Leserbriefe zur Rezension

Die etwas andere Altersweisheit

Bernd Rabehl wartet mit einer nationalrevolutionären Umprofilierung Rudi Dutschkes auf

Von Johannes Springer


Arne Schimmer schrieb uns am 02.10.2003
Thema: Johannes Springer: Die etwas andere Altersweisheit

Holla, hier hat jemand offensichtlich Angst davor, daß nationale und emanzipative Positionen sich verbinden können und daß gerade die Ikone der Neuen Linken, nämlich Rudi Dutschke, eine solche Verbindung forderte. Johannes Springer behauptet in seiner Rezension des Buches „Rudi Dutschke. Revolutionär im geteilten Deutschland“ über die Position Dutschkes einfach: „Jedoch fand bei ihm niemals eine Konstruktion von kollektiven Identitäten statt, die das deutsche Volk oder die deutsche Nation als Träger nationalemanzipatorischen Gedankenguts sah.“ Peinlicherweise gibt es von Dutschke zahllose Zitate, die das genaue Gegenteil beweisen. Schon im Juni 1967 legte Dutschke den Plan einer schrittweisen Wiedervereinigung vor mit dem Ansatzpunkt, West-Berlin zu einer freistaatähnlichen Stadtrepublik zu erklären. Dutschke wörtlich: „Ein von unten durch direkte Rätedemokratie getragenes Westberlin..könnte ein strategischer Transmissionsriemen für eine zukünftige Wiedervereinigung Deutschlands sein.“ Dutschke war überzeugt, daß eine Räterepublik West-Berlin sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR revolutionieren würde. Ihre Ausstrahlung sollte der Hebel zur geistigen und schließlich auch politischen Umwälzung beider Staaten sein – rings um den Kristallisationspunkt der früheren und sich erneuernden Hauptstadt.

In einem im April 1968 nur wenige Tage vor dem Attentat angefertigten Porträt erklärt er: „Ich bekannte mich zur Wiedervereinigung, bekannte mich zum Sozialismus, aber nicht zu dem Sozialismus, wie er betrieben wurde, und sprach mich gegen den Eintritt in die Nationale Volksarmee aus. Ich war nicht bereit, in einer Armee zu dienen, die die Pflicht haben könnte, auf eine andere deutsche Armee zu schießen, in einer Bürgerkriegsarmee, und zwar in zwei deutschen Staaten, ohne wirkliche Selbständigkeit auf beiden Seiten, das lehnte ich ab.“ Aufschlußreich ist hier Dutschkes patriotische und nicht etwa pazifistische Ablehnung der Wehrpflicht.

Zum 20. Jahrestag des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 publiziert er in der von Zeitschrift „Der Lange Marsch“ unter dem Pseudonym „R. Bald“ den Aufsatz mit dem vielsagenden Titel: „Denk ich an den deutschen Sozialismus und Kommunismus in der Nacht, so werd ich um den Schlaf gebracht - Hat das noch Sinn?“. Über den im Dezember 1972 ratifizierten Grundlagenvertrag schreibt er darin, daß indem sich beide Staaten als souveräne Subjekte im Sinne des Völkerrechts gegenüberstünden, sie „die geschichtliche Klassengemeinsamkeit der Kämpfe und Ziele der deutschen Arbeiter-Klasse“ aufgäben. Der DDR-Regierung macht er zum Vorwurf, mit der Unterzeichnung dieses Vertragswerks „die sozialistische Wiedervereinigung“ zugunsten einer völkerrechtlichen Anerkennung durch die BRD preisgegeben zu haben. Dutschke in unmißverständlicher Klarheit weiter: „Uns Sozialisten und Kommunisten, die aufrecht und nicht ökonomisch-ideologisch gekrümmt an die sozialistische Wiedervereinigung Deutschlands herangehen, muß klar werden, daß der „europäische“ Sozialismus/Kommunismus eine Abstraktion ist, die die konkrete nationale Besonderheit nicht berücksichtigt. Die Verquickung der Nationen im internationalen kapitalistischen Produktionsprozeß, oder in den strukturell verschiedenen „Systemen“ hat nicht die geschichtliche nationale Substanz aufgehoben. Das gilt besonders für unser Land, für die sozialistische Wiedervereinigung zwischen Rhein und Oder-Neiße. Diese Aufgabe wird immer mehr eine der Arbeiterklasse in der DDR und der BRD.“ Dutschke redet hier ganz eindeutig von einer nationalen Aufgabe, der sich die sozialistische Bewegung zu stellen habe.

Ohne Pseudonym veröffentlicht er im November 1974 in der Zeitschrift „Konkret“ einen Aufsatz mit dem wieder mal aussagekräftigen Titel „Pro Patria Sozi?“. Dutschke darin: „Der Kampf um die nationale Unabhängigkeit wird...zu einem elementaren Punkt des sozialistischen Kampfes. (...) Im Prozeß des Erlernens des aufrechten Ganges in Richtung Freiheit mit Hilfe des politischen Klassenkampfes werden wir Sozialisten und Kommunisten es unvermeidlich lernen müssen, das Selbstbestimmungsrecht der „deutschen Nation“ sozialistisch zu konkretisieren“ In einem vorbereitenden Thesenpapier für ein Treffen zur Schaffung einer organisatorischen Grundlage der „Neuen Linken“ in Hannover im Jahre 1975 schreibt er in der achten These: „Im Rahmen eines deutschen sozialistischen Übergangsprogramms ist die soziale Frage nicht von der nationalen Frage zu separieren - und diese Dialektik hat an der Elbe nicht aufgehört.“ Und in These neun heißt es weiter: „Die „Großmächte“ haben Deutschland gespalten und glaubten damit, in Mitteleuropa die „Ruhe“ herzustellen. Inzwischen beginnt mehr denn je die politisch-militärische Unruhe in der BRD und in der DDR zuzunehmen. Die „Entspannung“ wird mehr denn je mit zunehmender Militarisierung verquickt.“

In einem undatierten Manuskript versucht er die von ihm unterstellte Dialektik von Nationalismus und Internationalismus bis in den Vormärz des 19. Jahrhunderts hinein zurückzuverfolgen. Seine These lautet, „..daß der Kampf um die nationale Selbständigkeit immer verbunden ist auch mit einem internationalen Kampf, mit dem Klassenkampf.“ Der Sozialdemokratie macht er zum Vorwurf, daß sie in der Arbeiterklasse keinen Begriff von der Nation und ihrer internationalen Dimension entwickelt habe: „Keine Klarheit der Arbeiterklasse in der nationalen Frage - und die Arbeiterklasse geht in den angeblich „nationalen“ Krieg, ohne sich der ungeheuren Konsequenzen bewußt zu sein, die sich durch diesen Krieg ergeben mußten. Die Sozialdemokratie erwies sich als unfähig, das Problem als solches zu erkennen.“ Nach 1945 müsse man wegen der mangelnden sozioökonomischen Macht von einer „Zerschlagung der Nation“ sprechen (!!).

In eindeutiger Weise äußert sich Dutschke auch im Herbst 1976 in einem Interview der Stuttgarter Schülerzeitung „das gesicht“. Auf die Frage, worum es ihm gehe, antwortet er: „... es geht um die deutsche Sozialismussache." In Italien oder Frankreich beispielsweise hätten Sozialisten und Kommunisten einen großen Vorteil, weil sie sich auf „eine nationale Identität“ zurückbeziehen könnten, eine Identität nicht der Bourgeoisie, „... sondern eine nationale Identität des Volkes und der Klasse in Relation zur sozialen Bewegung.“ Den „besonderen Identitätsverlust“ Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg gelte es zu überwinden. Dutschke weiter: „Daß von außen, von den anderen Ländern, uns so oft gesagt wird „die schlimmen Deutschen“ oder „die bösen Deutschen“ ist Unsinn ... Wenn die vom bösen Deutschen oder so etwas reden, und wir das noch mitspielen, dann sind wir natürlich erst recht in der Niederlage drin und werden nicht in der Lage sein, deutsche Verhältnisse und deutschen Sozialismus im Rahmen des internationalen Zusammenhanges zu reflektieren. Also, auf der einen Seite gilt es, die nationale Besonderheit als solche zu reflektieren und auch damit wieder Identität zu gewinnen. Schwer genug, in der Tat - ein gebrochenes Land - damit Identität zu gewinnen, national und sozial, extrem schwierige Angelegenheit. Aber auf der anderen Seite unerläßlich, um die Sozialismusfrage hier stellen zu können. Auf der anderen Seite muß natürlich auch nach außen geblickt werden. Aber von innen aus und nicht von außen nach innen. Und wenn wir nach außen blicken, dann aber mit beiden Beinen auf unserem Boden.“

Das größte Aufsehen erregt dann eine Folge von Artikeln, die in der Zeitschrift „das da“, später „das da / avanti“, erscheint. Den Auftakt macht ein im Juli 1977 unter dem Titel „Die Deutschen und der Sozialismus“ publizierter Text, in dem Dutschke als Einstieg in sein Thema die damals weitverbreitete Auffassung kritisiert, daß Portugal mit der Bundesrepublik mehr zu tun haben könne als mit der DDR: „Die deutsche Misere ist bei einer solchen Denk- und Daseinsweise in eine linke Misere umgeschlagen. Als ich wenige Tage vor dem Bau der Mauer die DDR verließ, war mir eins schon klar: Du gehst nicht ins „Exil“. Du gehst in einen anderen Staat, nicht aber in ein anderes Land...Es ist für mich ohne Zweifel: in der DDR ist alles real, bloß nicht der Sozialismus; in der BRD ist alles real, bloß nicht „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, bloß keine reale Demokratie.“ Die Aussage, daß beide Systeme in einer tiefen Krise stecken, wiederholt Dutschke im April 1978 mit dem Beginn einer dreiteiligen Artikelfolge mit dem Titel: „Wer hat Angst vor der Wiedervereinigung?“. Seine Stellung zur nationalen Frage fasst er in drei Thesen zusammen: „1.Die beiden deutschen Fragmente...sind die Grundlage der Festigung des Status Quo der politisch-ökonomischen Machtzonen des kapitalistischen Imperialismus made in USA und des Imperialismus der allgemeinen Staatssklaverei Rußland.“ 2. „Die Systeme in der BRD und in der DDR stecken beide in einer schweren Legitimations- und sozialökonomischen Krise. In beiden Staaten bricht der innere ideologische Halt allmählich zusammen. Das gemeinsame Ziel beider Seiten läuft darauf hinaus, die innere Opposition mit den verschiedensten Mitteln zu brechen.“ 3. „Die große Schwäche der radikalen Opposition in der Mitte Europas scheint mir darin zu liegen, daß es weder theoretisch noch politisch-organisatorisch gelungen ist (teilweise nicht einmal versucht wurde), eine neue Kooperation und Kommunikation zwischen West- und Osteuropa herzustellen. Daß es nicht gelang, zwischen den beiden deutschen Fragment-Staaten ein oppositionelles Netz aufzubauen.“ Auf den Artikel gab es zwei sehr unterschiedliche Reaktionen, eine sehr positive von Henning Eichberg unter dem Titel „National ist revolutionär!“ und eine sehr negative von Arno Klönne unter dem Titel „Vorsicht, nationale Sozialisten!“

Lieber Herr Springer, und das alles soll also kein nationalemanzipatorisches Gedankengut sein ?!? Man könnte es vielmehr als nationalrevolutionär bezeichnen. Reichlich an den Haaren herbeigezogen erscheint auch Springers unvermeidlicher Hinweis auf Horst Mahler, mit dem Rabehl und sein Buch in keiner Verbindung stehen. Mit dem Rezensenten zu hoffen bleibt allerdings, daß Rabehls Dutschke-Interpretation noch für reichlich Gesprächsstoff sorgen wird.

Mit freundlichen Grüßen

Arne Schimmer