Leserbriefe zur Rezension

Glücklicher Vater, glücklicher Sohn

Über Hanns-Josef Ortheils Reiseroman „Die Berlinreise“

Von Martin Lowsky


Dr. Andreas Graf schrieb uns am 30.01.2016
Thema: Martin Lowsky: Glücklicher Vater, glücklicher Sohn

Lieber Martin,
vielen Dank für deine wunderbare Rezension dieses Ortheil-Buches, das ich für ein großartiges und einmaliges Wunder- und Kunstwerk halte. Vieles ließe sich darüber sagen. Ich möchte hier aber auf die Authentizitätsfrage eingehen, da sie bei diesem Buch tatsächlich sehr nahe liegt. Sie wird ja schon durch das Vorwart, das die Echtheit bekundet und weitergehende Eingriffe des erwachsenen Autors von sich weist, angesprochen. Herausgeberfiktionen haben in der deutschen Literatur ein lange Tradition, man muss da nicht erst auf "Werther" zurückgreifen. Insofern ist die Frage, ob es sich bei dem angesprochenen Vorwort Ortheils nicht um eine solche handeln könnte, bei einem quasi-autobiographischen "Roman"(?) geradezu schon immanent angelegt.
Was du aber zu dieser Frage im drittletzten Abschnitt deiner Rezension schreibst, kann so nicht stehen bleiben. Um es deutlich zu sagen: Alle Argumente, die dort vorgetragen werden, sind in keiner Weise stichhaltig. Keine der angestellten Überlegungen ist dazu angetan, die Frage nach der Fiktionalität oder Nichtfiktionalität einer Klärung zuzuführen. Warum?
Der letzte Satz des Absatzes beruht auf einem Missverständnis: Denn selbstverständlich ist das Buch lektoriert worden - nur käme kein Lektor auf die Idee, gelungene und authentische kindersprachliche Wendungen, die eben genau diejenige Authentizität garantieren,die ein fiktionalisierender Erzähler anstrebt, einfach besserwisserisch zu streichen bzw. in Erwachsenensprache zu verwandeln. Das wäre zu einfach gedacht.
Jeder gewiefte Autor - und Ortheil hatte schon über ein Dutzend Romane publiziert, bevor er sich das 12-Jährigen-Tagebuch vornahm, war also ein so was von gewiefter Autor - würde natürlich, wenn es denn eine Vorlage gibt, die bearbeitungswürdig und -fähig ist - genau diese Echtheits-merkmale schätzen und vorsichtig pflegen. Alles andere, scheint mir, wäre vollkommen unsinnig - vor allem, wenn man, wie gesagt, ein solches Vorwort dazu verfasst.
Ich persönlich kann mir durchaus vorstellen, dass, wenn das Original des 12-Jährigen denn existiert, der erwachsene Ortheil daran fiktionalisierende Manipulationen vorgenommen hat, etwa um die Geschichte dichter, historisch klarer oder auch weniger naiv zu machen. Aber natürlich würden diese Manipulationen das "kindliche" Element nicht ausschalten, sondern im Gegenteil subtil und möglichst raffiniert und gekonnt unterstützen bzw. untermauern. Kurz gesagt: Ich denke nicht, dass man die Fiktionalitätsfrage mit werkimmanenten oder anderen Überlegungen klären kann. Man müsste bei Gelegenheit, vielleicht im kleinen Kreis, mal Ortheil persönlich fragen. Aber ob er dann, als Autor, seine Autorenkniffe öffentlich ausbreitet? Wer weiß das schon...
Mit freundlichem Gruß,
Andreas Graf, Köln