Leserbriefe zur Rezension

Mittendrin, aber nicht dabei

In seinem Sachbuch „Der doppelte Erich“ geht Tobias Lehmkuhl den Ambivalenzen von „Kästner im Dritten Reich“ nach

Von Thomas Merklinger


Günter Helmes schrieb uns am 07.01.2024
Thema: Thomas Merklinger: Mittendrin, aber nicht dabei

Lieber Herr Merklinger,
vielen Dank für Ihre luzide Besprechung von Tobias Lehmkuhls Kästner im Dritten Reich.
Ich frage mich, ob der von Ihnen gewählte Titel „Mittendrin, aber nicht dabei“ den Sachverhalt tatsächlich trifft. Meines Erachtens hat sich Kästner – zweifelsfrei kein Nazi! – den Nationalsozialisten deutlich entschiedener angedient als es dieser Titel vermuten lässt. Dabei will ich nicht auf seinen als solchen und u.a. angesichts der ihn selbst betreffenden Bücherverbrennung höchst irritierenden „Bemühungen“ herumreiten, „in die ‚Reichsschrifttumkammer‘ aufgenommen zu werden“, auch nicht darauf, dass er, der Verbotene, letztlich sich frei bewegen konnte und in den frühen 1940er Jahren sehr gut verdiente.
Aber zeihen will ich ihn der, so die Hypothese, aus karrieristischen und materiellen Gründen begangenen, proaktiv und im Wissen u.a. um das Schicksal zahlreicher Kolleginnen und Kollegen aus Literatur und Kultur herbeigeführten geistigen Kollaboration mit den Nazis, beispielhaft dokumentiert durch sein unter dem Pseudonym Berthold Bürger verfasstes Drehbuch zum Ufa-Jubiläumsfilm Münchhausen – Kästner war nicht nur „Mitarbeit[er] am Drehbuch“, sondern „lieferte den Stoff gleich mit“ (Th. Anz).
Dieses Drehbuch, von der Zensur akribisch durchgearbeitet und u.a. um der Entschärfung allzu propagandistischer Stellen willen zu mehr als 25% verändert, strotzt vor rassistischen Vorurteilen, völkisch-nationalem Denken, militaristischem und Feindbilddenken sowie reaktionären Geschlechterrollen und Familienbildern. Es ist durch und durch systemkonform und enthält – wie könnte es angesichts der professionell arbeitenden Zensur auch anders sein – gegenteiliger Behauptungen zum Trotz keine oppositionelle Botschaften (es gibt auch keinerlei Evidenz dafür, dass das Kinopublikum den Film als systemkritisch wahrgenommen hätte).
Was ich freilich noch verwerflicher finde als diese geistige Kollaboration (wer weiß im Übrigen schon, wie man sich selbst zur Zeit des Dritten Reichs verhalten hätte): Dass Kästner sich in der Nachkriegszeit selbstgerecht als personifizierte Unschuld, als moralische Instanz und Mahner schlechthin inszeniert hat, als widerständiger bloßer „Beobachter“, der nur dokumentieren wollte und immer schon alles vorausgesehen hat. Das macht für mich den eigentlichen Fall, den menschlichen Absturz des in literarischer Hinsicht großen Schriftstellers und professionellen Medienautors Erich Kästner aus. Der war mit seiner „harmonisierende[n] Klassendidaktik“, seinem „lustvollen Konformismus“ (G.H. Hommer) und seinen „kleinbürgerlichen Aufsässigkeiten“ (K. Kreimeier) in ideologischer Hinsicht freilich oftmals problematisch. Gibt es nicht zu denken, dass Emil und die Detektive, wie Sie zu Recht schreiben, „bei der Bücherverbrennung „explizit[]“ ausgenommen wurde? Hätte man sich nicht von Kästner diesbezüglich eine Äußerung à la „Verbrennt mich!“ (Oskar Maria Graf) gewünscht?


Stefan Neuhaus schrieb uns am 09.01.2024 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Thomas Merklinger: Mittendrin, aber nicht dabei

Lieber Herr Merklinger,
mich hat Ihr sachlicher, wunderbar lesbarer und informativer Artikel sehr gefreut und ich möchte nur kurz auf die von Herrn Helmes initiierte Debatte über die Bewertung der Persönlichkeit Kästners reagieren und darauf hinweisen, dass das Kästner-Handbuch, das ich kürzlich herausgeben durfte, unterschiedliche Stimmen dazu versammelt. Letztlich dürfte es für die, mit Brecht gesprochen, Nachgeborenen schwierig bis unmöglich bleiben, sich in die Zeitumstände hineinzuversetzen. Das entschuldigt in keiner Weise irgendeine Täterschaft, aber im Vergleich mit dem Verschweigen faktischer Mittäterschaft, wie sie andere Autoren nach 1945 betrieben haben (von sehr bis weniger problematisch, in die erste Kategorie würde ich den Star-Drehbuchautor Herbert Reinecker und in die zweite das jugendliche Waffen-SS-Mitglied Günter Grass einordnen, freilich beide jünger als Kästner), ist das distanzierte und sich nach Möglichkeit nicht involvierende, auch verdeckt kritische Verhalten Kästners doch sehr zu unterscheiden. Aber auch das ist nur (m)eine Meinung.
Herzlich dankt und auf anregende weitere Lektüren ihrer Rezensionen freut sich
Stefan Neuhaus