Karl-Josef Müller schrieb uns am 03.04.2022
Thema: Johann Holzner: Verblasste Bilder aus Dörfern der Ukraine
Beginnen wir mit einem sachlichen Fehler, basierend auf ungenauer Lektüre: „Sergei, der sich hin und wieder Verse aus den Psalmen zu Gemüte führt, und Janek, sein Enkelkind, haben keine Heimat mehr und so ziehen sie von Dorf zu Dorf, man nennt sie Landstreicher.“
Janek, der eigentlich Michael heißt, ist nicht Sergeis leiblicher Enkel. Sergei ist ein ehemaliger Mitarbeiter von Janeks Vater. Er ist Christ, die Eltern von Janek sind Juden. Er vertraut diesem alten, blinden Mann seinen Sohn an in der Hoffnung, diesen vor der Verfolgung zu retten, die den Juden bevorsteht: „‘Nimm dieses kleine Bündel, da ist ein wenig Geld drin, die Eheringe von mir und meiner Frau und meine Armbanduhr. Morgen vertreiben sie uns aus der Stadt.‘“ Zu seinem Sohn sagt der Vater: „‘Tu, was Großvater Sergei dir sagt. Das hier geht vorüber, und danach kehren wir heim.“
In der Rezension heißt es „Janek, ein kleiner Junge, dessen Eltern auf der Flucht sind, sein Vater ist Jude“ Der Rezensent erklärt den Roman für gescheitert, auch weil es sich hier, wie bei allen Büchern von Appelfeld, „um Transformationen des klassischen Heimatromans“ handele. Im Verhalten des Nenngroßvaters Sergei will der Rezensent das Verhalten der Russisch-Orthodoxen Kirche wiedererkennen, eine Behauptung, die angesichts des aktuellen Krieges von besonderer Brisanz erscheinen muss: „Der Kampf des Guten mit dem Bösen (nach wie vor ein aktuelles Thema in den Kathedralen der Russisch-Orthodoxen Kirche) wird von Sergei, der regelmäßig von seiner Militärzeit schwärmt und zugleich doch auch schon davon geträumt hat, als Mönch zu leben, zum Kerngedanken jeder Erziehung stilisiert. Der Roman freilich leidet darunter, weil er mehr und mehr auf den Pflöcken dieses pädagogischen Programms festgezurrt wird.“
Man kann, und ich denke man muss die Figur des Nenngroßvaters anders deuten. Er nimmt ein jüdisches Kind in seine Obhut und führt es auf verschlungenen Wege durch einen Krieg, dessen Ziel auch die Vernichtung allen jüdischen Lebens war. Was wäre geschehen, wenn die Tarnung aufgeflogen wäre? „Großvater Sergei setzte hinzu: ‚Verzeih mir, aber damit die Tarnung perfekt ist, hänge ich dir noch ein kleines Holzkreuz um. So erweckst du keinen Verdacht.‘“
Unerwähnt bleibt in der Rezension, womit dieser Roman endet. Janek ist mittlerweile alleine, sein Nenngroßvater ist tot, ihn „traf ein Irrläufer (...) in die Stirn.“ Janek trifft „auf eine Gruppe Flüchtlinge“: „Eine Frau (…) fragte: ‚Aus welchem Lager bist du?‘ ‚Ich war nicht im Lager.‘“ In den ehemaligen Lagerinsassen meint Janek, seine Leute erkennen zu können, ihre Gesichter „ähnelten den Gesichtern der Eltern, der Großeltern, der Onkel, Tanten und Cousins. Wenn er diese Gesichter nur genau betrachtete, so schien es ihm, würde er sie finden.“ Erinnern wir uns an die Worte seines Vaters: „Das hier geht vorüber, und danach kehren wir heim.‘“ Doch die Frau, die Janek angesprochen hat, kennt die schreckliche Wahrheit. Sie spricht die letzten Worte des Romans: „‘Gebt auf diesen Jungen acht. Das ist ein lieber Junge. Er hat niemanden auf der Welt.‘“
Die letzte Passage der Rezension lautet:
„Ungereimtes auf Ungereimtes, Widersprüchliches auf Paradoxes, geht jegliche Anschaulichkeit verloren und die ‚Wanderschaft‘ der beiden Landstreicher Sergei und Janek schließlich zu Ende, als wären, ausgerechnet auf diesem Schauplatz und in dem hier vorgestellten höchst-brisanten Zeitabschnitt, die Auswirkungen der NS-Politik und des Krieges kaum auszumachen und deshalb auch nicht unbedingt mit darzustellen gewesen.“
Selten habe ich eine Rezension gelesen, die einem Buch so wenig gerecht wird wie die hier vorliegende über Appelfelds Roman. Wer eine andere Beurteilung lesen möchte:
https://www.hagalil.com/2022/02/sommernaechte/
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Johann Holzner schrieb uns am 11.04.2022 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Johann Holzner: Verblasste Bilder aus Dörfern der Ukraine
Noch einmal: Zu Aharan Appelfelds Roman „Sommernächte“
Karl-Josef Müller kommt in seiner Besprechung des Romans, in dem er „eine Art Märchenwelt“ konstatiert, „in der alles, was sich zuträgt, genau so hat kommen müssen, ohne dass nach dem Warum und Weshalb gefragt würde“, zu diesem Schluss: „Sommernächte – der Titel […] klingt alles andere als bedrohlich. So auch viele Passagen des Romans, in denen das beinahe meditative Wandern von Janek und Großvater Sergei durch einer [sic] freundliche Natur geschildert wird.“ – Gut, Janek, „der eigentlich Michael heißt, ist nicht Sergeis leiblicher Enkel“; das ist richtig und wohl auch tatsächlich wichtig hervorzuheben. Andererseits, für die Figuren und für den auktorialen Erzähler macht das keinen Unterschied, soll und darf es gerade in diesem Punkt keinen Unterschied mehr geben: ‚leiblich‘ oder ‚angenommen‘, Enkel ist Enkel, Sergei ist und bleibt für immer Janeks ‚Großvater‘. Im Übrigen ist es ist ja nicht so, dass hier ein jüdischer Vorname durch einen christlichen Namen ersetzt worden wäre; kommen doch beide Namen aus dem Hebräischen, beide aber sind im Deutschen wie im Polnischen weit verbreitet und wecken keine Konnotationen à la Abraham oder Moses. – Der Name Michael wurde jedenfalls auch nach 1938 nie in die vom Reichsminister des Inneren erstellte Liste jener „jüdischen“ Namen aufgenommen, die auf dem Boden des Dritten Reiches nicht mehr vergeben werden durften.
Appelfeld hat zahlreiche Auszeichnungen für sein literarisches Werk erhalten und auch verdient. Aber es ist dennoch, meine ich, nicht nur erlaubt sondern in einer Rezension geradezu geboten zu fragen, wie hier, in diesem Spätwerk, von der „Wanderschaft“ der beiden Landstreicher erzählt wird. Zunächst einmal: aus einer patriarchalen Perspektive, die an keiner Stelle reflektiert oder gar abgeklopft wird; und schließlich: in grenzenlosem Vertrauen auf eine dürftige Handlungs- und Dialogführung, die ein gestrenges Lektorat nie und nimmer so hätte akzeptieren dürfen.
Dialogführung. Sergei und Janek stoßen auf ihrem langen Weg zum Kloster Santa Maria immer wieder mit Obdachlosen und mit Straßenräubern zusammen, für welche Meditation nichts anderes ist als ein Fremdwort, und sie versuchen trotzdem ebenso geduldig wie beharrlich, diese Vagabunden zu einem gottesfürchtigen Leben anzuhalten … indem sie fortwährend über Gott reden und auch die „Bösen“ dazu aufrufen, auf Gott zu schauen und zu hören (während im Hintergrund die ersten Soldaten der Roten Armee schon auftauchen). – Kein Kommentar.
Handlungsführung. Den Schluss des Romans muss man, denke ich, nicht unbedingt verraten; aber im Hinblick auf den Handlungsablauf könnte und darf man gewiss konkreter werden. Beispiele: Es regnet häufig, gelegentlich tagelang. Janek findet dennoch immer und überall mühelos trockene Zweige, um ein Lagerfeuer anzufachen und Tee zu kochen; mehr noch, nachdem Großvater Sergei von einem Irrläufer getroffen wird und stirbt, findet Janek sogar augenblicklich eine herrenlose „Kutsche“, auf die er Sergei bettet mit dem Vorsatz, ihn „mit dieser Kutsche in sein Heimatdorf“ zu bringen, „damit er dort bei seinen Vätern bestattet werde“. Wenig später begegnet er (der bis dahin kaum einmal eine Ahnung gehabt hat, wo genau sie sich aufhalten) zum ersten Mal auf dieser Wanderschaft einem Wegweiser mit der Aufschrift „Iwanow – zwanzig Kilometer“. Er hat es also, weiß er somit, gar nicht weit mit seiner Kutsche bis zum Dorf des Großvaters. Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.
„Janek wird den Krieg überleben, wie ja auch Aharon Appelfeld überlebt hat“, heißt es abschließend in Karl-Josef Müllers Rezension; im Roman ist indessen vom weiteren Schicksal Janeks nirgendwo die Rede: Die Darstellung Müllers gilt einem Wunschbild.
Johann Holzner
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Karl-Josef Müller schrieb uns am 13.04.2022 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Johann Holzner: Verblasste Bilder aus Dörfern der Ukraine
Fangen wir – nochmals – mit dem ‚Großvater‘ an.
Entscheidend ist nicht, dass Janek angenommen wurde, er wurde vom Vater übergeben, vom Juden einem Christen anvertraut. Dieser Umstand wird in der Rezension nicht erwähnt. Nicht das Angenommensein ist wichtig, sondern die Tatsache, dass Janek nur als vermeintlicher Christ überleben konnte, siehe das Holzkreuz. Nimmt man dies nicht zur Kenntnis, kann man den Roman meines Erachtens nicht verstehen und ihm nicht gerecht werden.
Die Romanhandlung ist alles andere als realistisch, siehe etwa die herrenlose Kutsche. Und immer wird Pfeife geraucht und Tee getrunken.
Doch dann, nach einer zweiten Lektüre, erkannte ich im Text den Aharon Appelfeld wieder, den ich in den vielen Romanen, die ich von ihm gelesen habe, ob seiner ganz eigenen Erzählweise so sehr schätze wie sein Werk mich auch irritiert. Es ist dieser ‚weiche‘ Ton, diese eher indirekte Erzählweise. Ja, ich hatte Schwierigkeiten mit den ‚Sommernächten‘, aber insbesondere einige Passagen, auf die in der Rezension nicht eingegangen wird, haben ein Umdenken bewirkt. Ich zitiere aus meiner Rezension:
„So träumt Janek, er ist gerade zehn Jahre alt geworden, kurz vor Kriegsausbruch von Pferden, „‘wie ich ihresgleichen noch nie gesehen habe. In ihrem Wiehern liegt ein starker Drang, und es ist klar – wir werden es nicht überleben, wenn sie uns vorwärtspreschend im Galopp überrennen.‘“
Und nochmals:
„Janek träumt von den Pferden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Im zweiten Traum erscheinen sie zunächst weniger bedrohlich: „‘Dieses Mal standen wir auf grünen Wiesen. Die großen Pferde weideten still.‘“ Doch der friedliche Eindruck trügt: „‘Ich betrachtete sie. Ihre Augen sagten: ‚Ihr irrt euch. Der Drang und die Wut stecken noch in uns. Wir nähren sie im Stillen, und wenn der Tag kommt, flackern sie auf.‘“
Janeks Tante, der Janek den ersten Traum erzählt hatte, hatte noch versucht, das Kind zu beruhigen, die Ahnung des Unheils allerdings ist stärker. Und muss man nach dem 24. Februar bei diesen Worten nicht an den Krieg denken, dessen Ausbruch so viele nicht für möglich gehalten hätten?
Für meine Rezension habe ich den Titel „Vielleicht darf man gar nicht darüber sprechen“ gewählt, ein Zitat aus dem Roman. Als Dreizehnjährige hat Ruth Klüger ein Gedicht über ihren damaligen Aufenthaltsort Auschwitz geschrieben mit der vierfach wiederholten Zeile „Alles, alles wird verbrannt.“ Soweit ich weiß, blieb Appelfeld diese ‚Erfahrung‘ erspart, er konnte aus einem Arbeitslager fliehen und hat, wenn ich die zugänglichen biografischen Angaben richtig deute, eher an den Rändern der Katastrophe überlebt. Und genau diese Ränder werden in den ‚Sommernächten‘ beschrieben.
Am Ende des Romans ist klar erkennbar, dass die Eltern sowie alle Angehörigen von Janek ermordet wurden, in den Lagern, wie es heißt. Ist davon in der Rezension zu lesen? Und müsste man das nicht erwähnen, selbst wenn man Vorbehalte gegen den Ton des Romans hat und ihm, dem Roman, nicht so recht über den Weg traut?
Wer das Haupt der Medusa direkt anschaut, wird zu Stein verwandelt, nur der indirekte Blick ist erträglich. Doch auch dieser indirekte Blick verweist, wie der Traum, auf die Gewalt, die direkt anzuschauen nicht zu ertragen wäre:“‘Der Drang und die Wut stecken noch in uns. Wir nähren sie im Stillen, und wenn der Tag kommt, flackern sie auf.‘“
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