Franz Horvath schrieb uns am 29.12.2023
Thema: Rainer Bieling: Masha Gessen und das große Vergessen des Totalitären
Sehr geehrter Herr Bieling, vielen Dank für Ihre Auseinandersetzung mit der Preisverleihung an Masha Gessen. Ich stimme Ihnen darin zu, dass sie den Preis gar nicht hätte bekommen dürfen und dass ihre Positionen unhaltbar sind. Zwei Anmerkungen hätte ich dennoch. Zum einen schlussfolgern Sie aus der Tatsache, dass Frau Gessen die SU erst mit 14 Jahren verlassen hatte, dass sie sich von den bis dahin verinnerlichten sozialistischen Inhalten nicht mehr emanzipiert hatte. Diesem Gedanken liegt die Annahme zugrunde, das 10-12-14-jährige Kind sei bereits dermaßen stark indoktriniert worden, dass sie diese Inhalte auch Jahrzehnte später vertritt. Für diese These (die) Belege zu erbringen, bleiben Sie dem Leser leider schuldig. (Es stellt sich daher/zudem die Frage, ob nicht der heutige "Wokeismus" und "progressive" Israelhass mindestens genauso stark Frau Gessens Ansichten formten wie jene ersten, wenigen Jahre. Und sprechen Sie nicht (dabei durchaus exkulpierend? Frau Gessen die Lernfähigkeit ab, wenn Sie sie als unmündige Sklavin ihrer Kinderjahre darstellen?) Zum anderen wäre m.E. es sinnvoller gewesen, gerade auf einem intellektuellen Portal wie diesem, noch einmal herauszuarbeiten, was faul/falsch/unhaltbar an den Ansichten von Frau Gessen ist (Gleichsetzung des Gazastreifens mit einem Ghetto usw.). Das zu unterstreichen, kann gar nicht oft genug geschehen. Dennoch insgesamt danke für den Text, mfG Franz Sz. Horváth
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Petra Brixel schrieb uns am 19.01.2024
Thema: Rainer Bieling: Masha Gessen und das große Vergessen des Totalitären
Rainer Bieling kennt Masha Gessen, da sie bei einer Veranstaltung in Berlin vor ihm saß. Immerhin. Und: Rainer Bieling mag Masha Gessen nicht. Das macht er an Gessens Äußerem fest. Zitat: "kurze Haare, riesen Brille, cooles Outfit, schwarzer Anzug, rote Socken". Es sollte inzwischen Konsens sein, dass man (Mann!) eine Frau nicht nach ihrem Äußeren beurteilt. Auf der Bühne selbiger Veranstaltung saßen auch drei Männer. Ich lese nichts über ihre Brillen, Haare, Outfit, Anzug- und Sockenfarbe. Eine Frage: Wie hätten Sie´s denn gern, dass Masha Gessen sich kleidet?
In diesem Artikel deutet manches darauf hin, dass Bieling persönliche Niederlagen noch nicht verwunden hat, da er in zwei langen Absätzen seine eigenen Erlebnisse vor 50 Jahren in der Neuen Linken darstellt. "Die rote Ideologie alten Schlags rieche ich seither zehn Meilen gegen den Wind [...]." Der Grund für den Schmerz: "an der Freien Universität Berlin bin ich, sind wir gescheitert: Mein Institut für Publizistik, [...] wurde von den ADSen gekapert, [...]." Diese individuelle Erfahrung sollte bei der Beurteilung von Gessen nichts zur Sache tun. So traurig die Erfahrung ist, aber Gessen kann nichts dafür. Oder doch? Ist sie auch dafür – ideologisch gesehen – verantwortlich?
Apropos „riechen“: Auch Masha Gessen kann der Autor nicht riechen. Gleich im ersten Absatz ist zu lesen, Gessen sei von einem „sozialistischen Geist beseelt“. Immerhin scheint sie eine Seele zu haben. Im Weiteren geht es oftmals um Schlagworte, die mehr über Bieling als über Gessen aussagen. Er spricht von „sozialistischen Eliten“ und „intellektueller Entourage“, von einem „Vielvölkergefängnis“ und „hegemonial“ gewordenen weißen Akademikern, von „totaler“ Herrschaft der Hamas (oder ist „totalitärer“ gemeint?), von „partieller Herrschaft der Hamas“ über israelische Kibbuzim (partiell und Herrschaft?) und von einem „Mileu“, dem Gessen angehöre. Begriffe, dahingesagt, aber erklärungswürdig, ansonsten tendenziös.
Ein „Schlüssel für diese Sichtweise“ sei in einer Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin zu finden. Nein, nicht etwa in Masha Gessens Aussagen in der von Bieling besuchten Veranstaltung. Sowieso werden Gessens Einlassungen, ein Vortrag oder Redebeiträge nicht inhaltlich erwähnt. Wir lesen nur, dass sie eine „vergleichbare Emanzipation“ wie Marion Brasch nicht vollzogen habe. Das werde durch das Fehlen persönlicher Erfahrungen verhindert (so Bieling), denn als Gessen im jugendlichen Alter von 14 Jahren die Sowjetunion verlassen habe, konnte sie das „Kollabieren des sozialistischen Staates“ nicht mehr miterleben. Gelobt seien die 14-Jährigen, die die Weisheit von 40-Jährigen oder vielleicht auch erst 70-Jährigen besitzen!
Das Schwert der Verachtung fällt dann auf Gessen hinunter: „Nie wird sie sich mit diesem Milieu überwerfen, dem sie alles verdankt, zuletzt den Hannah-Arendt-Preis.“ Und hierbei wird auch der Literaturpreis gleich mitverdammt, wofür noch einmal Gessens Äußeres herhalten darf: „New Wave, das zeigt sie mit ihrem Outfit und Old Left, das offenbart sie mit Worten, koexistieren auf preiswürdige Weise.“ Nun hätte ich gerne gesehen, wie der Autor auf der Berliner Veranstaltung erschienen ist. Sakko, Schlips und Kragen, weiße Socken? Sollte es so oder ähnlich gewesen sein, was darf ich daraus schließen? Das Gegenteil von Gessen? Alles in allem lese ich nichts Inhaltliches zu Gessen, sondern nur, was Gessen nicht gesagt hat.
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