Leserbriefe zur Rezension

Liebende Mutterherzen und mordende Muttermonster

Gerlinde Maurer untersucht das Verhältnis von Kindsmord und Mutterideal

Von Rolf Löchel


Til Quadflieg schrieb uns am 10.12.2005
Thema: Rolf Löchel: Liebende Mutterherzen und mordende Muttermonster

Sehr geehrter Herr Löchel,
in der Einleitungspassage Ihrer Literaturkritik "Liebende Mutterherzen und mordende Muttermonster" befindet sich ein Irrtum. Kant hat sich in seiner "Metaphysik der Sitten" nie für eine Straffreiheit des Muttermordes an ihrem unehelichen Kind ausgesprochen. In dem betreffenden Abschnitt § 49 E I (in der Suhrkamp Ausgabe Seite 458) spricht er dieser Form der Tötung lediglich mildernde Umstände zu, die u.U. nicht zu der Vollstreckung eines Todesurteils führen sollten:  "Es gibt indessen zwei todeswürdige Verbrechen, in Ansehnung deren, ob die Gesetzgebung auch die Befugnis habe, sie mit der Todesstrafe zu belegen, noch zweifelhaft bleibt (...) Das eine Verbrechen ist der mütterliche Kindesmord (...) - Hier kommt die Strafgerechtigkeit nun sehr ins Gedränge: entweder den Ehrbegriff durchs Gesetz für nichtig zu erklären, und so mit dem Tode zu strafen, oder von dem Verbrechen die angemessene Todesstrafe wegzunehmen, und so entweder grausam oder nachsichtig zu sein".
Es geht also nur darum, ob dieses Verbrechen mit der Todesstrafe belegt werden solle oder nicht.
Wie Sie am Ende Ihrer ansonsten sehr schönen Literaturkritik ja auch feststellen, wurden diese mildernden Umstände auch noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein in Deutschland rechtlich anerkannt.
Allerdings liegt in den Ausführungen Kants - jenseits der Frage nach der Strafzumessung - tatsächlich eine abscheuliche Formulierung: "Das uneheliche auf die Welt gekommene Kind ist außer dem Gesetz (denn das heißt Ehe), mithin auch außer dem Schutz desselben, geboren. Es ist in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie verbotene Ware)".  Diese Ausführungen sind bis heute wissenschaftlich kaum einzuordnen. Es gibt Ansätze diese Passage als Darstellung des Innenlebens der Täterin zu deuten, also als Darstellung der späteren Rechtfertigungsgründe der zur Kindsmörderin gewordenen Mutter. Dies klingt allerdings auch für meine Ohren befremdlich, Kant war schließlich nicht Shakespeare, bei dem unangekündigte Beschreibungen innerer Wallungen einer mordlustigen Dame eher zu erwarten wären. Es scheint sich  allerdings dagegen (bislang) aus keiner Passage von Kants Sittenlehre handfest zu ergeben, daß er tatsächlich irgendeinen  Zusammenhang zwischen dem angeborenen rechtlichen Status eine Kindes (hier: das Recht auf Leben) und dem rechtlichen Status der Eltern (Ehe) sieht. Vielleicht hat Kant sich einfach kräftig vertan, es gibt nicht wenige, die diesem Werk mit der These entgegentreten Kant sei aufgrund seines fortgeschrittenen Alters einfach etwas senil gewesen.
Die Bedeutung der letzgenannten Passage bleibt so bis auf weiteres unklar, allerdings ist es eindeutig, daß sie nicht zu der Schlußfolgerung Kants führt, daß Muttermord an ihren unehelichen Kindern straffrei bleiben sollte, sondern lediglich weniger hart bestraft werden solle als z.B. der Mord an ehelichen Kindern.
mit freundlichen Grüßen, Til Quadflieg