Leserbriefe zur Rezension

Ein Töpfer gegen Goliath

"Das Zentrum" ist der neue Roman des Nobelpreisträgers José Saramago

Von Julia Schuster


Joachim Blasius schrieb uns am 24.11.2003
Thema: Julia Schuster: Ein Töpfer gegen Goliath

Saramago, Das Zentrum



"Komplexer Stil" ?  Unlesbarer Stil !

Liebe Julia Schuster,
auch wenn alle Zeitungsrezensionen, die ich kenne, Ihen Recht geben und dieses Buch bejubeln,  mich hat der allzu präsente Erzähler nicht in die Geschichte reingezogen, sondern rausgeboxt. Ich befürchte, sie ist für mich aus eben dem Grunde unlesbar, weshalb andere die Lektüre geradezu für ein Muss halten: der schwere Stil; das Gefühl, dass hier einer unter die Oberfläche der Dinge blickt; der Eindruck, wenn nicht von Weisheit, dann doch von einer Schatztruhe der Lebensweisheiten. Für mich jedoch ist Saramago kein Weiser, sondern ein Besserwisser.
Ich habe nichts gegen Sentenzen. Sind sie gut formuliert, sollen sie mir recht sein. "Es ist wohl wahr, dass weder die Jugend weiß, was sie kann, noch das Alter kann, was es weiß." (S.12), das ist gut formuliert. Und schön ist auch der Vergleich der Versuchung des jungen Cipriano, unter den Plastikplanen der Gemüseplantagen nachzuforschen, ob denn tatsächlich Leben darunter wächst, mit der Neugierde, mit der jemand "bereits einmal die geweihte Tunika einer Altarfigur gelüftet hat, um nachzusehen, ob das, was die Heilige von unten stützt, richtige Beine waren oder ein paar schlecht geschliffene Stelzen" (S. 29). Solche schönen Stellen gibt es viele. Aber dann diese banalen wie umständlichen Überlegungen zum Beispiel zur "verlorenen Zeit" (S.19), oder zur „Komplexität des Lebens“ (S. 27), es würde den Rahmen sprengen, das hier wiederzugeben. Nun gut, es muss nicht jede Weisheit für mich geschrieben sein. Ganz unerträglich finde ich jedoch, dass nicht klar wird, von wem sie stammt: von Cipriano oder vom Autor? „Nun, wo doch selbst die stärksten Seelen Augenblicke unvermeidlicher Schwäche erleben, ... , dann sollte es uns nicht wundern, ... , [dass es dem Cipriano] gar eine Träne in die Augen trieb.“ (S. 26) Nein, es ist der Autor der hier mit seinen schnurrigen Sätzen dazwischen quatscht und uns an seiner herablassenden Sympathie für Cipriano teilnehmen lässt. Dieser einfache Mann nämlich wäre zum Beispiel „wahrscheinlich enttäuscht, wenn er erführe, dass Algor [sein Nachname] Schüttelfrost bedeutet.“ (S. 9) Wie schön, dass der Autor es uns erfahren lässt. So versteht Saramago es auch, uns trefflich zu unterhalten, während Cipriano in seinem Unglück das Grab seiner Frau besucht, wo er „nicht länger als drei Minuten“ bleibt. (S. 48) Hören wir, was der Autor aus dem Gang des Alten und diesen drei Minuten herauszuholen weiß: „denn zu den Friedhöfen, ..., sollten wir stets zu Fuß gehen, nicht aufgrund eines kategorischen Imperativs oder transzendentalen Gebotes, sondern weil es der Anstand gebietet, schließlich ...“ und es folgt eine Betrachtung von Pilgerwanderungen. (S. 46) Ich kann mir nicht helfen, ich find das Geschwätz. Ebenso, wie das Gerede über die Geradlinigkeit und Richtungslosigkeit unserer Gedanken, mit dem Ciprianos Schweigen am Grab aufgefüllt wird. Weshalb hatte er „nicht die Zeit, seiner Frau all das zu sagen, was ihm im Kopf herumging“? Der „Grund dafür muss sein“, dass die verschiedenen Wortarten ständig stolpern, sich vergnügen, umeinander kreisen und, verglichen mit der „blitzartigen Geschwindigkeit des Gedankens“, „immer nur einen Fuß vor den anderen setzen“ können. Aber zum Glück müssen uns epistemologische Untiefen und Abgründe nicht weiter beängstigen, sondern darf Cipriano noch mal zwei Zeilen „murmeln“, und dann tritt auch schon, auf derselben Seite 48, die reizvolle Witwe auf, die der Klappentext versprochen hat.
Immer ist ja Saramago bereit, seine Allwissenheit mit uns zu teilen. Über die Tochter Ciprianos, Maria, erfahren wir schon auf der zweiten Seite: „In der vorletzten Nacht ist sie schwanger geworden, aber das weiß sie noch nicht.“ Und auch im Fall der Witwe lässt uns der Autor, so zart er die Bande zwischen ihr und Cipriano auch geknüpft hat, doch nicht lange im Ungewissen. Auf S. 55 schon bekommt dieser Gelegenheit, zu versichern: „Das ist eine junge Frau, ich habe nicht die Absicht, wieder zu heiraten.“
Alles klar? Jawohl, bei Saramago bleibt kein Auge trocken und nichts unbeantwortet.. Ist das der Grund, weshalb Ihr alle so von ihm schwärmt?


P.S.

Muss man, wenn man einen Roman rezensieren will, ihn auch zu Ende lesen? Ich habe mich dann doch weiter geschleppt. Aber auf S. 78. war für mich endgültig Schluss. Maria antwortet auf eine Frage ihres Vaters: Wir beginnen, „womit man immer beginnen muss, mit dem Anfang.“ (s. 76) O je, das hätte sie nicht sagen dürfen! Denn sie beteiligt sich so an einer „schlimmen Plage, eine der schlimmsten, die die Welt je heimgesucht hat“, den Sprichwörtern. Eine ganze Seite lang weist Saramago nach, wie vollkommen falsch Maria das Leben, die Zeit und überhaupt alles sieht, sie unterliegt eben schlichtweg der „Täuschung der Unschuldigen und Ahnungslosen“. Und deshalb wendet sich die aufwändige (und banale und aufgeblähte) Richtigstellung dieses kleinen Sätzchens auch gar nicht an Maria selber, sondern an uns, den aufgeklärten Leser. Maria nämlich ist nicht einmal in der Lage, Wörter wie „Präsentation des Projekts“ sicher zu gebrauchen (S. 78). Aber der Autor weiß ja auch über ihre Schwangerschaft besser bescheid als sie selber.