Leserbriefe zur Rezension

Die Unverfrorenheit des Barbaren

Über Ortegas Gassets „Aufstand der Massen“

Von Stefan Diebitz


Franz Siepe schrieb uns am 27.08.2012
Thema: Stefan Diebitz: Die Unverfrorenheit des Barbaren

Der Autor dieser Rezension knüpft offenbar an Beiträge der Juli-Ausgabe von literaturkritk.de an, indem er bemerkt:
"'Alles in der Welt', schreibt Ortega gleich im ersten Kapitel und verrät damit vielleicht das Geheimnis der nun schon Jahrzehnte währenden Wirkung seines Essays, 'ist merkwürdig und wunderbar für ein paar wohl geöffnete Augen.' Wenig später verspricht er, die seine Überlegungenen anregende Tatsache der Überfüllung 'ad oculos' zu demonstrieren. Ortega, wiewohl belesen wie nur wenige, war weit davon entfernt, seine Vorstellungen aus Büchern herzuleiten, sie umständlich mit Zitaten zu belegen oder empirische Studien für den Beweisgang heranzuziehen, sondern seinen Denkstil bestimmt der Gedanke, dass die Wahrheit ganz unverhüllt zu Tage liegt und jedem unvoreingenommenen Blick sichtbar wird."
Die einschlägige Passage aus "Der Aufstand der Massen" lautet indes im Zusammenhang: "Überraschung, Verwunderung sind der Anfang des Begreifens. Sie sind der eigenste Sport und Luxus des geistigen Menschen. Darum ist es seine Zunftgebärde, die Welt aus staunend geweiteten Augen zu betrachten. Alles in der Welt ist merkwürdig und wunderbar für ein paar wohlgeöffnete Augen. Dies eben, das Sichwundern, ist eine Götterfreude, die dem Fußballspieler versagt ist, den Denker aber im unaufhörlichen Rausch des Schauenden durch die Welt treibt. Sein Zeichen sind die starrenden Augen. Darum gaben die Alten Minerven die Eule bei, den Vogel, der immer geblendet ist."
Ich habe einzuräumen, daß mir die Metaphorik des Sehens in dieser Passage Ortegas nicht unbedingt transparent wird. Möglicherweise handelt es sich um Übersetzungsfragen. Doch auch unter dieser Voraussetzung will mir nicht einleuchten, wieso die Wahrheit laut Ortega "ganz unverhüllt zu Tage liegt und jedem unvoreingenommenen Blick sichtbar wird". Mir scheint es sich gegenteilig zu verhalten; so nämlich, daß dem "geistigen Menschen" die Welt eben "merkwürdig und wunderbar" erscheint. Offenen Augen entbirgt sich die Welt in ihrer Rätselhaftigkeit und durchaus nicht, wie der Autor insinuieren möchte, in ihrer Unverhülltheit.


Stefan Diebitz schrieb uns am 28.08.2012 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Stefan Diebitz: Die Unverfrorenheit des Barbaren

Herr Siepe drückt sich etwas kryptisch aus, wenn er von meiner Besprechung sagt, sie knüpfe „an Beiträge der Juli-Ausgabe von literaturkritk.de an“. Denn er meint gar nicht „Beiträge“, sondern denkt an einen einzigen Beitrag, nämlich den seinen, eine Besprechung eines Buches über Heideggers Wahrheits-Begriff. Hinter dem Eingang seines Leserbriefes steht also der Vorwurf, ich hätte mich von ihm und Heideggers Verständnis der Aletheia inspirieren lassen, ohne auf seine Besprechung zu verweisen. Es scheint für Herrn Siepe offenbar nur schwer vorstellbar, daß der Rezensent eines Buches von Ortega y Gasset von allein an Heidegger denkt.
Aber auch sonst ist Herr Siepe nicht überzeugend. Ortega schreibt nicht metaphorisch über das Sehen, und eben dies gilt auch für das „wohlgeöffnete Auge“. Ich finde es snobistisch, wie Ortega den Denker vom Fußballspieler absetzt, und habe diese Stelle auch deshalb nicht zitiert. Wesentlich ist dies: Nicht der Denker wird nachträglich zum Schauenden, sondern der Denker ist ein Denker, weil er schaut. Er wird zum Denker, weil er seine Augen öffnet und die Welt erblickt. Das erste ist also das Sehen, und Ortega verteidigt hier wie auch sonst in seinem Werk die gespannte Aufmerksamkeit. Im übrigen sind diese Fragen insofern peripher, als es an dieser Stelle, dem Eingang meiner Rezension, lediglich darum ging, den Stil und die Argumentationsweise Ortegas zu beschreiben, und eben dafür ist die betreffende, von mir nur kurz zitierte Stelle sehr geeignet.