Leserbriefe zur Rezension

„Distant Reading“, aus der Nähe betrachtet

Zu Franco Morettis überschätzter Aufsatzsammlung

Von Dieter Lamping


Christian Milz schrieb uns am 26.10.2016
Thema: Dieter Lamping: „Distant Reading“, aus der Nähe betrachtet

Was ist das für eine "Wissenschaft", die solche Böcke schießt? Bei Büchner geht man noch einen Schritt weiter und stellt sekundäre Texte (zeitgenössische Gutachten usw.) geradezu axiomatisch vor den primären Text. Weder Philologie noch Distant Reading, geschweige denn Dekonstruktion (Müller-Sievers) schützen hier vor kapitalem Unsinn (vgl. "Schluss mit dem Mordkomplex", Andreas Beck in ZfdPh 4/2012). Die Literaturwissenschaft (die bewusste Literaturrezeption übrigens desgleichen) ist offenkundig extrem ideologieanfällig, die Scheu vor den kollektiven Leichen im Keller inbegriffen. Das Seelische lässt sich aber weder rein theoretisch-akademisch noch mit der konventionellen Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts bewältigen. Zweifellos ist das ein gravierendes Problem. Interessant aber, wie leicht sich intellektuelle Schaumschlägerei stattdessen breitmachen kann und wie schwer es hierzulande etwas fundiertere Ansätze haben, die indes mit Materialismus und Intellektualismus inkompatibel sind. Die Literaturproduktion, insbesondere im Bereich des (außerdeutschen) Drehbuchschreibens, schert sich freilich keinen Deut um "Literaturwissenschaft", funktioniert aber. Was da funktioniert und warum, sollte man mal untersuchen.