Leserbriefe zur Rezension

Literaturtheorie als Spieltheorie

Aus Anlass neuerer Bücher zum Thema von Stefan Matuschek, Johannes Merkel und Ruth Sonderegger

Von Thomas Anz


Prof. Dr. Joachim Bauer schrieb uns am 10.06.2005
Thema: Thomas Anz: Literaturtheorie als Spieltheorie

Sehr geehrter Herr Kollege Anz

    mit grossem Gewinn las ich - erst jetzt -  Ihren 2001
verfassten Beitrag über Theorien des Spiels und über
die Literatur als Modalität des Spiels (der Begriff der
"Spieltheorie", den Sie im Titel Ihres Beitrages von 2001
anführten, meint allerdings etwas anderes als in Ihrem
seinerzeitigen Artikel thematisiert wurde, aber das nur
am Rande).

    Ihr seinerzeitiger Beitrag über Literatur und Spiel
weist interessante Bezüge zu einigen neueren,
faszinierenden neurobiologischen Entdeckungen auf.
Die Bedeutung des Spiels wird, in etwas anderem aber
doch in einem mit Ihren Gedanken sich berührenden
Kontext, in einem Buch thematisiert, welches ich
kürzlich über die Spiegel-Nervenzellen
(Spiegeleneurone) publiziert habe, sein Titel: "Warum
ich fuehle was Du fuehlst - Intuitive Kommunikation und
das Geheimnis der Spiegelneurone" (Hoffmann und
Campe, 2005).

Spiegelneurone sind Nervenzellen bzw. Netzwerke
von Nervenzellen, die zunächst einmal das tun, was wir
von Nervenzellen schon lange wissen: eigenes
Handeln, Empfinden und Fühlen kodieren. Spiegelzellen
sind nun eine Untergruppe von Neuronen bzw.
Neuronennetzen, die - zusätzlich zu ihrer Funktion als
"normale" Nervenzellen - auch dann aktiv werden
("feuern" bzw. depolarisieren), wenn das Subjekt
BEOBACHTET, wie die entsprechende Handlung oder
Empfindung bei einem anderen Individuum vor sich
geht. Diese Zellen können also in Resonanz gehen.

    Was hat das mit Ihren Gedanken im Ihrem o.e.
Artikel, insbesondere: was hat das nun mit der Theorie
des Spiels und mit der Literatur zu tun? Einer der Orte,
an denen Spiegelzellen existieren, ist ein kortikales
Gebiet unseres Gehirns, in welchem
Handlungssequenzen als Programme gespeichert sind.
Zielgerichtete Handlungen (Handlungen mit "Sinn")
werden von hier aus, d. h. von der prämotorsichen
Rinde aus, gestartet. Erst danach kommt es zur
Aktivierung der Muskelbewegungen steuernden primär-
motorischen Neurone.

    Die handlungssteuernden Neurone der
prämotorischen Hirnrinde werden nun, soweit sie
Spiegelneurone sind,  nicht nur dann aktiv, wenn wir
selbst eine Handlung planen und beginnen, sondern
auch dann, wenn wir die betreffende Handlung,
vollzogen von einem anderen Individuum beobachten.
Dieser faszinierende Spiegelmechanismus ist der
Grund, warum wir viele Handlungen anderer Menschen
präreflexiv, spontan und ohne nachzudenken,
verstehen: Wir lassen - automatisch - ein inneres
Simulationsprogramm mitlaufen, welches uns - d. h. den
Beobachter - intuitiv über den Sinn, Zweck und das Ziel
dessen informiert, was wir gerade sehen bzw.
miterleben.

    Die Forschungen zu diesem Gebiet zeigen nun aber:
Es bleibt nicht bei der einfachen Resonanz. Vielmehr
lösen die Spiegelsysteme Imitationstendenzen aus. Wir
können diese beim Kleinkind noch ganz ungebremst
beobachten können, beim Erwachsenen "rutschen" sie
noch manchmal durch. Das Spiegelsystem ist also ein
Lernsystem, es ist die neurobiologische Basis des
Lernens am Modell.

    Und nun wird deutlich, wo der Bezug zwischen
neurobiologischen Spiegelphänomenen und dem
Phänomen des Spiels liegt. Aus der Sicht des
Obengesagten ergibt sich eine, vielleicht sogar die
entscheidende Bedeutung des Spiels (sprechen wir
zunächst einmal vom Kind, obwohl es nicht nur dort
gilt): Das Kind spiegelt, zunächst ausgehend von den
anleitenden Bezugspersonen, beim Spiel
Handlungsoptionen in sein neurobiologisches Inventar
ein. Und wenn das Kind dann irgendwann alleine - oder
mit anderen Kindern - spielt (z. B. indem es
verschiedene Rollen wechselnd selbst besetzt), probiert
es Handlungssequenzen - und natürlich auch
Empfindungssequenzen aus. Auch die Empathie
entwickelt sich nur so.

    Und nun sind wir bei Ihrem Artikel von 2001: Dieses
Ausprobieren neuer Optionen geht im Erwachsenenalter
weiter. In meinem Buch habe ich das erwähnt,
allerdings nur aufs Theater bezogen. Bei der Lektüre
Ihres Artikels wurde mir nun aber klar, dass das auch
für die Literatur ganz allgemein gilt, dass Lesen eine Art
des Spiel ist. Für diese Einsicht möchte ich Ihnen
danken. Was aus neurobiologischer Sicht gesagt
werden kann: Das neurologische Format, in dem sich
Spiel, Probehandeln und die sich daraus ableitenden
kulturellen Prozesse abspielen, ist das System der
Spiegelneurone.  Sie bilden einen intersubjektiven,
sozial geteilten Bedeutungsraum.

Freundliche Grüsse
Prof. Dr. Joachim Bauer
Internist, Facharzt f. Psychotherapeutische Medizin,
Facharzt für Psychiatrie u. Psychotherapie
Abt. Psychosomatische Medizin
Uniklinik Freiburg
Hauptstrasse 8
79104 Freiburg
(0761) 270 6539
www.psychotherapie-prof-bauer.de
www.spiegelneurone.de