, wie uns die Physiker sagen, extrem unwahrscheinlich. Aber sie sind wirklich. Wenn uns also Fachleute sagen, die jungfräuliche Mutterschaft Marias sei sehr unwahrscheinlich, so sagen sie uns nichts Interessantes. Dieses Ereignis ist sogar extrem unwahrscheinlich, ähnlich wie das Auftreten von Leben im Universum. Aber deswegen ist es doch wirklich. ‚Empfangen von der Jungfrau Maria‘, indem wir das bekennen, bekennen wir, dass es in der Geschichte der Menschheit das Neue gibt, das nicht nur eine Variante des Alten ist. In der Apokalypse des Johannes sagt der, der auf dem Thron sitzt: ‚Siehe, ich mache alles neu‘ (Apk 21,5). Christlicher Glaube ist der Glaube an die Wirklichkeit des Neuen, an die reale Möglichkeit des neuen Anfangs. Mit der Jungfräulichen Empfängnis Jesu hat dieses Neue begonnen.“ (http://www.catholic-church.org/ao/ps/jungfrau.html ,Abruf am 23. 7. 2012)

Was nun die Nacktheit angeht, so mögen Christen herkömmlicherweise – auch in Erinnerung an den Sündenfall – nicht unbedingt die Zeigefreudigsten sein. Sie leben im Glauben, dass der Anblick der „nackten Wahrheit“ ohnehin nur Gott vorbehalten ist. Im Hebräerbrief (4,13) heißt es: „[V]or ihm bleibt kein Geschöpf verborgen, sondern alles liegt nackt und bloß vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden.“