Leserbriefe zur Rezension

Am Rand des Abgrunds

Eine gute und eine schlechte Nachricht zur „Debatte“ um Takis Würgers Schundroman „Stella“

Von Jan Süselbeck


Frieder Sommer schrieb uns am 03.02.2019
Thema: Jan Süselbeck: Am Rand des Abgrunds

Lieber Jan Süselbeck, danke für die Zusammenfassung der Kritik an Würger.
Warum Sie allerdings Geigers Roman "Unter der Drachenwand" einem "Viktimisierungstrend" zuordnen, erschließt sich mir nicht.
Wenn man diesen Roman im Zusammenhang mit Würgers "Stella" nennen wollte, dann doch eher als eine Empfehlung an Würger, z.B. das Kapitel "Wie's mir geht?" aufmerksam zu lesen, in dem Oskar "Israel" Meyer die ausweglose Situation seiner Familie so entsetzlich eindringlich schildert. Vielleicht bekäme dieser erschreckend naive Mensch und Autor Würger dann eine winzigkleine Ahnung davon, welchem existenziellen Druck Juden in dieser Zeit ausgesetzt waren. Arno Geiger ist es meisterhaft gelungen, das "Unerzählbare" zu erzählen. Aufschlußreich finde ich, daß die Liebesbeziehung zwischen "Stella" und Friedrich auf eine seltsame Art "platonisch" bleibt. Hatte der Autor Würger hier einen Schutzengel an seiner Seite, der ihn davor bewahrt hat, eine rote Linie zu überschreiten?
Die rote Linie, die der Autor Peter Roos in seinem Roman "Die Gestapoakte und Ich" auf schamlose Weise überschritten hat. Herzlich Frieder Sommer


Jan Süselbeck schrieb uns am 04.02.2019 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Jan Süselbeck: Am Rand des Abgrunds

Sehr geehrter Herr Sommer,

vielen Dank für Ihren Leserbrief. Meine Nebenbemerkung zu Arno Geigers Roman "Unter der Drachenwand" beruht auf einer genauen und kritischen Lektüre im letzten Herbst.

Die Geschichte der jüdischen Familie mit dem sprechenden Namen Meyer wirkt bei Arno Geiger im Zusammenhang mit der des Wehrmachtssoldaten Veit weitgehend unmotiviert. Mehr noch: Die sporadisch weitererzählten und gegenüber der Leidensgeschichte von Veit seltsam im Hintergrund bleibenden Fluchterfahrungen Oskar Meyers drohen sogar zu einem Spiegelbild deutscher Dilemmata zu werden – frei nach dem Motto, jeder habe damals sein Päckchen zu tragen gehabt.

Um diesen unguten Eindruck kurz zu erläutern: Meyer hat das kurzzeitige Angebot, nach Westafrika auszuwandern. Er entscheidet sich bloß deshalb dagegen, weil er hört, dass dort durchgehend tropische Temperaturen vorherrschen. Er wirkt mithin wie ein jüdischer Zauderer, der die besten Rettungsmöglichkeiten aus bloßer Bequemlichkeit ausschlägt und damit bis zu einem bestimmten Grade selbst mit Schuld am furchtbaren Schicksal seiner Familie trägt.

Veit hat dagegen überhaupt keine Wahl. Er ist schwer verwundet und weiß die ganze Zeit, dass er einer erneuten Einberufung an die Ostfront bei seiner Genesung kaum wird entgehen können. Gerade weil Veit als reuiges Mitglied eines Täterkollektivs dargestellt wird, das an einer posttraumatischen Belastungsstörung laboriert, wirkt seine erzwungene Kollaboration tragisch.

Im Grunde kann man Geigers Roman nur auf zweifache Weise lesen. Erstens: Das Leid deutscher und österreichischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg und jüdischer Verfolgter während des Holocausts sind nicht zu vergleichen, weswegen die unvermittelt auftauchende, parallele Erzählebene zur Familie Meyer im Text seltsam isoliert bleibt und keinerlei Sinn ergibt. Oder zweitens: Wir sollen Veits Geschichte sogar mit der Oskar Meyers vergleichen, was aber eine ganze Reihe weiterer Unstimmigkeiten und ethischer Fragen aufwirft.

Sollte diese Gegenüberstellung etwa heißen, dass es für deutsche Wehrmachtssoldaten kein Entrinnen gab, während jüdische Familien of viel zu lange brauchten, um zu erkennen, in welcher gefährlichen Lage sie sich befanden? Selbst, wenn man Meyers Geschichte nicht so lesen möchte: Was sollen wir als LeserInnen aus dieser Gegenüberstellung in diesem Roman, dessen Schwerpunkt ganz klar auf der Beschreibung des deutsch-österreichischen Kriegsalltags in der nationalsozialistischen Alpen-Provinz liegt, denn dann genau lernen?

Die sympathietragenden Figuren am Mondsee (Veit, seine 'reichsdeutsche' Geliebte, der 'Brasilianer') sind in diesem Plot in wachsendem Maße gegen das Regime und wirken aus kritischer Sicht eher wie Wiedergänger aus fabrizierten deutsch-österreichischen Familiengeschichten, in denen Omi und Opi den Zwangsarbeitern stets heimlich geholfen und ein Butterbrötchen auf die Fensterbank gelegt haben wollen, obwohl ihr Leben im Krieg gewiss auch nicht einfach gewesen sei.

Kurz: Diese literarischen Figuren sind bei Geiger selbst (potenzielle) Verfolgte im "Dritten Reich". Es ist also nicht zu übersehen, dass auch dieser Roman nicht ganz von den Viktimisierungstendenzen der NS-Erinnerung in den deutschsprachigen Medien frei ist.

Mit freundlichen Grüßen,
Jan Süselbeck


Frieder Sommer schrieb uns am 05.02.2019 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Jan Süselbeck: Am Rand des Abgrunds

Hallo Herr Süselbeck,
herzlichen Dank für Ihre Antwort, die ich in dieser Ausführlichkeit nicht erwartet habe.
Daß ich den Roman von Arno Geiger aus einem etwas anderen Blickwinkel lese,hat zwei Gründe: Zum einen bin ich „Otto Normalleser“ und zum anderen ist es möglicherweise schlicht ein biographischer Grund. Ich habe das Kriegsende als 6-Jähriger sehr bewußt erlebt. Der leider oft zu Recht erhobene Vorwurf mit den Familiengeschichten von „Omi und Opi“ betrifft mich nicht, er trifft eher Ihre Generation, die meine war bekanntlich auf der penetranten Suche nach der Schuld von „Vati und Mutti“. Aber auch für Arno Geigers Roman will ich diesen „Omi und Opi“-Vorbehalt nicht gelten lassen.
Die beiden Erzählstränge, Veits Geschichte und die Geschichte der Familie Meyer(übrigens hat der Würzburger Zentralratsvorsitzende den „sprechenden  Namen“ Schuster, das nur nebenbei) habe ich als voneinander getrennte Geschichten gelesen, so wie sie sich ja auch ereignet haben.
In einer für mich wichtigen Hinsicht möchte ich die Familiengeschichte Oskar Meyers allerdings „engführen“, mit etwas außerhalb des Romans, nennen wir es meine Betroffenheit als Lesender, als eine Art unmittelbarer Identifikation mit der Romanfigur.
Oskar Meyer war sicher so jüdisch wie ich evangelisch bin. Er war ein Deutscher, ein Nachbar wie viele andere auch. Kurz, ein Mensch „wie Du und ich“.
Und das ist für mich das schiere Gegenteil einer „Viktimisierung“, es ist die Möglichkeit eines Verstehens des eigentlich Unvorstellbaren. Mit Oskar Meyer als "Opfer" hat das nichts, aber auch garnichts zu tun. Lassen Sie es mich an einem bekannten „Witz“ erläutern: Auf die Aussage „Die Juden sind an allem schuld!“ folgt die Antwort „Jajaa, die Juden und die Radfahrer!“
Um noch einmal zu verdeutlichen, was ich meine: Auf Seite 116 des Romans lese ich: „Gestern wurde ich auf der Straße angespuckt. Ich erschrak so, daß ich stehenblieb...da spuckte er mich ein zweites Mal an. Das zweite Mal war viel ärger.“ Und als Leser erschrecke ich, Frieder Sommer, mit Oskar Meyer, der eben nicht Jakob Cohen heißt.
Allein für Sätze wie diese, in der Wortwahl, in der sprachlichen Gestaltung, in ihrer erschreckenden Nüchternheit und gleichzeitigen unausweichlichen Deutlichkeit, bin ich Arno Geiger dankbar. Hier hat Literatur eine „Funktion“ - ein scheußliches Wort in diesem Zusammenhang -, nennen wir es „Wirkung“, „Sinn“, oder was auch immer.
Ich grüße Sie ganz herzlich
Frieder Sommer
Emy-Roeder-Str. 12
97074 Würzburg


Christian Milz schrieb uns am 08.02.2019
Thema: Jan Süselbeck: Am Rand des Abgrunds

Ich habe da so meine Zweifel, ob die vermeintlich "gute Nachricht" einer literaturkritischen Unisono-Reaktion unserer sogenannten Qualitätsmedien nicht mehr als einen eingefleischten  Reflex (dessen Analyse ich mir erspare) und eine etwas naive Selbstbeweihräucherung der Zunft darstellt. Schon dieses merkwürdige Bedürfnis, ein übereinstimmendes Ergebnis zu feiern und einer selbstständigen ästhetisch-kritischen Kalkulation zuzuschreiben, wirkt vor dem Hintergrund medialer Marktmacht und magersüchtiger Schreibstuben eher wie das Pfeifen im Walde. Weil die Ergebnisse übereinstimmen (tun sie das in der Presse nicht andauernd?) auf die richtige Mathematik zu schließen, ist doch wohl kaum mehr als Werbung in eigener Sache, im Hinblick auf argumentative Logik und intellektuelle Redlichkeit freilich eine arge Zumutung.