Leserbriefe zur Rezension

Platz auf dem Nippesregal

Jan Wagner erhält den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 in der Rubrik Schöne Literatur – aber was bringt das der Lyrik?

Von Walter Delabar


Ron Winkler schrieb uns am 31.03.2015
Thema: Walter Delabar: Platz auf dem Nippesregal

Sehr geehrter Professor Delabar,
darf ich erfahren, auf welche Textkenntnis sich Ihre Betrachtungen stützen? Je mehr ich schaue, desto stärker habe ich den Eindruck, Sie stützen sich allein auf allgemeine Extrapolationen feuilletonistischer Perspektiven und medialer Hitzigkeit. Ich lese leider viele Allgemeinplätze, etwa "Was ist aus all dem geworden, was in der Lyrik vor allem Spaß gemacht und Erkenntnis gebracht hat?" Ich sehe sehr, dass dieses durchaus zu finden ist. Auch Welthaltigkeit, auch Denkweltreichhaltigkeit.
Mit freundlichen Grüßen, Ron Winkler


Wolfram Malte Fues, Prof. Dr. phil. schrieb uns am 31.03.2015
Thema: Walter Delabar: Platz auf dem Nippesregal

Lieber Herr Kollege Delabar

was wollen Sie denn nun eigentlich? Gar keine Lyrik? Eine andere Lyrik? Falls ja, was genau für eine? Benn und Brecht noch mal, aber in die Welt- und Gesellschafts-Sicht des bürgerlichen Realismus ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verpackt?


Wulf Segebrecht schrieb uns am 03.04.2015
Thema: Walter Delabar: Platz auf dem Nippesregal

Sehr geschätzter Herr Delabar, da stimmt etwas nicht mit Ihrem Nippesbefund. Noch nie wurden doch so viele Gedichte öffentlich bekannt gemacht, gelesen und diskutiert wie heute. Schauen Sie auch gelegentlich ins Internet? Und das ist alles durchaus nicht nur gefühlig und erkenntnisverweigernd. Auch in der herkömmlichen Form des gedruckten Buches gibt es ja außerordentlich erfolgreiche Lyrikbände: Ulla Hahn beispielsweise oder Robert Gernhardt. Dass freilich, aufs Ganze gesehen, Gedichtbände im Buchhandel nur eine „Nebenrolle“ spielen, ist weder verwunderlich noch empörend: Kaufen Sie denn regelmäßig Gedichtbände einzelner Autoren? Anthologien dagegen erscheinen durchaus in hohen Auflagen (Conrady, Detering, Hahn, Reiners u.a.). Und dass Lyrik in der Presse „nahezu unsichtbar“ sei, kann man nun wirklich nicht sagen. Sie wird vielmehr vergleichsweise (nimmt man nämlich ihren Anteil an der Gesamtproduktion der Bücher zum Maßstab) in der Presse geradezu bevorzugt durch Gedichtabdrucke, Rezensionen und Interpretationen. In diesen Beiträgen wird immer wieder darüber nachgedacht, warum man dieses oder jenes Gedicht lesen sollte, und gefragt, wozu Lyrik eigentlich gut ist. Die Antworten fallen notwendigerweise sehr verschieden aus, was Sie ja auch erwähnen. Aber auch die Erwartungen an Lyrik sind höchst verschieden und nicht ohne weiteres und von vornherein verwerflich. Lassen Sie uns also weiter darüber reden als Verächter oder als Apologeten der Lyrik, die sich nun einmal nicht über einen Leisten schlagen lässt.


Werner Faulstich schrieb uns am 04.11.2017
Thema: Walter Delabar: Platz auf dem Nippesregal

Sehr geehrter Herr Kollege Delabar,

gerade bin ich im Netz über Ihren kritischen Textbeitrag „Platz auf dem Nippesregal“ gestoßen. Ich stimme Ihnen voll zu und finde die Kritik, die man Ihnen entgegenbringt, fehl am Platz. Sie sollten also unbedingt bei Ihrem Befund bleiben, denke ich.
Danken möchte ich auch für die breiten Ausführungen zu Funktionen und Bedeutung von Lyrik generell. Ich empfinde sie als sehr anregend.
Allerdings bin ich verwundert darüber, dass Sie bestimmte Faktoren, mit denen man die heutige Vernachlässigung von Lyrik erklären könnte, außen vorlassen. Ich würde gerne zwei Punkte dazu herausstellen:

Erstens ist ja gar nicht richtig, was immer behauptet wird: Wir Leser hätten einfach kein Interesse an lyrischen Texten. Ein guter Beleg dagegen wäre die große Verbreitung von Gedichten in Form von Popsongs und Schlagern. Auch gesungene Lyrik, trivial oder nicht, ist natürlich Lyrik (wenn auch in der besonderen Kombination mit Musik). Dass Bob Dylan letzthin den Literaturnobelpreis erhalten wird, ist also durchaus plausibel. Hier scheint sich ein generelles Defizit der deutschen Literaturwissenschaft auszuwirken, und wohl auch deswegen hat man auf dem letzten Germanistenkongress eine abnehmende Relevanz der ganzen Disziplin beklagt. Ich meine den Tatbestand, dass man in der Germanistik heute immer noch auf einem Literaturbegriff des 18. Jahrhunderts beharrt – mit dem ausschließlichen Bezug auf Printmedien, speziell das Buch. Natürlich gibt es inzwischen zahlreiche andere Medien, in denen es ebenfalls „Literatur“ gibt (im Medium Heftchen etwa den Heftchenroman und den Comic, im Medium Radio das Hörspiel, im Medium Film den Spielfilm, im Medium Fernsehen das Fernsehspiel und die Serie usw., längst auch interaktive Computerliteratur im Netz). Ein supramedialer Literaturbegriff, wie er seit langem vorliegt, wurde von der Germanistik leider bis heute nicht akzeptiert. Ganz im Gegenteil drückt man sich verzweifelt nach wie vor beim Medium Theater um die Inszenierung und die Aufführung herum (Theater ist ja ein live-Medium) und verhandelt stattdessen, verkürzend und verfälschend, den Dramentext (wieder als gedruckten).
(Dieses Defizit gilt übrigens auch für die Literatur“kritk“, die eine ernsthafte Literatur“wissenschaft“, mit reflektierten Methoden, einer rationalen Begrifflichkeit und einer intersubjektiv nachvollziehbaren Analyse und Interpretation in keiner Weise ersetzen kann. Und auch dazu liegen schon methodologische Beiträge vor.)
Bilanz hier: Es liegt also an der Literaturwissenschaft/Germanistik selber, dass Lyrik immer wieder ausgegrenzt und auf das „Nippesregal“ verschoben wird. Es ist in ihrem Sinn.

Zweitens wird heute eine Art Lyrik mehr oder weniger exklusiv bevorzugt, die ganz bestimmte Eigenarten hat. Darunter fallen auch die Werke von Jan Wagner. Ich habe mir die Mühe gemacht, sein Bändchen „Regentonnenvariationen“, für das er den Leipziger Buchpreis und inzwischen auch den Georg Büchner-Preis bekommen hat, genauer zu lesen. Von dem Autor ist bekannt, dass er freundlich ist, charmant und vor allem unglaublich belesen, und er hat ja auch zuvor bereits zahllose andere Preise erhalten (die ich ihm selber natürlich von Herzen gönne). Leider finde ich seine Texte ausnahmslos völlig unverständlich. Ich erspare mir, das nun seitenweise zu belegen.
In der Süddeutschen Zeitung und anderswo lese ich das Urteil der Kritiker: „spielerische Sprachfreude, meisterhafte Formbeherrschung, musikalische Sinnlichkeit und intellektuelle Prägnanz“. Wie bitte? Wenn das keine bloßen Phrasen sind, verstehe ich auch die Begründungen nicht. Wie kann es also zu den Auszeichnungen kommen?
Ich habe zwei gestandene Germanisten befragt und keiner hat mir geantwortet. Ich vermute, sie wollen mich nicht verletzen, sonst müssten sie vielleicht meinen Mangel an Qualifikation herausstellen. Müssen wir uns also vor den Kompetenzen der Kritiker und Juroren, denen man nicht das Wasser reichen kann, verbeugen? Müssen wir peinlicherweise einen Mangel an eigenem literarischen und kulturellen Wissen gestehen?
Ich habe dazu eine kleine Theorie aufgestellt. Sie geht so: Der Autor verwendet ganz unterschiedliche Momente der früheren Literaturgeschichte und bringt sie erstmals zusammen (z.B. rhetorische Merkmale von Shakespeare, Versrhythmen von Schiller oder Goethe und den Aufbau wie bei George). Das ergänzt er durch eigene originale Bilder. So weit so gut. Die Kritiker nun sind ebenfalls sehr belesen und fühlen sich kompetent, hier ein Urteil zu sprechen. Da sie ja selber lyrisch nicht produktiv sind, sind sie besonders stolz darauf, ihre Kenntnisse wenigstens in der „Kritik“, im Lob anwenden zu können. Sie bewerten also diejenigen Gedichte als besonders wertvoll und preiswürdig, bei denen sie ihr literarisches und kulturelles Wissen gleichsam beweisen können. Mit anderen Worten: Der Wert von Literatur wird hier gemessen an dem Wiedererkennen von traditionellen Merkmalen gemäß den Kritikern. Es gibt offenbar einen Zirkel, eine Art System im derzeitigen Literaturbetrieb, bei dem die tausend deutschen Hobbydichter natürlich programmatisch ausgeschlossen bleiben – sie werden ja von den Literaturkritikern gar nicht gelesen.
Die zweite Bilanz lautet demnach: Diese „zeitgenössische Lyrik“ kann nicht nur von mir, sondern auch von den vielen anderen „normalen“ Menschen gar nicht verstanden werden. Sie ist exklusiv. Eben deshalb wird sie von der Mehrheit auch nicht rezipiert. Die zeitgenössische Germanistik und die zeitgenössischen Lyrikautoren und die zeitgenössischen Lyrikkritiker verhindern, das heutige Lyrik bei den potentiellen Lesern überhaupt ankommt.

Sie sehen: Wir brauchen nicht nur eine neue Germanistik, mit einem neuen Literaturbegriff und mit wissenschaftlichen Methoden bei Analyse und Interpretation, sondern auch eine neue Art von Literaturkritikern und nicht zuletzt die Einbeziehung von anderen Lyrikdichtern, die sich nicht der vielen latenten Anspielungen auf frühere Literaturwerke bedienen. Das heißt aber auch: Shakespeare, Goethe, Schiller, George und die vielen anderen klassischen Lyriker bis Brecht könnten heutzutage nicht einmal im Ansatz einen solchen Preis bekommen, denn sie würden bei den heutigen Kritikern und Juroren schlicht durchfallen. Ich finde, vielleicht im Einklang mit Ihnen: „Nippes“ sollten endlich einmal kritisch reflektiert und dorthin befördert werden, wohin sie gehört.

Ich entschuldige mich für die Langatmigkeit und wünsche Ihnen gleichwohl ein schönes Wochenende.

Mit freundlichen Grüßen

Werner Faulstich