Christian Milz schrieb uns am 13.04.2021
Thema: Jörn Münkner: Am Puls der Texte
Stellenweise insbesondere auf den ersten Seiten brillant, enorm belesen gewiss, auch kompentent im Hinblick auf Stil und Sprache, schlägt Michael Maar indes mehr (z.T. bereits breit ausgetretene) Schneisen ins Unterholz "großer Literatur", als dass er deren "Geheimnisse", wie es im Untertitetl heißt, ausplaudert. Stil ist eben nicht alles, vielleicht nicht einmal die Hauptsache. Wer wirklich an dem Geheimnis von Literatur interessiert ist, der wird in den knappen Anmerkungen Maars zu den einzelnen Autoren nicht fündig, er sucht das Konkrete, sprachlich Bestimmbare, auch das Autobiografische, für die entscheidenen mythologischen Tiefenstrukturen beispielsweise bei Fontane oder Büchner hat er keinen Blick. "Idiosynkrasien" sei Fontanes Lieblingswort, er koppele Substantive zu langen Wort-Waggons, sein Stechlin bestehe hauptsächlich aus Dialogen in denen immerzu gelacht statt gesagt werde, woran man noch den Journalisten erkenne (beim Kollegen Hemingway fielen der journalistischen Sparsamkeit wenigstens die Adjektive zum Opfer) und eine Schwäche für die Sentenz sei Fontanes Hauptmerkmal: Nein, mit selbigem hat Maar nichts am Hut, immer wieder dieser gleiche Ton, den man irgendwann nur noch schwer ertrage - gleichwohl vieles bei Fontane sei entzückend und mit dem Zeigestock: "Nichts gegen Fontane".
Aber wo ist bleiben die Geheimnisse? Der Autor hat sich darüber mit seinem Kollegen Spielhagen, der den gleichen Stoff der Effi Briest ebenfalls zu einem Roman verarbeitet hatte, brieflich ausgetauscht. U.a. die Zwillinge Bertha und Hertha sind ein Hinweis, der bis zum mythologisch dunklen Herthasee reicht mit seinen historischen Menschenopfern, die schon ganz am Anfang in der Bootsfahrt auf dem See des Biest'schen Anwesens antiizipiert werden und ein Musterbeispiel für die Verdichtung bei Fontane darstellen. Die Platanen (in Händels berühmtem Largo besungen), bzw. deren immaterielles Rauschen, werden am Ende zu Symbolen der Transzendenz. Ein mehr dem Stoff als der Form zuzurechnendes Geheimnis besteht in der fehlenden Hochzeitsreise der alten Briests, über mögliche Hintergründe in Hinblick auf den preußischen Staat und das Königshaus ist in der Literaturkritik schon intelligent spekuliert worden.
Ein weiteres Geheimnis großer Literatur betrifft Büchner und sein Woyzeck-Fragment, aus dem Maar ein paar Schnipsel zitiert: "Käfer summen wie gesprungene Glocken" und "Augen sind so schwarz, als schaue man in einen Ziehbrunnen". Maar fragt, ob Käfer wirklich wie gesprungene Glocken summen können? Sie könnten, Büchner habe genau hingehört. Hat er nicht vielmehr tiefer in große Literatur hineingelesen als Maar selbst? Beispielsweise in Macbeth mit dessen Assoziation der dunklen Hekate, des hornbeschwingten Käfers und der nächt'gen Schlummer- bzw. Todesglocke? Bei Büchner sind die Glocken gesprungen wie das Glas, in dessen Scherbe sich Marie spiegelt, nicht nur weil sie materiell arm ist, sondern moralisch arm wie Hamlets Mutter, eines Hamlet, der seine Mutter (nur) mit den Augen ersticht, während Woyzeck tatsächlich zusticht. Warum? im Woyzeck findet sich eine rhetorische Raffinesse, die ihresgleichen sucht und die es wohl wert gewesen wäre, in Maars Fundus von Stilschätzen aufgenommen zu werden. Marie stößt auf dem Höhepunkt ihrer Verzweiflung, die Bibel in der Hand (vgl. Hamlet, III,3) folgenden Satz aus: "Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz". Metapher? Wörtlich zu verstehen? Beides? Daher die gesprungenen Todesglocken und die Spiegelscherbe. So geht Dichtung und in der Verdichtung liegen eben die Geheimnisse großer Literatur.
Einen hübschen Scherz hat sich übrigens der Computer gestattet, der das Register zusammenstellte. Unter "Fontane" hat er auch die "Fontäne" in der Schmuddelecke des Pikanten im letzten Kapitel subsumiert, dieser Seitenhieb auf das Oberflächliche der Schlange im Wolfspelz muss sein.
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