Leserbriefe zur Rezension

Halb und halb

Ulrich Kittstein legt im Jubiläumsjahr eine umfangreiche Studie zum Werk und Leben Gottfried Kellers vor

Von Peter C. Pohl


Ulrich Kittstein schrieb uns am 16.04.2019
Thema: Peter C. Pohl: Halb und halb

Universitätsethnologische Etüden

Selbst wenn den Wissenschaftler, der Tag um Tag fleißig in seiner Klause sitzt, einmal die Sehnsucht nach Abwechslung und heiterer Entspannung überkommt und er für eine kleine Weile in das bunte Getümmel des Weltlebens hinabsteigt, fällt es ihm nicht leicht, die Brille des kritischen Forschers abzusetzen. Das gilt besonders dann, wenn er sich bei solchen Gelegenheiten unter das eigentümliche Völkchen der Akademiker mischt und dessen sonderbare Sprünge betrachtet. Aus flüchtigen ethnographischen Studien, die bei solchen Anlässen aufs Papier geworfen wurden, entstand schon vor längerer Zeit die Universitätsethnologie, die die exotische Lebenswelt der Akademiker mit ihren Riten und Gebräuchen erforscht. In jener Gründungsphase habe auch ich, übrigens ebenfalls hier auf literaturkritik.de, mit meinen Reflexionen über J.S. und den U.d.A. (ruhmreichen Angedenkens) einen bescheidenen Beitrag geleistet. Aus dem Abstand von zehn Jahren scheint es nun angebracht, den aktuellen Stand dieser Disziplin zu resümieren, ihre Leistungen zu würdigen und ihre Erkenntnisse der interessierten Öffentlichkeit vorzustellen. Als Fernziel schwebt mir eine mehrbändige Studie vor, die das ganze Gebiet der Universitätsethnologie systematisch erfasst. Mag sie sich dereinst würdig neben die Werke anderer abendländischer Meisterdenker von Platon über Nietzsche bis Eckhard Henscheid stellen – für heute muss es aus Zeit- und Platzgründen leider bei einigen vorläufigen Bemerkungen bleiben.
Sehr erwünscht kommt da ein ‚Text‘ – die Universitätsethnologie ist hier aus guten Gründen vorsichtiger und spricht im Blick auf die Erzeugnisse des akademischen Diskurses lieber von ‚Wortfolgen‘ – von Peter C. Pohl, der sich auf mein kürzlich erschienenes Buch Gottfried Keller. Ein bürgerlicher Außenseiter bezieht. Der konkrete Gegenstand ist freilich im Grunde gleichgültig, da Akademiker aus Sicht der Universitätsethnologie ohnehin keine Individuen, sondern lediglich Struktureffekte des akademischen Betriebs sind. So gibt Herr P. – um allen Missverständnissen von vornherein die Spitze abzubrechen – nicht das Objekt, sondern nur den Anlass für die folgenden Überlegungen ab (deshalb gestatte man auch die Abkürzung). Der Verfasser vorliegender Zeilen hat von akademischer Seite schon Reaktionen erfahren, neben denen P.s Wortfolge nicht nur zahm und artig, sondern sogar wie ein Musterbeispiel gedanklicher Stringenz anmutet. Sie taugt aber, wie sich erweisen wird, vortrefflich als Exempel für eine universitätsethnologische Demonstration.
Beginnen wir damit, im Blick auf den erwähnten Beitrag einige Merkwürdigkeiten zusammenzutragen, die bei der Lektüre Verwirrung stiften und einer fachkundigen Erklärung harren. Das gilt schon für P.s Bemerkungen zum Stil des Keller-Buches. Werden einerseits die „Lesbarkeit“ und Verständlichkeit der Ausführungen anerkannt, so wecken andererseits of-fenbar gerade diese Qualitäten ein diffuses Unbehagen, das sich in kryptischen Bemerkungen wie der Rede von einer „Diktion“, die „(bisweilen zu) eingängig“ sei, niederschlägt. Indes wollen wir dieses Thema vorläufig auf sich beruhen lassen und uns auf die Einsicht zurückziehen, dass die Geschmäcker eben verschieden sind. In wissenschaftlichen Kreisen amüsiert man sich ja auch umgekehrt immer wieder, wenn unsere Akademiker mit der Sprache ringen wie Laokoon mit den Schlangen (und auch ungefähr mit demselben Erfolg). Und wenn die armen Leute zeitlebens nur mit dem akademischen Deppenjargon konfrontiert waren, muss die unvermittelte Begegnung mit der deutschen Sprache tatsächlich einen Schock verursachen, ähnlich wie bei Maulwürfen, die man plötzlich ins helle Sonnenlicht schubst.
Etwas ausführlicher verbreitet sich P. über die theoretischen Grundlagen des Buches, die er augenscheinlich mit großer Skepsis betrachtet. Nun wäre es tatsächlich fatal, wenn sich die wissenschaftlichen Kategorien und Perspektiven einer Untersuchung als untauglich erweisen würden, ihren Gegenstand zugänglich zu machen, eine erhellende, argumentativ begründete Interpretation zu ermöglichen und zu plausiblen Resultaten zu führen. Aber verblüffenderweise behauptet P. das eigentlich gar nicht, zumal ihn das Bild von Kellers Werk, das in diesem Buch mit Hilfe der herangezogenen Analysekategorien gezeichnet wird, offenbar nicht interessiert – jedenfalls kommt es in seiner Wortfolge gar nicht in den Blick. Vielmehr scheint P. bestimmte Theorien zu wünschen, die er hier nicht vorfindet, und bestimmte andere nicht zu wünschen, die er vorfindet. Als Maßstab der Bewertung dient aber nicht etwa der Erkenntniswert der jeweiligen Ansätze, auf den P. keine Aufmerksamkeit verschwendet, sondern ihr Alter: P. kennt Theorien, die „in die Jahre gekommen sind“, daneben andere „nicht mehr ganz so alte Begriffe“ und vermutlich auch noch solche, die gerade erst in den Windeln liegen (auch wenn von denen nicht ausdrücklich die Rede ist). Wissenschaftliche Beurteilungskriterien werden also gar nicht erst berücksichtigt.
Zweifellos kritisch gemeinte Bemerkungen sind zahlreich in der P.schen Wortfolge, aber leider nehmen sie nirgends eine so konkrete Gestalt an, dass sie überhaupt diskutabel werden. Unklar bleibt beispielsweise, wer eigentlich für die „Setzung der polaren bürgerlichen Geschlechterordnung“ gerügt wird. Mein Buch rekonstruiert, welche Geschlechterordnung(en) Kellers Texte mit literarischen Mitteln entwerfen, aber auch, wie sie sie bisweilen in Frage stellen oder unterlaufen. Gilt der Vorwurf also dem Dichter Keller? Er wird ihn sich gewiss zu Herzen nehmen und es künftig besser machen. Nicht anders in weiteren Fällen: Ob es um „schulmeisterliche“ Züge der Monographie oder ihre angeblich „eigentümlich braven Wertungen“ geht, ob die „Darstellung von Ökonomie“ als „oberflächlich“ bezeichnet wird oder von „starken, allgemeinen Thesen“, die „unausgeführt wirken“, die Rede ist – es handelt sich durchweg um starke, allgemeine Behauptungen, die unausgeführt bleiben, denn keine von ihnen wird auch nur andeutungsweise erläutert oder gar belegt.
An anderen Stellen begegnet eine ähnliche Paradoxie wie bei den stilistischen Fragen: Soweit das überhaupt festzustellen ist, scheint P. den wissenschaftlichen Ertrag der Untersuchung und ihrer Ansätze nicht einmal in Abrede stellen zu wollen. Von „interessanten Früchten“, die das Buch erbringt, wird beiläufig gesprochen – welche das sind, bleibt der Spekulation des Lesers überlassen. Die „älteren Begriffe“ seien hilfreich bei den „Zusammenfassungen der Prosawerke“ Kellers – das signalisiert wohl so etwas wie Anerkennung, sofern man die Wendung halbwegs gerade rückt, denn Kellers Werke werden im Buch natürlich nicht ‚zusammengefasst‘, wofür man auch wahrhaftig keine theoretische Begrifflichkeit brauchte, sondern in enger Auseinandersetzung mit den Texten interpretiert. Sogar den „Nerv der Zeit“ trifft die Monographie, so erfährt der verdutzte Leser, der aber leider nicht darüber belehrt wird, wie dieses Kompliment zu den angeblich „überholten Theoriereferenzen“ passt. „Innovativ“ sei der Ansatz, Kellers Werk unter dem Aspekt der Bürgerlichkeit zu untersuchen – das könnte vielleicht zu etwas führen, aber die sich zaghaft andeutende Klarheit wird gleich darauf mit den schon oben gewürdigten Gummiformulierungen wieder vertrieben. Und da eben dieser „innovative“ Ansatz im vorangegangenen Abschnitt noch als „Verlegensheitslösung“ tituliert wurde, weiß der Leser nun endgültig nicht mehr, was er denken soll.
P.s ‚Rezension‘ ist in ihrer konsequenten Weigerung, sich auch nur versuchsweise mit dem Thema, dem Verfahren, der Argumentation und den Resultaten des Buches, das doch ihren Gegenstand bilden sollte, auseinanderzusetzen, durchaus repräsentativ für die Verlautbarungen der akademischen Welt. Der universitätsethnologische Laie steht konsterniert vor solchen akademischen Ergüssen, weil er ihnen mit Erwartungen an Sinn, Kohärenz und Sachbezug begegnet, denen sie weder genügen können noch genügen wollen. Gleichwohl sind sie lehrreich, wenn man sie nur kompetent zu behandeln weiß. Das Rüstzeug dafür liefert die Universitätsethnologie, deren wichtigste Einsichten hier in der gebotenen Kürze referiert seien.
In der geschlossenen Welt der Akademiker müssen Karrieren, Rangfragen, persönliche Beziehungen und die Verteilung knapper Ressourcen, etwa von Geldern, Lehrstühlen und anderen Stellen, geregelt werden. Dies geschieht über den Einsatz von akademischem Kapital, das die gesammelten Machtmittel und Einflusschancen des Akademikers in Abgrenzung zu seinen Kollegen umfasst. In dieses Kapital gehen ganz verschiedene Elemente ein: die hierarchische Position und die Gehaltsklasse an der Universität, die Mitgliedschaften in einflussreichen Gremien, der quantitative Publikationsausstoß sowie das akademische Renommee der jeweiligen Publikationsorte, Auftritte auf Tagungen und Kongressen, die gleichfalls nach Renommee abgestuft sind, die Zitierfrequenz und nicht zuletzt die vorteilhaften Verbindungen zu anderen Akademikern, die auf höchster Ebene in den berühmten drei Kartellformen organisiert sind (Zitierkartelle, Rezensionskartelle und Berufungskartelle). Dabei ist das akademische Kapital einer permanenten Dynamik unterworfen, weil es im Machtgefüge der Universität ständig neu ausgehandelt und bestimmt wird – ohne eine solche Beweglichkeit würde der akademische Betrieb erstarren und umgehend den Kältetod erleiden. So sind in der universitären Welt allenthalben komplizierte Auf- und Abstiegsprozesse zu beobachten, die sowohl einzelne Akademiker und ganze Netzwerke von ihnen als auch den Kurswert der unterschiedlichen Kapitalformen betreffen. Das gesamte Leben eines Akademikers kreist um die Akkumulation von akademischem Kapital im Wettstreit mit der Konkurrenz.
Die Elemente des akademischen Kapitals müssen handlich und klar bestimmbar sein, damit ihre Abwägung und ihr Einsatz jederzeit problemlos erfolgen können. Das führt uns zu jener Erkenntnis der Universitätsethnologie, die man seit jeher als besonders ernüchternd empfunden hat: Wissenschaftliche Leistungen können nicht in akademisches Kapital konvertiert werden. Den Wert wissenschaftlicher Arbeiten, Thesen und Resultate zu beurteilen, erfordert eine differenzierte, fachkundige Auseinandersetzung, die viel Zeit und Mühe kostet und doch nie zu eindeutigen, fasslichen Resultaten führt. Kurz gesagt: Wissenschaft ist bei weitem zu komplex, als dass die akademische Welt etwas mit ihr anfangen oder sie gar als Regulativ gebrauchen könnte. Bei Stellenbesetzungen, Mittelvergaben und anderen Aushandlungsprozessen im universitären Milieu wird die wissenschaftliche Qualifikation der Kandidaten oder Bewerber daher grundsätzlich nicht berücksichtigt und noch nicht einmal thematisiert.
Theorien haben unter Akademikern einen ganz anderen Status als in der Wissenschaft, was leicht zu Missverständnissen führen kann, weil in beiden Sphären ja teilweise dieselben Wörter benutzt werden (immerhin können viele jener Theorien, deren Termini als Schlagworte im akademischen Betrieb flottieren, durchaus auch als Werkzeuge der Wissenschaft dienen). Für den Akademiker ist eine Theorie lediglich ein Set von Vokabeln, denen in seinem Umfeld ein bestimmter Kapitalwert zugewiesen wird. Am wissenschaftlichen Nutzen und am Erkenntniswert theoretischer Modelle ist er nicht interessiert, und sie gehen ihn auch nichts an: An das theoretische Vokabular darf sich gerade keine gedankliche Substanz heften; es muss als Teil des akademischen Kapitals frei verfügbares Spielmaterial bleiben. Dabei unterliegt sein Kurswert ebenfalls den erwähnten Schwankungen, und er kann auch in verschiedenen Sektionen der akademischen Welt höchst unterschiedlich sein – so kenne ich akademische ‚Kritiker‘, denen die von P. als greisenhaft gescholtenen Begriffe und Kategorien wiederum viel zu modisch und aktualitätssüchtig wären. Freilich gelten unter den Theorieansätzen die jüngeren oft – aber nicht immer! – als besonders hip. Die Etiketten ‚konventionell‘ und ‚innovativ‘, mit denen Theorien im akademischen Diskurs gerne belegt werden, beziehen sich nicht auf deren wissenschaftlichen Gehalt, sondern markieren aus der Sicht des jeweiligen Sprechers lediglich geringere bzw. höhere Kapitalwerte, weshalb sie je nach Umständen auch ganz flexibel gehandhabt werden können. Die akademische Welt kennt keinen Fortschritt – den gibt’s allenfalls in der Wissenschaft –, sondern nur einen unablässigen Wandel.
Akademiker sind also keine Wissenschaftler, sie spielen bloß Wissenschaftler, indem sie mit Versatzstücken hantieren, die sie nicht nach ihrem sinnvollen Zusammenhang, sondern nach ihrem akademischen Kapital- oder Protzwert beurteilen. Boshafte Menschen haben sich das bekanntlich hin und wieder zunutze gemacht, um Parodien auf den akademischen Deppenjargon zu fabrizieren und in den universitären Diskurs einzuschmuggeln. Solche Unternehmungen sind aber nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch höchst überflüssig, weil die besagten Parodien sich als sinnfreie Aneinanderreihungen entsprechender Reizwörter ja gar nicht von normalen akademischen Arbeiten unterscheiden. Die akademische Welt kann nicht parodiert werden, weil sie bereits ihre eigene Parodie ist.
Man begreift nun, warum das Leben und Treiben der Akademiker aus der Außensicht so vollkommen aberwitzig erscheint. Kein vernünftiger Mensch, der wissenschaftliche Maßstäbe anlegt und auf die argumentative Stringenz und Überprüfbarkeit von Aussagen fixiert ist, wird jemals begreifen, nach welchen Prinzipien diese Leute in ihren Wortfolgen Phrasen miteinander verknüpfen, Wertungen verteilen oder auch bestimmte andere Wortfolgen zitieren oder eben nicht zitieren. Der universitätsethnologisch geschulte Blick aber durchdringt das Chaos und verbreitet das gleißende Licht der Aufklärung: Weiß man Bescheid über akademische Netzwerke, Verbünde und Kartelle, über Machtverhältnisse, Abhängigkeitsbeziehungen und Allianzen, kurz: über die Verteilung und die Dynamik der Kapitalwerte auf dem akade-mischen Feld, dann ordnet sich das Durcheinander und enthüllt eine zwar perverse, aber absolut zwingende Logik.
Es ist kein Wunder, dass zwischen Wissenschaftlern und Akademikern keine Kommunikation zustande kommt. Der Akademiker erwartet Protzvokabeln, Souveränitätsgesten, Selbstinszenierungen, strategische Züge, mit denen man die Mitgliedschaft in einer akademischen Seilschaft, einem Netzwerk oder Kungelclub signalisiert – mit anderen Worten: Er erwartet den Einsatz von akademischem Kapital und reagiert verstört, wenn sein Gegenüber ihm das Trockenfutter von Sachargumenten serviert. Ratiophobie, die panische Angst vor der Vernunft, ist die Berufskrankheit der Akademiker. Dutzende von ihnen – und die Dunkelziffer dürfte beträchtlich sein – sind schon bei einer unvermittelten Begegnung mit der Wissenschaft in Tobsucht verfallen und mussten zu ihrem eigenen Besten jahrelang eingesperrt werden (an den Universitäten hat man sie für die Zwischenzeit durch Wachsfiguren ersetzt, was zum Glück bis jetzt noch niemandem aufgefallen ist).
Daher rühren auch die ausgeprägte Neigung der akademischen Welt, sich strikt gegen die vernunftverseuchte Außenwelt abzugrenzen, und ihre Aversion gegen jede Form verständlicher Sprache, mit der sie sich zwangsläufig bis auf die Knochen blamieren würde. Wir kommen damit noch einmal zu P.s Wortfolge, nämlich zu der Differenzierung des lesenden Publikums in zwei Gruppen: Neben den Akademikern gibt es da die „an Kellers Leben und Werk interessierten Laien“, offenbar sehr schlichte Gemüter, die mit „philologischen, theoretischen, sozialgeschichtlichen Aspekten“ nicht behelligt werden sollten und allenfalls eine „stärker narrative Biografie“ verkraften können – man erzähle ihnen also am besten in einfachen Worten, was der Autor so alles erlebt hat. Die Frage, wo dabei dessen „Werk“ bleibt, wollen wir an dieser Stelle lieber unterdrücken, und es wird auch hoffentlich niemand zu wissen verlangen, warum P. eine solche Lebensgeschichte für „souveräner“ hält (was immer das heißen mag). Allerdings kenne ich unter den Lesern meiner Bücher einige „Laien“, die dem armen Mann für diesen Quark ganz schön die Ohren langziehen würden. Das eigentlich Selbstverständliche sei daher noch einmal festgehalten: Auf dem Gebiet der geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung gibt es keine Unterscheidung zwischen „populär-“ und „fachwissenschaftlichen“ Darstellungen, denn es gibt hier kein einziges Thema, das einen halbwegs intelligenten Menschen nicht interessieren könnte, und ein Wissenschaftler, der einen Gedanken nicht so zu formulieren vermag, dass ihn ein solcher Leser versteht, hat diesen Gedanken eben selbst noch nicht klar genug erfasst und hält tunlichst so lange die Klappe, bis ihm das irgendwann einmal gelungen ist. Gerade mit dem dämlichen Versuch, die Wissenschaft zum Distinktionsinstrument einer eitlen Möchtegern-Elite zu machen, haben sich die akademischen ‚Geisteswissenschaften‘ schon seit Jahrzehnten in die gesellschaftliche Belanglosigkeit katapultiert, wo sie heute noch sitzen und weinen. Das wäre nun nicht weiter schlimm, wenn die negativen Vorur-teile nicht unweigerlich auf die ernstzunehmende wissenschaftliche Forschung, die es auf diesen Gebieten zum Glück ja auch noch gibt, abfärben würden.
Die Ratlosigkeit, die P.s Wortfolge charakterisiert, gibt nun keine Rätsel mehr auf: Ihr Verursacher hat versucht, aus akademischer Perspektive einen wissenschaftlichen Text zu lesen. Davon ist entschieden abzuraten, denn hier prallen zwei Welten aufeinander, die ganz unterschiedlichen Gesetzen gehorchen. Der gedankliche Gehalt des Keller-Buches ist, da ohne ein-schlägigen Kapitalwert, aus akademischer Sicht nicht von Belang. Akademisches Kapital aber setzt das Buch nicht ein, und es bietet auch keine Gelegenheit, welches zu erwerben. Statt dessen richtet es sich an Leser, die an Kellers Werken interessiert sind und aus wissenschaftlicher Perspektive etwas darüber erfahren möchten. Deshalb muss es ganz anderen Anforderungen genügen als eine akademische Wortfolge. Wenn ein Akademiker Stuss labert, fällt das nicht weiter auf – ich kann es mir nicht leisten. Anders als der akademische Sound muss die Sprache der Wissenschaft klar und präzise sein (in P.s Diktion: „(zu) eingängig“). Theoretische Begriffe, methodische Verfahren und Analysekategorien werden nicht nach ihrem akademischen Protzwert, sondern nach ihrer Tauglichkeit und ihrer aufschließenden Kraft taxiert. Sie werden deshalb natürlich auch keineswegs „unproblematisiert“ verwendet, wie P. sich einbildet, sondern müssen sich am Material als produktiv und ergiebig bewähren, weil mir der kritische Leser sonst im Handumdrehen aufs Dach steigt.
Obendrein müssen sie im vorliegenden Fall imstande sein, eine Darstellung von monographischem Format zu tragen, die Kellers Werk einerseits umfassend, andererseits in allen seinen Facetten hinreichend differenziert erfasst. Sie müssen im Kontext klar bestimmt sein und ihren Zweck als wissenschaftliche Instrumente erfüllen. Was zum Beispiel unter dem „psychischen Habitus“ zu verstehen ist, wird im Buch deutlich genug erläutert und dürfte aufgeweckten Lesern keine Probleme bereiten. Sie müssen dafür auch gar nicht wissen, dass der Begriff aus der Zivilisationstheorie von Norbert Elias stammt, weshalb sich entsprechende Exkurse, die den Nutzwert dieser Kategorie nicht erhöhen würden, erübrigen. Ein Akademiker freilich, der weder Elias kennt noch darin geübt ist, auf Sinnzusammenhänge und Erläuterungen in einem Text zu achten, assoziiert den Habitus-Begriff eben gewohnheitsmäßig mit Bourdieu (weshalb er ihn auch für „nicht ganz so alt“ hält …) und kann dann nur verblüfft und vorwurfsvoll feststellen, dass es sich in diesem Fall ja „gar nicht um das Bourdieu’sche Habituskonzept“ handelt.
Was Keller im Horizont seiner Zeit unter „Bürgerlichkeit“ verstand, wird im Buch Schritt für Schritt eingehend rekonstruiert – nur sollte man das Werk, wenn man seinen Gegenstand erfassen will, vielleicht doch lieber nicht ganz so „zügig“ lesen. Und wer schließlich in jüngerer Zeit etwas zu Keller publiziert hat und sich hier zu seiner Enttäuschung nicht zitiert und gewürdigt findet, möge künftig bessere Beiträge vorlegen, dann wird sich das im Handumdrehen ändern. Auch für die Auswahl von Sekundärliteratur ist in wissenschaftlichen Arbeiten die Qualität und nicht das Erscheinungsdatum ausschlaggebend.
Doch es schlägt soeben ein Uhr; die Geisterstunde ist vorüber, und ich muss schließen. Hier waren, wie gesagt, nur ein paar universitätsethnologische Präliminarien möglich. Aber es ist hoffentlich gelungen, einen Eindruck von dem zu geben, was diese Wissenschaft zu leisten vermag: Eine scheinbar völlig inhaltslose Wortfolge hat uns, universitätsethnologisch seziert, mitten ins Zentrum der akademischen Welt geführt und schauderhafte Schlaglichter auf ihre tiefsten Geheimnisse geworfen. Sicherlich geschah das am Willen und am Bewusstsein ihres Verursachers vorbei. Aber die Universitätsethnologie untersucht keine Bewusstseinsinhalte, sondern die Mechanismen des akademischen Betriebs und damit gleichsam das institutionelle Unbewusste der Universität, das deren Insassen lenkt und leitet wie Marionetten. Und sie zeigt so in erschreckender, aber vielleicht auch heilsamer Weise, was aus Menschen alles werden kann, wenn man nicht höllisch auf sie aufpasst …

Ulrich Kittstein