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Günter Helmes schrieb uns am 04.11.2023
Thema: Redaktion literaturkritik.de: Robert Habeck über Israel und Antisemitismus
Bei allem Respekt vor der Rede Herrn Habecks und weitgehender Zustimmung zu dieser Rede:
Eindimensional den Eindruck einer unmittelbaren, auf Monokausalität hinauslaufenden Verbindung zwischen Holocaust und der Gründung des Staates Israel zu behaupten (und daraus staatsraisonale, auf Notwendigkeiten hinauslaufende Schlüsse zu ziehen), lässt ausser Acht, dass es bereits seit den 1920er Jahren unter dem von Großbritannien wahrgenommenen Völkerbundmandat für Palästina zu verstärkter jüdischer Einwanderung nach Palästina und zum Aufbau protostaatlicher Strukturen in Palästina gekommen ist - mit entsprechendem Konfliktpotential.
Ich finde es bedauerlich, dass Herr Habeck die schrecklichen Geschehnisse in Israel und Gaza zu einem 'Exkurs' über Putin genutzt hat. Das ist für mich eine unstatthafte Instrumentalisierung dieser Geschehnisse.
Ich begrüße es hingegen, dass Herr Habeck explizit Kritik am Staat Israel für ein selbstverständliches Recht hält. Faktisch ist es freilich häufig genug so, dass eine Kritik an Israel sofort mit dem Vorwurf des Antisemitismus belegt wird. Von daher wäre es m.E. wichtig gewesen, wenn Herr Habeck ausgeführt hätte, was er unter Antisemitismus versteht.
In diesem Zusammenhang ein Zitat vom bekennenden Juden Stefan Zweig vom 22. Juli 1920 (Brief an Marek Scherlag):
"Ich sehe die Aufgabe des Jüdischen politisch darin, den Nationalismus zu entwurzeln in allen Ländern, um so die Bindung in reinem Geiste herbeizuführen. Deshalb lehne ich auch den jüdischen Nationalismus ab, weil er auch Hochmut und Absperrung ist: wie können nicht mehr, nachdem wir 2000 Jahre die Welt mit unserem Blut und unsern Ideen durchpflügt, uns wieder beschränken, in einem arabischen Winkel ein Natiönchen zu werden. Unser Geist ist W e l tgeist. (...) Es hilft nichts stolz zu sein auf das Judentum oder beschämt - man muss es bekennen wie es ist, nämlich heimatlos im höchsten Sinne. Deshalb glaube ich, dass es nicht Zufall ist, wenn ich Internationalist oder Pacifist bin - ich müsste mich und mein Blut verleugnen, wenn ich es nicht wäre!"
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Rolf Löchel schrieb uns am 04.11.2023
Thema: Redaktion literaturkritik.de: Robert Habeck über Israel und Antisemitismus
Die Veröffentlichung der Rede von Robert Habeck möchte ich zum Anlass nehmen, auf den Offenen Brief "Literaturbetrieb, jetzt!" hinzuweisen, der sich „gegen jede Form von Antisemitismus – aus der Mitte, wie von rechts und links“ stellt:
http://www.offener-brief-israel-literaturbetrieb.de
Er wurde bislang von mehr als 1.000 AutorInnen unterzeichnen. Zu ihnen zählen etwa Herta Müller, Elfriede Jelinek, Christian Kracht, Sibylle Berg, Lutz Seiler, Hengameh Yaghoobifarah, Dirk von Lowtzow, Doris Dörrie, Terézia Mora, Uwe Timm und Thea Dorn.
Rolf Löchel
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Rolf Löchel schrieb uns am 05.12.2023 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Redaktion literaturkritik.de: Robert Habeck über Israel und Antisemitismus
Anlässlich des terroristischen Angriffs der Hamas auf Israel haben nicht nur Angehörige des Literaturbetriebs einen Offenen Brief gegen Antisemitismus veröffentlicht, sondern auch WissenschaftlerInnen. Er kann hier gelesen und unterschrieben werden:
www.athene-center.de/nie-wieder
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Franz Horvath schrieb uns am 04.11.2023
Thema: Redaktion literaturkritik.de: Robert Habeck über Israel und Antisemitismus
Vielen Dank für den Hinweis! Jetzt ist nur noch zu hoffen, dass den Worten auch Taten in vielfältiger Form folgen werden. Im Übrigen wusste ich nicht, dass Herr Habeck auf literaturkritik.de publizierte; spannend! VG FH
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Karl-Josef Müller schrieb uns am 30.11.2023
Thema: Redaktion literaturkritik.de: Robert Habeck über Israel und Antisemitismus
Robert Habeck ist es gelungen, in einer so kurzen wie beeindruckenden Rede den zentralen Punkt der Ereignisse vom 7. Oktober zu benennen. "Genau diese Angst ist nun zurück." Gemeint ist die Angst jüdischer Menschen nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Diese Angst gründet im Antisemitismus, dessen Gipfelpunkt Habeck unmissverständlich benennt: "Der Zweite Weltkrieg war ein Vernichtungskrieg gegen Juden. Für das Naziregime war die Vernichtung des europäischen Judentums das Hauptziel. Und weil unter den Rechtsextremen so manche Putin-Freunde sind: Putin lässt sich mit Vertretern der Hamas und der iranischen Regierung fotografieren und bedauert die zivilen Opfer im Gazastreifen, während er zivile Opfer in der Ukraine schafft." Zu dieser Passage Günter Helmes: "Ich finde es bedauerlich, dass Herr Habeck die schrecklichen Geschehnisse in Israel und Gaza zu einem 'Exkurs' über Putin genutzt hat. Das ist für mich eine unstatthafte Instrumentalisierung dieser Geschehnisse." Der Zusammenhang, den Habeck herstellt, ist meiner Ansicht nach mit Händen zu greifen.
Ja, es kam bereits in den 20er Jahren "zu verstärkter jüdischer Einwanderung nach Palästina", wie Helmes behauptet, ohne die Gründe hierfür auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Die Dreyfus-Affäre, der offen antisemitische Bürgermeister von Wien Karl Lueger (im Amt von 1897 bis 1910), die Antisemitische Partei im Deutschen Reich (https://www.dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/antisemitismus/antisemitische-parteien.html), - der Zionismus als Wunsch nach eigener jüdischer Staatlichkeit gründet darauf, dass Theodor Herzl nach Jahrhunderten der Verfolgung keine Hoffnung mehr hatte auf ein friedliches Zusammenleben aller Menschen, egal zu welcher Religion oder politischen Überzeugung sie sich bekennen. Dass Habeck diese Vorgeschichte nicht erwähnt, kann ihm keineswegs zum Vorwurf gemacht werden. Sehr wohl aber benennt er den drastischen Gipfelpunkt des Antisemitismus und die sich daraus ergebenden besondere Verantwortung von uns allen als Deutsche: "Es war die Generation meiner Großeltern, die jüdisches Leben in Deutschland und Europa vernichten wollte. Die Gründung Israels war danach, nach dem Holocaust, das Schutzversprechen an die Jüdinnen und Juden - und Deutschland ist verpflichtet, zu helfen, dass dieses Versprechen erfüllt werden kann. Das ist ein historisches Fundament dieser Republik."
Stefan Zweig hat sich im Exil das Leben genommen, am 23. Februar 1942 im brasilianischen Exil. Können wir davon ausgehen, dass Zweig die von Helmes zitierte Haltung aus dem Jahr 1920 auch 1942 noch beibehalten hätte? Lässt sich die Gründung Israels gleichsetzen mit den negativen Seiten eines überbordenden Nationalismus, der zu ersetzen wäre durch "die Bindung in reinem Geiste", wie Zweig es 1920 formuliert?
Die Einwände von Günter Helmes zielen darauf ab, unsere Aufmerksamkeit auf ein nationalistisch gesinntes Israel zu lenken. Es seien jüdische Menschen gewesen, die durch den "Aufbau protostaatlicher Strukturen in Palästina" für "Konfliktpotential" sorgten - wohin soll diese Argumentation führen? Dass das, was am 7. Oktober in Israel geschehen ist, seine Wurzeln letztlich in der Gründung eines jüdischen Staates hat?
"Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch", "Noch einmal: das deutsch-jüdische 'Gespräch'", "Juden und Deutsche", "Rede über Israel", "Israel und die Diaspora" - fünf Texte von Gershom Scholem aus den Jahren 1966 bis 1969 machen deutlich, dass die Gründung des Staates Israel für das (Über)Leben des jüdischen Volkes nach der Shoa absolut notwendig war.
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Günter Helmes schrieb uns am 09.12.2023 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Redaktion literaturkritik.de: Robert Habeck über Israel und Antisemitismus
Vielen Dank, sehr geehrter Herr Müller, für Ihre Replik auf meinen Leserbrief zu Herrn Habecks Rede. Zu dieser Replik in suggestivem Ton ließe sich Vieles sagen, ich beschränke mich auf einen Punkt:
Sie erwecken den Eindruck, als habe ich die Hintergründe für die - ich bleibe dabei: Probleme generierende - Einwanderung von Juden nach Palästina schon in den 1920er Jahren willentlich verschwiegen, um ... ja, um was denn? Was wollen Sie mir denn zuschreiben bzw. unterstellen?
Mit Verlaub: Ich habe vorausgesetzt, dass diese Hintergründe zumindest der Mehrzahl der LeserInnen von literaturkritik.de bekannt sind. Diese Hintergründe spielen im Übrigen in der Sache und für meine Argumentation keine Rolle. Ist es nicht so, dass sowohl der Zionismus mit Herzl als Galionsfigur als auch Zweigs Äußerung Reaktionen auf die von Ihnen unnötiger Weise, wie ich finde, ausgebreiteten Hintergründe sind? Beiden waren mit diesen Hintergründen, waren mit dem weit verbreiteten Antijudaismus und Antisemitismus über die Jahrhunderte bestens vertraut und nahmen mit ihren Positionen genau dazu Stellung. Die Stellungnahme von Stefan Zweig ist eindeutig. Warum sollte er sie zwei Jahrzehnte später widerrufen haben, wie Sie es für möglich halten? Sind Ihnen explizite oder implizite Äußerungen Zweigs aus den sich zuspitzenden späten 1920er und den 1930 Jahren bekannt, die auf eine im Grundsatz veränderte Position hinsichtlich des Zionismus schließen ließen? Mir nicht. Aber gerne lasse ich mich belehren.
Mit besten Grüßen, Günter Helmes
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Karl-Josef Müller schrieb uns am 12.12.2023 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Redaktion literaturkritik.de: Robert Habeck über Israel und Antisemitismus
Keiner von uns kann sich vergegenwärtigen, kann sich vor Augen führen oder nachfühlen, was sich bei dem Überfall am 7. Oktober zugetragen hat. Robert Habeck hat in seiner Rede nicht zuletzt darauf reagiert.
Ich zitiere nochmals eine der entscheidenden Passagen aus Ihrem Leserbrief:
"Ich begrüße es hingegen, dass Herr Habeck explizit Kritik am Staat Israel für ein selbstverständliches Recht hält. Faktisch ist es freilich häufig genug so, dass eine Kritik an Israel sofort mit dem Vorwurf des Antisemitismus belegt wird. Von daher wäre es m.E. wichtig gewesen, wenn Herr Habeck ausgeführt hätte, was er unter Antisemitismus versteht."
"Faktisch"? Das hätten wir schon gerne genauer gewusst, was genau damit gemeint ist. Und was Robert Habeck unter Antisemitismus aktuell versteht, kann doch keinem Zweifel unterliegen. Jüdisches Leben in Deutschland und weltweit ist gefährdet, darauf kommt Robert Habeck zu sprechen, ein Teil von uns allen fühlt sich unter uns nicht mehr sicher.
Noch ein Zitat: "Die Stellungnahme von Stefan Zweig ist eindeutig. Warum sollte er sie zwei Jahrzehnte später widerrufen haben, wie Sie es für möglich halten?" Ja warum nur? Weil es das Jahr 1933 gegeben hat, Rassegesetze, den 9. November 1938, den Beginn eines Vernichtungskrieges - gegen wen? Nein, ich weiß nicht, ob Stefan Zweig seine Meinung zu einem möglichen jüdischen Staat geändert hat, das habe ich auch nicht behauptet. Aber konnte er sich seiner Meinung von 1920 im Jahr 1942 wirklich noch so sicher sein, das ist meine Frage, die keiner von uns beantworten kann. Die Frage, warum er seine Stellungnahne zwei Jahrzehnte später hätte widerrufen sollen und die Unterstellung, dass es dafür ja keinerlei Grund gegeben habe, grenzt an Naivität.
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Günter Helmes schrieb uns am 13.12.2023 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Redaktion literaturkritik.de: Robert Habeck über Israel und Antisemitismus
Eine letzte Antwort, sehr geehrter Herr Müller, in der Form von mehreren Bitten.
Bevor Sie Zuschreibungen wie "Naivität" oder Ähnliches in den Raum stellen, lesen Sie doch bitte erst einmal gründlich und Sinn entnehmend.
Bitte gehen Sie davon aus, dass mir die von Ihnen angeführten Geschehnisse in den 1930er Jahren bekannt sind, Ihre eigenen Kenntnisse ein ums andere Mal herauszustellen tut, glaube ich, nicht Not.
Bitte erinnern Sie sich an all das Schreckliche, dass Juden über viele Jahrhunderte u.a. in vielen Teilen Europas ein ums andere Mal erleiden mussten und vor dessen Hintergrund St. Zweig in den frühen 1920er Jahren zu seiner von mir zitierten Einschätzung kam - und fragen Sie sich bitte dann noch einmal, warum er m.W. diese Einschätzung beibehalten hat.
Vergegenwärtigen Sie sich - Stichwort: "Faktisch" - bitte, dass es, soweit ich das überschauen kann, so ist, dass Kritik an Israel in der Regel und rösselsprüngig mit Antisemitismus in Verbindung gebracht oder sogar als Antisemitismus deklariert wird. Herr Habeck hätte von daher gut daran getan, explizit zu sagen, dass eine Kritik an Israel (an Nethanjaus Israel, um nicht weiter missverstanden zu werden) keinen Antisemitismus darstellt, zumindest nicht von vornherein.
Bedenken Sie bitte, dass Israel nicht d i e Juden repräsentiert, anders gewendet, dass eine Kritik an Israel aus philosemitischem Geist erwachsen kann.
Bitte sehen Sie in mir - ich verweise auf zahlreiche Publikationen und Editionen - einen überzeugten Philosemiten.
Mit freundlichen Grüßen
Günter Helmes
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