Leserbriefe zur Rezension

Sterben für Deutschland?

Nach dem Showdown im Weißen Haus – Wer soll unser Land mit Waffen verteidigen?

Von Dirk Kaesler


Günter Helmes schrieb uns am 08.03.2025
Thema: Dirk Kaesler: Sterben für Deutschland?

Sehr geehrte Frau von Wietersheim, lieber Herr Kaesler,

vielen Dank für Ihren aktuellen Essay.

Wenn es um Patriotismus geht, um das von Herz und Hirn genährte, Handlungsbereitschaft einschließende und von Nationalismus freie Bekenntnis zum eigenen Land, bin ich ganz bei Ihnen. Von daher versteht es sich – Stichwort: Citoyen –, dass ich es für wichtig erachte, das eigene Land und dessen Errungenschaften zu verteidigen. So wie ich es für unverzichtbar erachte, sich sozusagen schonungslos der wie auch immer gearteten Geschichte des eigenen Landes zu stellen und dessen Gegenwart unablässig daraufhin abzuklopfen, was es im Sinne von Verbesserung zu verändern gilt.

Aber es gibt etliches, das mich in Ihrem Essay irritiert, etliches, das ein komplexes Gefüge bildet und das an dieser Stelle im Einzelnen wie im Zusammenhang selbstverständlich keinesfalls angemessen dargestellt und diskutiert werden kann. Von daher bitte ich Sie (und ggf. andere) darum, meine Einlassungen und Fragen zu einigen der angesprochenen Irritationen nicht als zum Wort- und Argumentationsgefecht auffordernden ‚Fehdehandschuh‘ misszuverstehen, sondern als Ausdruck von tiefer Besorgnis angesichts aktueller, auf Hochrüstung und Mitkämpfen hinauslaufender politischer Willensbekundungen in Brüssel, Berlin und anderenorts wahrzunehmen.

Ganz zuvorderst irritiert mich die derzeit anscheinend in Erz gegossene, wie eine unumstößliche Wahrheit à la „Wir sind alle sterblich“ allüberall gebetsmühlenartig wiederholte und von Ihnen geteilte Behauptung, auch wir seien wie andere östlicher gelegene Länder Europas akut von Russland bedroht. Aber ist dem wirklich so? Was lässt sich für diese Behauptung – seit meiner Kindheit in den 1950er Jahren habe ich diese nahezu unablässig gehört, was ich erlebt habe hingegen ist, dass ‚der Russe‘ abgezogen ist, aus der ehemaligen DDR nämlich – eigentlich faktisch ins Feld führen?
Sie berufen sich u.a. auf eigene, bis in den 2. Weltkrieg zureichende familiäre Erfahrungen. Die laufen auf das (von einem m.E. despektierlichen, weil nur an Untaten denken lassenden Seitenhieb auf die Rote Armee begleiteten) Argument hinaus, dass es in der Natur ‚des Russen‘ liege, imperiale Ziele zu verfolgen, so auch heute.
Könnte es sein, dass an dieser Stelle persönliche (und teilkollektive) Traumata und damit verbundene, derzeit flächendeckend massiv geschürte Ängste den nüchternen Blick auf geopolitische, auf ökonomische, militärische und strategische Gegebenheiten, Handlungen und Ziele ‚hüben wie drüben‘ (!) verstellen? Und wenn wir uns denn schon aufs Psychologisieren anstelle eines an der Zentralvokabel „Macht“ orientiertem Analysieren einlassen wollen: Könnte es nicht sein, dass auch ‚der Russe‘ von Traumata und Ängsten heimgesucht wird? Diesen Eindruck hatte ich jedenfalls bei etlichen Aufenthalten in Russland vor einer Reihe von Jahren. Immer wieder, in unterschiedlichen Generationen aus unterschiedlichen Milieus, war von der Angst vor der NATO die Rede. Im Unterschied zum stets korrekt aufgeklärten, zu Recht verängstigten Westen das Ergebnis bloßer Propaganda? Ich glaube nicht. Aber wie dem auch sei: Wäre es da nicht zielführend, wenn ‚Versehrte‘ miteinander reden würden, so wie sie es in den 1970er und 1980er Jahren schon einmal getan haben? Von welcher Seite wurde „Frieden durch Kooperation“ eigentlich unterminiert? Um Helmut Schmidt zu paraphrasieren: Lieber hundert Stunden ggf. ergebnislos verhandeln als einen Schuss abgeben.
Wichtig scheint es mir jedenfalls zu sein, statt nur zu Psychologisieren oder gar nur zu Moralisieren (s.u.) in dem von Ost und West gleichermaßen bestelltem polit-ökonomischen Umfeld nach jenen Gründen zu suchen, die Russland vor drei Jahren dazu gebracht haben, die Ukraine völkerrechtswidrig anzugreifen. Das würde, nebenbei bemerkt, auch dazu führen, die selbstimmunisierende, die mehr verstellende als erhellende Rede vom „Angriffskrieg“ im Sinne auch jener Dialektik von Angriff und Verteidigung à la Clausewitz in Frage zu stellen.

Psychologisieren und Moralisieren: Ist das unablässige, auf Personalisierung eines internationalen Machtkonfliktes und Verteuflung eines Einzelnen hinauslaufende Putin-Bashing, das auch Sie mit einer einseitig verwendeten Vokabel wie „Kriegsverbrecher“ (die bspw. auch auf den Nobelpreisträger für Literatur Winston Churchill oder auf unseren politischen Freund Benjamin Natanjahu zutrifft?) betreiben, tatsächlich hilfreich, hilfreich insbesondere mit Blick auf Friedensstiftung? Wollen Sie sich auf eine Stufe mit dem personifizierten Niedergang des Journalismus in Deutschland Markus Lanz stellen? Der disqualifizierte sich vorgestern Abend wieder einmal mit nachfolgendem Satz über den in der Ukraine kriegerisch ausgetragenen Konflikt zweier Großmächte folgendermaßen: „In Wahrheit ist das eine zutiefst moralische Angelegenheit. Das ist nämlich eine Schlacht zwischen Gut und Böse.“ Was ja, weitergedacht, in den Avery Brundage entlehnten Worten nichts anderes besagt als: The war must go on! Fällt Ihnen in der neueren Geschichte ein Land ein, das so viele imperialistisch motivierte Kriege geführt hätte wie die Leitnation der Lanz’schen Guten, die USA nämlich?

Ich habe eingangs davon gesprochen, dass Verteidigungsfähigkeit und -bereitschaft zu einem gelebten Patriotismus gehören. Wobei ich anmerken möchte, dass zu Verteidigungsbereitschaft auch der Wille zum Gestalten von Eigenbildern und ggf. der Widerstand gegen intranationale Superioritäts- oder Ausschließlichkeits- und Deutungshoheitsansprüche gehört. Ist es aber tatsächlich so, dass es all denjenigen, die nun laut nach unverzüglicher Aufrüstung rufen, nur um die Verteidigungsfähigkeit des eigenen Landes geht? Geht es vielen nicht vielmehr darum, den Krieg in der Ukraine durch Waffenlieferungen (und mehr?) so lange fortzusetzen, bis „das Böse“ (s.o.) besiegt ist? Spielen hier nicht auch ökonomische Interessen Weniger im Westen hinein, so wie das erkennbar auch im Falle der Sanktionen gegen Russland der Fall ist? Ist die Ukraine Wolodymyr Selenskyis tatsächlich ein unbestreitbarer Teil des „Guten“ (s.o.)? Hat Kiew nicht lange vor den zur Rede stehenden Kriegshandlungen einen Bürgerkrieg im eigenen Land geführt?
In diesem Zusammenhang: Sie sprechen mit Blick auf die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Afghanistan von einer „anerkannten Mission“. Nein, „unsere Sicherheit“ wurde nicht „auch am Hindukusch“ (Peter Struck) verteidigt.

Zu Recht weisen sie darauf hin, dass es unstatthaft ist, all diejenigen, die eine Erhöhung der Rüstungsausgaben fordern, als „Kriegstreiber“ zu denunzieren. Ich nehme mich von den dergestalt Gemaßregelten nicht aus und verspreche Besserung. Gewünscht hätte ich mir freilich, dass Sie auch jemanden wie den Altbundespräsidenten und Theologen Gauck in die Schranken weisen, der – ich bekenne, ich mag ihn ganz und gar nicht – jüngst meinte, Kritiker von Rüstungsvorhaben „seliger Friedfertigkeit“ zeihen zu dürfen. Da verschlägt es mir jedenfalls den Atem! Ob Gauck demnächst in guter alter Tradition Waffen segnen wird?

Dass der Umgang mit Selenskyi im Weißen Haus unsäglich war, unsäglich auch deshalb, weil er offensichtlich geplant war: Wer wollte das bestreiten! Nicht übersehen sollte man allerdings, dass auch Selenskyi bei dieser Farce auch selbst seine unguten Momente hatte, da bspw., wo er behauptete, die Ukraine habe „von Anfang“ „alleine“ dagestanden. Mich erinnerte das an die ‚ungesühnten‘ Maßlosigkeiten und Unverschämtheiten, mit denen der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk glaubte unser Land und dessen Vertreter, insbesondere Angela Merkel, überziehen zu dürfen.

Dann: Verteidigungsbereitschaft aus Vaterlandsliebe ist das eine, Opferbereitschaft fürs Vaterland das andere. Bei Ihnen liest es sich so, als sei ‚der Ukrainer‘ schlechthin (im Unterschied zu unserem Land?) aus Liebe zur aktiven, ggf. mit Versehrung oder Tod einhergehenden Verteidigung seines Landes bereit. Auch hier hätte ich mir mehr Differenzierung gewünscht, habe ich doch den Eindruck, dass sich in der Ukraine parallel zum Kampf mit Russland auch ein Klassenkampf abgespielt hat. Ein Klassenkampf, in dem sich die einen freikaufen und/oder in Richtung Westen haben absetzen können, während die anderen die Knochen hinhalten müssen. In diesem Zusammenhang zur Erinnerung: Könige verlieren einen Krieg, Generäle eine Schlacht, Soldaten ihr Leben.

Schließlich Bundeswehr und Kinder: Vorgestern noch war ich in Leipzig im Museum in der „Runden Ecke“. Der Besuch hat mich wieder einmal in der Überzeugung bestärkt, dass sich Kindererziehung entlang humanistischer Grundsätze und das Vertrautmachen mit welcher Armee auch immer ausschließen. Nein, ein Soldat, notwendig wie er ist, ist nicht mit einem Feuerwehrmann, nicht mit einem Polizisten gleichzusetzen, wie Sie das tun.

Sehr geehrte Frau von Wietersheim, lieber Herr Kaeser, noch einmal herzlichen Dank für Ihren Essay. Ich hoffe, dass meine Einlassungen und Fragen auch von Ihnen im Sinne kritischer Begleitung und unbeschadet inhaltlicher Differenzen wohlwollend aufgenommen werden.
In diesem Sinne und mit Dank für Ihre Aufmerksamkeit grüße ich Sie herzlich,
Ihr
Günter Helmes