Leserbriefe zur Rezension

Blick aufs Medienjahrhundert

Warum Werner Faulstichs „Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts“ einen imposanten Überblick bietet, aber immer noch keine Mediengeschichte ist

Von Walter Delabar


Werner Faulstich schrieb uns am 05.10.2012
Thema: Walter Delabar: Blick aufs Medienjahrhundert

Ein Freund von mir hat mich kopfschüttelnd auf diesen Text aufmerksam gemacht. Warum schreibt Walter Delabar eine handwerklich so schlechte Rezension, die ihn als Rezensenten disqualifiziert und auch noch seine geringen historiographischen Kompetenzen sichtbar macht. Er kann es doch besser, oder?

Die Redaktion hat mich gebeten, diesen ursprünglich knappen Leserbrief ausführlicher zu erläutern. Dem komme ich mit einigem Zögern nach – es ist, zumal nach Abschluss meiner wissenschaftlichen Laufbahn, das erste Mal, dass ich auf eine Rezension überhaupt antworte. Nun also detailliert.

Die langen Ausführungen zum „imaginären Zeitgenossen“ im ersten Teil der Rezension deuten die Vielfalt der Medien im 20. Jahrhundert an, werden aber nicht als charakteristisches Merkmal oder Anspruch des Buches genannt und gewürdigt, sondern unversehens auf die „private Seite“ der Mediengeschichte und eine „je individuelle Praxis“ bezogen. Hat der Rezensent eine Art privater Mediengeschichte erwartet? Wäre das dann noch Historiographie im wissenschaftlichen Sinn? In der Einleitung zu dem Buch steht als Anspruch sehr klar: die komplexe Vielfalt der Medien dieser Zeit in den Griff zu bekommen, und zwar dem Stand der Forschung gemäß, also objektiviert und damit kritisierbar. Wäre die private Mediengeschichte des Rezensenten nicht eher seine eigene Aufgabe?

Nicht nett ist die (wenn nicht böswillige, dann doch schlampige) Verdrehung des Anliegens, alle Einzelmedien des Jahrhunderts einzubeziehen, in die Unterstellung: „Das Einzelne ebenso zu bedenken wie das Gesamte – einen größeren Anspruch kann es kaum geben. Und einen unlösbareren.“ Moniert werden „blinde Flecke“ – exemplarisch genannt werden Kinderhörspiele wie „Biene Maja“ und „Die drei ???“. Auch die Geschichte des Thingspiels sei „zumindest stark verkürzt“. Ach du liebe Güte, ist man versucht zu sagen, das kann doch nicht wahr sein. Natürlich können und sollten nicht alle Einzelheiten auf „mehr als vierhundert eng bedruckten Seiten“ ausgebreitet werden. (Zur Klärung: Die Seiten sind nicht enger bedruckt als bei jedem anderen Buch und hier sogar noch vielfach anschaulich durch Abbildungen aufgelockert.) Einzelheiten sind notwendig, aber doch nur exemplarisch möglich. Warum werden sie dann dort, wo sie einbezogen werden, als „verschriftete Listen“ diffamiert? Der Rezensent stellt dazu keine einzige relevante Frage wie z.B.: Ist die Auswahl gelungen, ist sie verfehlt, sollte sie modifiziert werden? Und auch hierzu benennt das Buch einleitend seinen Anspruch: sich mit maximal 400 Seiten zu begnügen. Hat sich der Rezensent jemals um Geschichtsschreibung seriös selber bemüht?

Unverständlich bleibt seine apriorische Unterstellung, Mediengeschichte sei „als Ganzes mittlerweile unüberschaubar geworden“ und lasse einen „Überblick“ durch einen einzelnen nicht mehr zu. Demnach wäre Geschichtsschreibung generell, gar Gesellschaftsgeschichte, überhaupt nicht möglich. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Nur einem einzelnen ist ein solcher in sich geschlossener Entwurf möglich – als bloßer „Rahmen“, als „Zwischenstand“, als „Konzept“ mit dem Blick auf „das historische Ganze“ (wie es in der Einleitung des Buches sehr bescheiden heißt, S. 13). Die scientific community wird damit kritisch umgehen und die vorgetragenen zahlreichen Angebote weiterdenken. Dass der Rezensent eine „notwendige Klammer“ vermisst, einen „roten Faden“, eine „These“ oder „Überlegung, wie alle diese Phänomene in einen anderen als den zufälligen Zusammenhang dieses 20. Jahrhunderts zu bringen sind“, ist kurios. Wie soll das möglich sein bei einer hochkomplexen Medienkultur eines gesamten Jahrhunderts mit notgedrungen multifaktoriellen Veränderungen? In einem Bereich, in dem es praktisch kaum Forschung gibt, gilt es doch zunächst einmal: zu rekonstruieren, die Vielfalt zu erfassen, das Material zu bündeln, zu gliedern, Teile gegeneinander abzuwägen, Akzente zu setzen, zu strukturieren. Zu fragen wäre also: Wie ist das hier gelungen und konkret zu bewerten? Erkennt der Rezensent die vielen Grundpfeiler nicht, die in dieser Mediengeschichte in den Boden gerammt wurden (z.B. Zäsuren und Phasen)? Weiß er, dass es sich bei dem rezensierten Buch um den letzten Teil einer 6-bändigen „Geschichte der Medien“ des Verf. handelt, von den Anfängen der Menschheit bis heute? Der einzigen, die es m.W. bislang gibt? Wären solche Zusammenhänge nicht erwähnenswert?

Gemäß der Rezension bleibt von dem rezensierten Buch wenig übrig. Einigen Anregungen und Hinweisen stünden „lange Passagen gegenüber, die kaum mehr sind als verschriftete Listen“. Von „Zettelkasten“ ist die Rede. Und: „Was wir lesen, ist meist nur das aufgearbeitete Material. Damit aber hat es sich.“ Was nun soll das wieder heißen? Ist damit gemeint, dass die „Filmgeschichte“, die der Verf. anderweitig als Einzelmediengeschichte vorgelegt hat, nicht in gebotener Ausführlichkeit einbezogen wurde? Oder seine Beiträge zur Fernsehgeschichte, Literaturgeschichte, Radiogeschichte, Buchgeschichte, Kulturgeschichte, Popmusikgeschichte...? Das Buch wird dargestellt als „Materialsammlung, die bestenfalls als Erinnerungshilfe dient“. Angeblich fehlten „Nachweise“ usw. Warum wird nicht gesagt, dass hier versucht wurde, aus über 4.000 Einzelpublikationen ein „summatives Totum als Konstrukt“ (Einleitung, S. 13) vorzulegen, als ersten Versuch? Wieso kein Wort, ob das geglückt ist oder gescheitert? Wo liegen die Leistungen dieses Konzepts? Wo die Defizite? Was kann oder muss wie verbessert werden? Dabei geht es letztlich nicht um die Bausteine als solche, sondern um das Haus, das damit gebaut wurde. Diese Rezension führt überhaupt nicht weiter, sondern es wird ein Schlusspunkt gesetzt: „immer noch keine Mediengeschichte“.

Fazit: Die Rezension verschweigt die expliziten Ziele des Buches und verzerrt die Sachverhalte. Sie unterschlägt die zentralen Anliegen des Verf. und projiziert stattdessen irrationale Vorstellungen. Sie zeigt weder Leistungen noch Defizite, ja bietet dem Leser nicht einmal korrekte Informationen. Und sie wertet irreführend, statt zur Diskussion beizutragen. Solche Rezensionen treiben nicht die Forschung voran, sondern sie blockieren den Diskurs. Deshalb sind sie überflüssig. Ich finde, der Autor der „Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts“ ebenso wie der Fink-Verlag, der sich sehr um die Ausstattung des Buches bemüht hat, und nicht zuletzt auch das Forum „literaturkritik.de“ haben eine bessere Rezension verdient. Ob das den geneigten Leser dieser Replik anregen kann?