Karl-Josef Müller schrieb uns am 09.04.2024
Thema: Markus Steinmayr: Krise und Ressentiment
Ein Satz wie aus dem Lehrbuch des Germanisten-Sprech:
"Die Literatur und die Kommunikation über sie ist zuallererst Einübung in eine Praxis der Autonomie, die in diesen Zeiten zuallererst Befreiung von Heteronomie der kompetenzorientierten und politischen Zurichtung der Literatur sein müsste, um überhaupt wieder ein Möglichkeitsraum für ästhetische Erfahrung sein zu können."
Doch noch besteht Hoffnung, denn dann ist, fast verschämt, möchte man meinen, von Glück die Rede:
"Erst in diesem Raum gelingt das Glück des Lesens. Und nur um die Vermittlung dieses Glücks durch gemeinsame Lektüreerfahrung kann es gehen – ob man nun Lehramt oder das reine Fach studiert."
Um es mit den Worten von Emil Staiger zu sagen: Es geht darum zu begreifen, was uns ergreift. Sollte dies das eigentliche Ziel eines Germanistikstudiums sein? Und wo bleibt dann die Wissenschaft?
Als ich 1976 in Gießen das Studium der Germanistik voller Erwartung antrat, war es nach wenigen Wochen genau dieses Glück, das ich vermisste. An seine Stelle trat die politische "Zurichtung der Literatur", damals im Zeichen marxistischer Ideologiekritik. Es folgten weitere Sauen, die durchs germanistische Dorf getrieben wurden, etwa der Strukturalismus.
Bleiben wir bei der beglückenden Lektüre und dem Austausch darüber. Was sind das für Zeiten, in denen die Literatur von der Heteronomie der kompetenzorientierten und politischen Zurichtung befreit werden muss? Schlechte Zeiten sind das für Leser, die nach dem Lektüreglück suchen.
Wer nicht in die Sprache der Germanistik eingeweiht ist, dürfte bei der Lektüre der meisten Dissertationen in diesem Fach so seine Schwierigkeiten haben. Denn oftmals erkennt man den eigentlichen Gegenstand, die Literatur, um deren Verstehen es in solchen Anstrengungen des Geistes doch gehen sollte, kaum wieder in einer Sprache, die so hölzern wie verquast daherkommt, weil es sich meist nicht um die eigene Sprache des Verfassers handelt, sondern um die der methodischen und sich wissenschaftlich gerierenden Theoriegebäude, ohne deren Hilfe scheinbar keinerlei Erkenntnis zu gewinnen ist.
Kein Mensch käme mehr auf die Idee, eine Theorie des Romans mit folgenden Worten zu beginnen:
"Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt. Alles ist neu für sie und dennoch vertraut, abenteuerlich und dennoch Besitz."
Georg Lukács hatte nicht lange unter der transzendentalen Obdachlosigkeit zu leiden, die er in seiner Theorie des Romans noch beklagt, fand er doch Wärme, Zuversicht und Unterkunft unter dem Dach der marxistischen Theorie.
Und damit, nämlich mit der Flucht unter das Dach einer wie auch immer gearteten Theorie, mit deren Hilfe versucht wird, der Sprache der Dichtung Herr zu werden, geht nicht nur das Glück der Lektüre, es gehen auch Zweifel und Trauer verloren, die in so vielen literarischen Texten zum Ausdruck kommen. Dabei müsste es unserer Ansicht nach doch darum gehen herauszuarbeiten und zu erkennen, was alle Kunst und damit auch die Dichtung uns sagt, das ohne sie ungesagt bliebe. Nicht um die Deutung an die Stelle des Werkes zu setzen, sondern um eben das zu erkennen: dass keine noch so luzide Deutung des Werkes seine Stelle einnehmen kann.
Kein Problem, Text und Musik von Schuberts schöner Müllerin auf die wirtschftliche Situation der Gesellen im 19. Jahrhundert zu beziehen. Doch, um es mit Kafka zu sagen, "und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen".
Und was sind das für Zeiten, in denen ein Roman wie Der Vorleser von Bernhard Schlink als Schullektüre empfohlen wird? Wir ersparen uns die Antwort, verweisen als Alternative auf einen kurzen Text von Peter Weiss mit dem Titel Meine Ortschaft.
Das Fach Deutsch wird wohl kaum vom Lehrplan verschwinden. Wer dieses Fach unterrichtet, sollte möglichst viele literarische Texte aus allen Epochen gelesen haben. Mit einer Art Häppchen-Lektüre ist es nicht getan, wer sich, nur als Beispiel, durch Musils Mann ohne Eigenschaften gelesen hat, dessen Leben ist kein anderes geworden, aber es gilt, im übertragene Sinne, Rilkes Wort:
denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.
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